Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Kategorie: AufgeSchnappt. Seite 3 von 4

Episoden querbeet aus dem Leben, unvorhersehbar, meist einzigartig, da sie sich in dieser Weise in ihrer Originalität nur einmal genauso darbieten.

Umwegskultur ohne Umschweife

Als sich die Bundeskanzlerin Ende April 2021 mit Kulturschaffenden im Rahmen eines „Online-Bürgerdialogs” austauschte, fiel ein unscheinbarer und doch bemerkenswerter Satz, den man bei Deutschlandfunk Kultur am 27.04.21 gegen 17.25 Uhr im O-Ton während eines dreiminütigen Berichts zu diesem Gespräch hören konnte:

Der Mensch fällt ja nicht aus dem Bett direkt ins Theater.

Auf einer nachmittäglichen Radtour hatte ich genug Zeit, genüsslich über diese Aussage nachzudenken, die ja eigentlich als Argument gedacht war. Der Gesprächskontext bezieht sich auf die Notwendigkeit, trotz ausgeklügelter Konzepte den Kulturbetrieb weiterhin weitgehend geschlossen zu halten, was erst in diesen Maitagen in einigen deutschen Landkreisen endlich der Vergangenheit anzugehören scheint. Die hier wörtliche Bedeutung von ‚ausfallen’ lässt mich schmunzelnd und zugleich ein wenig betrübt an ‚Ausfall’ denken, denn hiermit wird ja gerade der Veranstaltungsbereich assoziiert.  Keiner kann genau aufzählen, wie viele Veranstaltungen in den letzten Monaten ausgefallen sind.

Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg ist einer der stillen Stars, die die Republik als Geistesgrößen im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Seine Gedanken sind oft ohne Umschweife scharf formuliert. In seinem Band Die Sorge geht über den Fluss gibt es einen kurzen Text namens „Umwege“, den ich mit dem Satz der Bundeskanzlerin in Verbindung bringen möchte. Die ersten vier Sätze lauten:

Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren. Gingen alle den kürzesten Weg, würde nur einer ankommen. Von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt gibt es nur einen kürzesten Weg, aber unendliche viele Umwege. Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämiierung der Umwege.

Die Bundeskanzlerin hat definitiv einen wahren Satz gesprochen. Ums ins Theater zu gelangen, müssen wir Umwege in Kaufe nehmen. Und diese Umwege verlangen nach Mobilität. Eines der wichtigsten Credos dieser Tage heißt, dass wir unsere Mobilität einschränken müssen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Hierbei frage ich mich allerdings, ob gerade Theateraufführungen viele Menschen zusammenbringt. Im Herbst 2020 war es ja eher ein Husch-Husch hinein in die Aufführung und ein Husch-Husch hinaus ins Freie, da partout Geselligkeit vor und nach der Aufführung vermieden werden wollte. Austausch zum Dargebotenen war jedenfalls unerwünscht. Letztlich kann sich die Politik auf den von Merkel erwähnten Gleichbehandlungsgrundsatz berufen: Ein Theaterabend ist damit (leider) genauso zu behandeln wie ein Clubabend.

Was hätte Blumenberg zu Streaming-Angeboten gesagt? Wäre das nicht Kultur ohne Umwege? Etwa vom Bett aus Theatergenuss zu erleben?  Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass körperlich erfahrener Kulturaustausch ohne die Umwege des Reisens wirklich undenkbar ist; da können Videokonferenzsysteme noch so ausgeklügelt sein. Hingegen ist es eine sehr große Errungenschaft, dass viele Unternehmen im Jahre 2020 in meist virtuellen Diskussionsumgebungen sehr gute Gewinne erzielen. Das kann nicht ohne das Vorliegen einer vernünftigen Diskussionskultur möglich gewesen sein. Auch Lernkulturen können ziemlich gut online geformt und gefestigt werden. Doch gibt es hier keinen Widerspruch zu Blumenberg, denn Umwege sind auch in der Klick-Welt nachspürbar. Sie müssen heute nicht unbedingt geografisch verstanden werden. Das ist wohl der Zugewinn zum 20. Jahrhundert, dass wir eine Recherche zu recht großen Teilen offline und online vornehmen können.  Und klar ist, dass es niemals eine Recherche auf direktem Wege geben kann. Ein Marcel-Proust-Fan könnte hierzu sicher vieles sagen, und bei Angela Merkels Begeisterung für das Opernwerk von Richard Wagner wird auch mitschwingen, dass man gerade den Ring des Nibelungen als Plot ohne gewisse Ausschweifungen kaum (er)fassen kann und möchte. Konzise Kürze dient der Vernunft, doch Blumenberg spricht am Ende des Textes auch explizit von den „Existenzen der epischen Literatur“, die er als „Nutzungen“ von Umwegen ansieht. In jedem Fall trägt die „Umwegskultur“ zur „Humanisierung des Lebens“ bei.  Nun, Kulturschaffende sind auch Wegebereiter. Das ist mehr als nur kreativ zu sein. Sie schaffen Überfluss im Sinne der „Ausschöpfung der Welt“ und sind damit keinesfalls überflüssig. Erschöpfung hat jedenfalls andere Ursachen.

Blumenbergs Textwelten, darunter auch „Umwege“, lassen sich u.a. im Suhrkamp Verlag entdecken.

System(erkennungs)relevanz- Über eine Pfandrückgabe-Aktion

Wenn ich an Deutschland denke…kommen mir als erstes die Getränkemärkte in den Sinn. In der Tat: Je öfter ich einkaufen gehe, desto bestärkter werde ich in dem Eindruck, dass es wohl nirgendwo anders auf der Welt so viel Platz für trinkbare Flüssigkeiten gibt. Diese lagerhallenartigen Gebilde verströmen keinen Charme, wohl aber das Gefühl für das Labsal, das wir in Deutschland den vielen Mineral(wasser)quellen zu verdanken haben. Anderswo mag es sie auch geben, doch werden sie längst nicht so differenziert vermarktet. Woran das wohl liegen mag? Fest steht, dass ja auch die Anzahl der Brauereien bei uns (noch) hoch ist und diese auch viel Quellwasser anzapfen. Insofern ist das bei uns einzigartige bierselige Reinheitsgebot sicherlich vorteilhaft, wenn nebenbei auch „natürliches Mineralwasser“ zahlreich verkauft werden soll. Das Reine und das Natürliche ziehen sich magisch an; und dann liegt es auch nah, dass Fruchtsäfte, Limonaden, Spirituosen und Mischgetränke sich dazu gesellen können. Wenn ich demnächst einmal einen Zeitungsartikel dazu finden sollte, werde ich sicher noch einiges Wesentliche dazulernen.

Als ich neulich die in Chemnitz-Grüna beheimatete Getränkewelt in Steinpleis bei Zwickau ansteuerte, die als Marke mit dem Untertitel „Die Getränkekönner“ auftritt, ahnte ich bei der umtriebigen Verkäuferin, dass sie über eine ungewöhnliche Probieraktion noch mehr (Fruchtsaft-)Getränke an den Mann bzw. an die Frau bringen wollte. Und ganz nebenbei befand sich auch noch Mineralwasser der Marke Spreequell im Markt, die eigentlich im Berlin-Brandenburger-Raum zu Hause ist.  Ich griff zu und ging gern das Risiko ein, dass ich womöglich anderswo diese Gebinde nicht als Leergut zurückgeben könnte. Und siehe da: Die Getränkewelt-Filiale in Fraureuth, keine 10 km entfernt, weigerte sich, die Spreequell-Flaschen zurückzunehmen. Was war da los? In Fraureuth sagte die Verkäuferin, jene Flaschen seien noch nicht mal im „System“ erfasst. Die Kollegin in Steinpleis werde einen „Anschiss“ bekommen. Nun, das war nicht meine Intention. Mir blieb nichts anderes übrig, als den kaum erwähnenswerten Mehraufwand nach Steinpleis zu nehmen und dort die Flaschen zurückzugeben. Eher schmunzelnd als klagend berichtete ich dort, dass ich diesmal nur Leergut hätte, denn ich hätte mich schon in Fraureuth neu eingedeckt (gleiches Unternehmen, aber vielleicht doch interne Konkurrenz?!). Ich schrieb auch der Unternehmenszentrale, von der ich von einem „Bezirksleiter“ auch eine recht ausführliche Antwort erhielt:

„Unsere Filiale in Steinpleis bezieht als einzige Filiale des Unternehmens Sonderware aus Berlin. Da diese nur dort verkauft wird, kommt es immer wieder zu der Problematik, dass die Systeme in anderen Filialen die Flaschen nicht erkennen. (…) Zu guter Letzt möchten wir uns gerne bei Ihrem nächsten Einkauf in der Steinpleiser Filiale mit einer kleinen Überraschung bei Ihnen entschuldigen.“

Hier geht es also nicht um den seit dem Frühjahr 2020 kursierenden Begriff der Systemrelevanz, sondern um eine Art Systemumgehung, die sich in der Systemumgebung der EDV zu beobachten lässt. Diese Umgehung der Umgebung ist in ihren räumlichen Dimensionen spannend. Schließlich dient ja die problematische Maßnahme der (lokalen) Verkaufsförderung und ist nur aus Kundensicht und nicht aus Unternehmersicht mit Nachteilen verbunden.  Insofern hat die joviale Verkäuferin in Steinpleis keinen Fehler begangen. Marktfreundliches Denken ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht immer mit einer EDV-Systemlogik kompatibel. Zum Glück hat sie ihre Umtriebigkeit während der Arbeit sichtbar gewahrt. Und mir hat sie nicht übel genommen, dass ich die Zentrale informiert habe; ich habe ja bewusst das (lokale) Pfandsystem beanstandet, ohne die agierenden Mitarbeiter zu bekritteln.

Die Überraschung, die ich heute bei ihr rechtzeitig vor dem Maifeiertag abholte, war eine kleine, aber feine Getränke-Kühltasche mit Bitburger-Logo, gefüllt mit ganz unterschiedlichen Bier(mischgetränk)en. Da hat sich jemand Gedanken gemacht, denn Kostproben von der Chemnitzer Marx-Brauerei, der Veltins-Brauerei im sauerländischen Meschede sowie der kultigen Astra-Brauerei in Hamburg findet man in dieser Mischung nicht so schnell.

ein besonderes Geschenk
Geschenk aus der Steinpleiser Getränkewelt-Filiale

Alles in Butter, so könnte man sagen. Oder auf die Ästhetik der Getränkewelt umgemünzt: Alles paletti! Fast: Denn erwartungsgemäß wurde mir der in Berlin gekaufte Hochwald-Sprudelkasten nicht abgenommen. Das habe ich einfach mit einem schallenden Lachen quittiert!

Grenz(land)erfahrungen – Die Kammloipe als touristisches Ziel

Mit etwa 36 Kilometern ist die Kammloipe einer der längsten Ski-Langlaufrouten in Deutschland. Normalerweise braucht man 2 Tage für die Strecke, doch selbstverständlich lässt sich das Unterfangen auch in wenigen Stunden absolvieren.  Zwischen Schöneck im Vogtland und Johanngeorgenstadt im westlichen Erzgebirge verläuft die Loipe teils direkt an der tschechischen Grenze entlang. Die Vogtlandbahn bietet mit dem Haltepunkt Schöneck-Ferienpark eine nahezu ideale Anreisemöglichkeit von Zwickau und Plauen ganz nah am Loipenbeginn; und die Erzgebirgsbahn fährt von Johanngeorgenstadt in einer guten Stunde nach Zwickau zurück. Hier befindet sich das Loipenende oberhalb der Stadt, so dass man knapp zwei Kilometer bis zum Bus (Nr. 346, Halt am Platz des Bergmannes) in Richtung (Grenz-)Bahnhof laufen muss. Doch nach einer Langlauftour tun ein paar Schritte zu Fuß nur gut.  Auf etwa der Hälfte der Gesamtstrecke ist die Haltestelle Mühlleiten-Kammweg ein geeignetes (Etappen-)Ziel, um in einer guten halben Stunde mit dem Bus (Nr. 20) zum Bahnhof Auerbach (unterer Bahnhof) oder in der Gegenrichtung in ca. 15 Minuten nach Klingenthal zu kommen.  Von beiden Orten fährt die Vogtlandbahn wieder nach Plauen und nach Zwickau, wo Umsteigemöglichkeiten nach Hof bzw. Dresden bestehen. Es sei darauf hingewiesen, dass diese wichtige Busverbindung am Wochenende nur im 2-Stunden-Takt verkehrt!

Diese etwas drögen Informationen helfen bei der Planung, und doch würden die wenigsten ohne Auto anreisen. Wenn man nach dem Sport müde in der Kälte und so gut wie k.o. noch auf Fahrpläne achten muss, ist das kein Zuckerschlecken. 2019 befuhr ich im Januar den ca. 18 km langen Abschnitt Schöneck-Aschberg (etwa zwei Kilometer hinter Mühlleiten gibt es eine kurze Anschlussloipe zum Aschberg, dessen Gipfel auf tschechischer Seite liegt) und im Februar den Abschnitt Mühlleiten-Johanngeorgenstadt. Gut, dass ich mich zuvor gründlich auf den spärlichen Nahverkehr in der Region (gerade am Wochenende) eingestellt hatte. Ich weiß noch genau, dass der Fußweg hinunter vom Aschberg (dort oben gibt es eine Jugendherberge!) zur Bushaltestelle in der Ortsmitte (die Linie 30 bietet Anschluss zum Bahnhof Klingenthal) leicht verwegen war, denn der Höhenunterschied war beträchtlich, und wenn man den Bus nicht erreicht, hat man (fast) Pech gehabt. Um Wegstrecke zu sparen, spurte ich mich zunächst querfeldein auf Skiern hinunter, und den letzten Kilometer zu Fuß musste ich auf der schlecht geräumten Aschbergstraße bis zur Haltestelle recht zügig hinablaufen, um den Bus noch zu erwischen.  Sonst hätte ich zwei Stunden warten müssen! Immerhin hätte ich eine Gaststätte aufsuchen können, was im Winter 2020/21 unmöglich ist.  Wenn gastronomische Einrichtungen geschlossen sind, ist das Warten bei Minustemperaturen alles andere als eine gesunde Alternative. 2019 ließen mich jedenfalls Bus und Zug nicht hängen.

Es zeigt sich, dass eine sportliche Unternehmung schon an der Wohnungstür anfängt und auch erst dort aufhört. Die Kammloipe selbst verdankt ihre Länge auch der Topographie, die eigentlich über dem Kamm kaum tiefere Einschnitte kennt. Nur kurz hinter dem Abzweig zum Aschberg gibt es in beiden Richtungen eine kurze steile Passage hinab bzw. hinauf. Ansonsten sind die Steigungen mäßig, doch teils auch recht zäh. Immerhin steigt die Loipe von ca. 700 m bei Schöneck auf mehr als 900 m ca. 10 km vor Johanngeorgenstadt an, ohne danach wieder bedeutend an Höhe zu verlieren. So ist es natürlich leichter, von Osten nach Westen zu fahren….

Viele Waldabschnitte geben der Loipe nicht unbedingt einen malerischen Charakter, doch man kommt  – gerade wenn nicht allzu viel Betrieb herrscht – auf seine Kosten. Einen halben Tag auf der Loipe zu verbringen reicht aus, um einem begeisterten Langläufer Erfüllung zu schenken. Unbedingt mitnehmen sollte man den einzigen richtigen Ausblick vom Schneckenstein aus, der von Schöneck aus nach ca. zehn Kilometern erreicht wird und von der Loipe aus nicht zu übersehen ist. Mit Skiern kommt man recht leicht hinauf; Der Fernblick reicht weit bis nach Tschechien. Die folgenden Einblicke sind jedoch eher erzgebirgstypisch:

Kammloipe
Kammloipe bei Mühlleiten (Blick Richtung Westen)
Kammloipe
Kammloipe bei Mühlleiten im Erzgebirge (Blick Richtung Osten)

Anfang der 90er Jahre wurde die Kammloipe dank einer privaten Initiative ins Leben gerufen. Es ist bemerkenswert, wie leidenschaftlich einige wenige Enthusiasten über all die Jahre hinweg die Loipe am Leben halten. Während im Winter 2019/20 Schneemangel herrschte, war 2020/21 die Kammloipe lange offiziell nur für Einheimische (Stichwort: 15km-Radius) geöffnet. Ein Langläufer aus Carlsfeld berichtete mir im Februar 2021, dass die Loipe in diesem Winter nur dank des Engagements eines erzgebirgischen Landtagsabgeordneten überhaupt gespurt wurde.  Und ganz nebenbei wurden die eigentlich auf der Strecke unsichtbaren Landkreisgrenzen wieder relevant, als die vermaledeite Covid-19-Inzidenzzahl im Spätwinter im Vogtlandkreis deutlich über 200 betrug und somit dieser Loipenabschnitt auch für Bewohner des Erzgebirgskreises tabu war. Ich als Zwickauer Bürger musste darauf achten, dass ich bei der Anfahrt (diesmal mit dem Auto) elegant am Vogtlandkreis vorbeifuhr, da es laut sächsischem Sozialministerium keine „Transitfestlegungen in den Landkreisen“ gebe, wie ich den mdr-Nachrichten entnahm. Noch immer frage ich mich, ob ich überhaupt an jenem 24.02. bei Carlsfeld im Westerzgebirge auf der Loipe fahren durfte, da ein weiterer Passus besagte, das sportliche Aktivitäten für Bewohner aus Landkreisen mit relativ niedrigen Inzidenzen nur ohne „touristische Ziele und Zwecke“ möglich seien. Nun, am Parkscheinautomat in Carlsfeld flatterte der Hinweis, man solle sein Vorhaben „überdenken“, die Loipe als Nicht-Einheimischer zu befahren.  Strenggenommen ist die Kammloipe ein touristisches Angebot, doch Langlauf ohne Loipe schließt sich praktisch aus, wenn man nicht auf unerwartete Hindernisse stoßen möchte. Ein gesunder Sportsgeist braucht die Tour, ohne dass Tourismus daraus werden muss! Auch der mdr drückte sich auf seiner bereits erwähnten Nachrichtenseite am 19.02. unklar zum “Kamm” aus:

Langläufer aus Nordsachsen, Mittelsachsen oder Meißen könnten im Erzgebirge Ski fahren. Aber Achtung: Wenn sie die Kammloipe bis zum Vogtland fahren, dort wurde der Bewegungsradius nicht gelockert. Nur Einheimische aus der nahen Umgebung dürfen den Kamm nutzen.

Zu viel Nachsinnen führt hier garantiert nicht weiter! Bald werden Auslegungen von derlei Einschränkungen der Vergangenheit angehören. Ich freue mich schon darauf, einmal die Kammloipe unbeschwert nicht allein zu befahren, sondern mit einem Gefährten oder einer Gefährtin. Wenn die äußeren Bedingungen passen, wird es garantiert ein wunderschöner Tag. Oder werden gleich zwei daraus? Und wie wäre es mit einem abendlichen wärmespendenden Thermenbesuch?

Die Homepage kammloipe.de hält alle wesentlichen Informationen vor.

Das ist ja ein Ding! – Wie Lieferketten uns alle etwas angehen

Kann ein Teddybär Menschenrechte stärken? Wie viele Menschenrechte stecken in Ihrem Laptop?

Das sind Fragen, die Mitte Februar 2021 unkommentiert bei der Vorstellung des geplanten Lieferkettengesetzes großformatig nach längeren Verhandlungen zwischen drei Ministerien (zuständig für Arbeit und Soziales, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie für Wirtschaft und Energie) ins Fernsehbild rückten.

Vorstellung des Lieferkettengesetzes
Vorstellung des geplanten Lieferkettengesetzes von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, zusammen mit dem Bundesentwicklungshilfeminister und dem Bundeswirtschaftsminister (Screenshot aus dem Video, das unter dem unten angegebenen Link 1 abrufbar ist)

Hinter einer Ja/Nein-Frage und einer W(ie viele)-Frage macht man sich normalerweise wenig Gedanken, doch hier bin ich mir sicher, dass der PR-Bereich der Bundesregierung viel Aufwand getrieben hat. Wenn eine Gesetzesnovelle vorgestellt wird, ist das normalerweise etwas für Rechtsexperten, denn bis zur Verabschiedung des Gesetzes liegt ja noch ein gewisser Weg, der meist nur bei umstrittenen Gesetzesvorhaben mit der medialen Öffentlichkeit stärker geteilt wird. Ansonsten würden Bürgerinnen und Bürger einzelne neue Gesetze ohne weiteres benennen können. In meinem Kopf tauchen nur ganz wenige Gesetzesbezeichnungen der letzten Jahre auf; doch das Lieferkettengesetz hat es dorthin geschafft, bevor es überhaupt verabschiedet wurde. Ich bin mir sicher, dass der Laptop und der Teddy – eine Teedose kredenzt ein weiteres Plakat – in Verbindung mit den Fragen meine Aufmerksamkeit erweckt hat und nicht nur mein allgemeines Interesse für Themen der Nachhaltigkeit und der globalen Wirtschaftsbeziehungen. Die Fragen sind zwar sprachlich einfach, doch die Antwort ist alles anderes als simpel: Wenn wir Spielzeug oder technische Geräte kaufen, haben wir so gut wie keine Kenntnisse darüber, ob Menschenrechte bei der Produktion eine Rolle spielen oder nicht. Hingegen sind Qualitätsaspekte des Produktes im Spiel. Also ist der produzierende Mensch weniger wichtig als ein gut funktionierendes Gerät bzw. ein lang haltendes Stofftier? Offensichtlich schon. Der Appell auf den Plakaten lautet:

Stärken Sie Menschenrechte, indem Sie bei Ihrem Kauf auf menschenwürdige Produktionsbedingungen achten.

Ich bin gespannt, ob man sich der kundenseitigen Verantwortung wird stellen können. Dafür müssen ja beim Kauf ausreichend Informationen vorhanden sein. Ob das Gesetz erfolgreich dazu Händler und Produzenten wird zwingen können, nachdem der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (2016-2020) als breit angelegte Initiative tendenziell nur ein gut gemeinter, jedoch nicht verbindlicher Plan gewesen ist? Ich stelle mir vor, wie Kunden in Zukunft auch auf Etikettenschwindel achten müssen, denn wohl wird es um vertrauenswürdige Labels gehen, die eine Garantie dafür abgeben sollen, dass menschenwürdig produziert wurde. Einige Fair-Trade-Labels wie der staatlich anerkannte Grüne Kopf sind ja auch schon etabliert, nicht nur bei Lebensmitteln. Klarheit zu der wachsenden Anzahl von Labels schafft inzwischen auch eine ständig aktualisierte Webseite.

Wenn man den ministeriellen Verlautbarungen Glauben schenkt, dann leisten 25 Millionen Menschen auch für nach Deutschland importierte Produkte Zwangsarbeit; darin sind 75 Millionen Kinder (jünger als 12 Jahre) nicht inbegriffen, die unter das Stichwort „Kinderarbeit“ fallen. Diese Zahlen bleiben abstrakt; deswegen ist eine Verdinglichung zur Vermittlung genau richtig. Es wird kaum möglich sein, sämtliche Lieferketten „dahinter“ zu untersuchen und zu überwachen, in denen mittelbare Zulieferer vertreten sind. Diese sind nach dem eigenen Geschäftsfeld und den unmittelbaren Zulieferern auf einer dritten Stufe anzusetzen, wenn es um menschenwürdige Arbeitsbedingungen geht.  Der Bundesarbeitsminister ist sich dessen bewusst, wenn er in einem „Arbeitsgespräch“-Podcast sagt:

Das Bemühen zählt beim Lieferkettengesetz, nicht der Erfolg, das ist der juristische Unterschied.

Der Aspekt der Nachhaltigkeit ist hier zentral; er bezieht sich auf den Produktions-faktor Arbeit, hinter dem ein zu würdigender Mensch steht. Grundsatz ist der erste Satz des Grundgesetzes, der eben nicht nur im Inland Anwendung finden soll. In einer globalisierten Welt ist die Würde des Menschen nur dann glaubwürdig unangetastet, wenn Handelsvorteile nicht auf Kosten von humanitären Missständen gehen.

Empfehlenswert ist die Vorstellung des Lieferkettengesetzes (Link 1) und der erwähnte Gesprächspodcast mit dem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und dem Unternehmer und Koch Ole Plogstedt, zu dem auch eine Druckfassung vorliegt. Hintergrundinformationen zu den Plakaten werden auch gegeben, wozu auch ein Wissenstest gehört. Sämtliche „Arbeitsgespräche“ mit dem Bundesarbeitsministerium sind hier aufgeführt.

Eine Farbenlehre des 21.Jahrhunderts. Über neue Ampelfarben in Pandemiezeiten

Die Kulturgeschichte der Ampel ist noch nicht geschrieben worden. Ob dieses Unterfangen sich lohnen würde? Wenn man bedenkt, dass Ampel etymologisch von ‚Ampulle’ kommt und wir jede ‚Pulle’ als ein Gefäß umschreiben können, dann zeichnet sich womöglich eine spannende Spurensuche ab.

Im anglophonen Sprachraum regeln den Straßenverkehr ‚traffic lights’, also Lichter, in frankophonen Ländern sind es die ‚feux ’, also die Feuer, die aufleuchten. Insofern ist der offizielle Begriff Lichtzeichenanlage für eine Ampel einfach nur zu sperrig, doch die Kombination aus ‚Licht’ und ‚Zeichen’ trifft ja genau zu, wenn wir von ‚rot ’, ‚gelb’ und ‚grün’ sprechen.

Eigentlich ist das rote Signal, wenn man an die Eisenbahn denkt, ebenfalls nur eine Aufforderung, anzuhalten bzw. nicht weiterzufahren. Und doch liegt es nahe, eine Signalfarbe, also ein gut sichtbares Zeichen, bei bestimmtem Einsatz mit einer Warnfunktion zu verbinden. So frage ich mich, ob wirklich erst seit dem Jahr 2020 in Deutschland und Österreich von einer Warnampel die Rede ist. Ich stelle mir zugleich die große Schwierigkeit eines Dolmetschers vor, den Begriff adäquat zu übersetzen. Er leuchtet nämlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht sofort ein, denn eine Verkehrsampel als Zusammenschaltung von Signalfarben soll nicht allgemein warnen, sondern ein komplexes System besser regeln. Eine grün zeigende Ampel hat nicht das Geringste mit Gefahr zu tun, wohl aber dann, wenn die Ampel auf gelb und dann auf rot springt. Dieses Springen ist ja auch eine sprachliche Dynamisierung eines Farbwechsels, was sicher daran liegt, dass die Ampelfarben meist senkrecht angeordnet sind und das Springen nur mit einer gewissen Sprunghöhe vorstellbar ist.

Zum Glück ist den meisten klar, warum der Begriff der Warnampel 2020 geprägt wurde. Der dazugehörige Diskurs, nämlich die Bekämpfung einer Pandemie, wird in nicht allzu weiter Ferne sicher in Abschlussarbeiten skizziert. Bisweilen sind die Befürworter und die Skeptiker in einem Gremium vertreten: Der eine (Ministerpräsident von Bayern) wollte diese Warnampel unbedingt, die andere (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) wollte sie anfangs eher nicht, weil eine grün leuchtende Ampel nämlich keine Gefahr induziere, sondern eine „falsche Sicherheit“. Deswegen gibt es bei der rheinland-pfälzischen Version bis zum heutigen Tage überhaupt kein Grün bei den Warnstufen. Das Grün wurde hier durch vollkommen neutrales Weiß ausgetauscht. Außerdem sind die drei Ampel-Farben in den Augen vieler Entscheidungsträger nicht ausreichend, wenn man pandemische Warnhinweise bedenkt. Wird nicht ‚violett’ als die warnende Farbe schlechthin gesehen? Im Herbst 2020 hatten auch aus diesem Grund deutsche Bundesländer jeweils ein eigenes Ampelsystem zur Pandemiebekämpfung, was bisher nicht vereinheitlicht wurde. Berlin hat immer noch drei klassische „Leuchten“ und drei weitere sekundäre Ampeln, die den „Indikator für die Reproduktionsrate“, den „Indikator Neuinfektionen je 100000 Einwohner und den „Indikator Bettenbelegung der Intensivstationen” zusammenfassen. Hessen hat zusammen mit Orange und Dunkelrot fünf Farben, allerdings nur die Inzidenz, also die Fallzahlen, als Indikator.

Immerhin hat die EU international anerkannte Kriterien eingeführt, wobei keine (Warn-)Lichter im Englischen wiedergegeben werden, sondern einfach nur bestimmte Wertgrößen bestimmten Farben zugeordnet werden. An Farbenblinde wird auch gedacht: Beim „combined indicator“ (auch die Quote von Positivgetesteten wird einbezogen, nicht nur die absolute Anzahl)  werden neben den klassischen Farben grün, orange und rot in einer separaten Karte alternativ Blau-/Grautöne  eingesetzt.  Wer gerne Karten und studiert und sich auf die komplexe Datenlage einlässt, wird die eine oder andere Entdeckung machen. Allerdings werden hier 14 Tage und nicht 7 Tage als Betrachtungszeitraum gewählt. Insgeheim muss also etwas (um-)gerechnet werden.

In Tschechien  ist man übrigens im doppelten Sinne auf den Hund gekommen. Denn das dortige Warnsystem („Protiepidemický systém“), kurz PES, lässt einen an keine Ampel, sondern an einen Vierbeiner denken, denn die Abkürzung heißt im Tschechischen zugleich „Hund“.  Und deswegen verwundert es nicht, dass auf der offiziellen Seite des tschechischen Gesundheitsministeriums die Warnstufen auch mit bildlichen Hundemotiven angereichert sind. Sie warnen so deutlich, dass Erklärungen fast entbehrlich sind: Ein (Wach-)Hund signalisiert keine absolute Sicherheit, höchstens eine Entspannungsphase, wenn die Zunge raushängt; und sein Sensorium ist zu scharf eingestellt, als dass er in der geringsten Warnstufe nicht aufmerksam genug wäre:

Warnskala
Das Covid-Warnsystem in Tschechien ist auf den Hund gekommen

Angesichts der vielen Ampel-System-Unterschiede in der föderalen Bundesrepublik Deutschland ist diese Farbskala mit bildlicher Schärfe eine klare Ansage. In der deutlich kleineren Bundesrepublik Österreich ist die Ampel übrigens schon seit dem Herbst landesweit in Anwendung, sie zeigt aktuelle überall dauerrot an, während in Tschechien der Hund zur Zeit im Gesamtüberblick violett-bissig dreinschaut.

Und noch etwas Brandaktuelles: Just in dieser Woche leuchtete eine Signalfarbe mit gravierenden Folgen falsch auf. Die F.A.Z. meldete am 27.01.21, dass aufgrund einer „Datenpanne“ die Lombardei ab dem 17.01.21 „als rote Zone eingestuft“ worden sei, obwohl sie hier mit den korrekten Werten gleich zwei Stufen besser hätte da stehen müssen, nämlich als gelbe Zone. Schadenersatzsummen von bis zu 600 Millionen Euro könne dies zur Folge haben. Denn nicht nur hätten hier wie in einer orangenen Zone (wie aktuell im Großteil Italiens) Geschäfte öffnen dürfen, sondern auch die Gastronomie. Stattdessen durfte keiner in dieser Region ohne triftigen Grund vor die Tür treten. Es kommt noch ärger: Am gleichen Tag gab es einen Rücktritt zu vermelden, nämlich den des italienischen Ministerpräsidenten! Das tut weh: Falsche Signale im doppelten Sinne werden hier ausgesandt. Eine italo-schweizerische Beobachterin hat in einem Blog-Artikel bereits beschrieben, dass in Italien Anfang 2021 „Farbnuancen“ eingeführt wurden, so dass beispielsweise von „verstärktem Gelb“ gesprochen werde könne. So kräftig wurde selten von offizieller Seite im „Farbtopf“ gerührt! In Italien scheint ein zentrales Warnsystem regionale Ausdifferenzierungen zuzulassen, während in Deutschland aktuell (fast) alles daran gesetzt wird, verschiedene Warnampel-Systeme nur dann einzusetzen, wenn die größten Gefahren gebannt sind. Die Debatte um dieses hochkomplexe Thema wird zurecht kontrovers (weiter-)geführt.

Und es gibt noch eine Pointe zu Warnhinweisen: Neulich verweis ein lieber Freund auf das Unterfangen des ehemaligen Tübinger Professors Jürgen Wertheimer, der ein begeisterter Forscher zum Kassandra-Mythos ist, ohne vermutlich einen direkten Draht zu Kassandra-Rufen zu haben. Wertheimer durfte Kontakt zum Bundesverteidigungsministerium aufnehmen, wo er das Sensorium der Warnrufe jener mythologischen Figur erklären durfte. Er hatte die Idee, „eine literarische Konflikt-Map für Krisenregionen“ einzuführen, die „narrative Erschütterungen in der Literatur auf diese Weise politische Eskalationen vorhersagt“, wie Benedikt Herber Anfang des Jahres in der Zeit schrieb.  Also ergibt sich daraus eine Art Seismografie, die eben auch Gesundheitskrisen wie die derzeitige Pandemie erfasst.  Es geht um „Prognostik“ und damit auch um „Maßnahmenketten“. Weder Wirtschafts-, noch Finanzkrisen und erst recht keine Flüchtlingskrisen machen vor Ländergrenzen Halt; und es ist fraglich, ob kommende Krisen auch dank literarischer Erzeugnisse besser prognostiziert werden können. Natürlich lässt sich ohne stichfeste Indikatoren keine Skala errichten, doch wird sich zeigen, wie man in Zukunft mit subtilen Signalen Unheil heraufziehen sehen und womöglich schnell(er) eindämmen kann. Kassandra misst nicht, sie wittert etwas. Folglich ist jede Warnfunktion nur dann sinnvoll, wenn frühzeitig gewisse Zeichen der Zeit erkannt werden; und nicht erst, wenn operativ gehandelt werden muss. Am besten wäre es, wenn es unabhängig von grün noch gelb, von rot und violett als Warnstufen ausreichend Wachsamkeit gäbe. Die sollte bekanntlich auch dann gegeben sein, wenn alles in geregelten Bahnen zu laufen scheint. Es ist nun mal so: Der Mensch ist stets mal niedrigeren, mal höheren Gefahrenstufen ausgesetzt, ohne dass klar wäre, welche Stufe genau wann betreten wird.

Der zitierte Artikel aus der Zeit (Ausgabe 2, 2021, Seite 45) ist als „Arbeitsprobe“ von Benedikt Herber hier nachzulesen.

Ab-Lauf im wörtlichen Sinne. Zu Besuch im Sächsischen Eisenbahnmuseum

Der Besuch im Sächsischen Eisenbahnmuseum in Chemnitz-Hilbersdorf war angesichts der Landesausstellung „Boom“ nur eine Frage der Zeit. Nun, im November 2020, während der erneuten Zwangspause im Kulturbetrieb, ist es mehr als nur eine erfreuliche Perspektive, dass in den nächsten Jahren die Stadt Chemnitz aufgrund des Status als Kulturhauptstadt 2025 einen weiteren Schub erhalten wird – darauf ist so gut wie Verlass.

An einem ehemaligen riesigen Güterbahnhof ist dieses Museum gut aufgehoben. Wir hatten Glück, dass wir ohne Anmeldung auch eine 150-minütige Führung durchs Museum mitmachen konnten, dank der Just-in-time-Ankunft um 14 Uhr am dritten Oktobersonntag. Man sollte schon gut zu Fuß sein, denn zwischen dem Empfangsgebäude und dem mit Raritäten aus dem Dampfzugzeitalter gefüllten Lokschuppen liegt nicht weniger als ein guter Kilometer.

Seilablaufanlage
Seilablaufanlage im Sächsischen Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf
Ablaufmeister
Blick auf das Pult des Ablaufmeisters (Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf)

Von der Kommandobrücke aus sieht man die Schalt- und Waltzentrale für die Seilablaufanlage. Die dortige Person hieß „Ablaufmeister“ und stand in Kontakt mit dem „Seilwagenwärter“ oben am kaum als solchen erkennbaren Ablaufberg, von wo einzelne Güterwagen ohne Dampf- oder Diesellok an den richtigen Ort gesteuert wurden. Auf diesen kaum sichtbaren „Berg“ war der Blick gelenkt. Für die richtige Weichenstellung sorgte das zuständige Stellwerk, das in unmittelbarer Nähe zum Ablaufmeister bedient wurde. Kaum vorstellbar: Mit Hilfe der Steuerräder für die Seilwagen wurden bis zu 3600 Wagen auf drei Gleispaaren täglich behandelt; vergleichbar mit der heutigen Leistung auf dem Güterbahnhof in Maschen bei Hamburg (tägliche Leistung: bis zu 4000 Wagen).  Es wird deutlich: Hier läuft vieles ab, wobei das ‚ab’ auch als ‚berg-ab’ physisch zu verstehen ist…

Wenn man heute durch die Scheiben auf die teils herausgerissenen Gleise blickt, lässt sich die große logistische Meisterleistung von damals kaum mehr nachvollziehen. Link im Bild sieht man die Hauptstrecke Chemnitz-Dresden, die immerhin elektrifiziert ist. Das trifft auf so manche Hauptstrecke besonders in Süddeutschland immer noch nicht zu. Und der Güterverkehr ist im Vergleich zum Lastkraftwagen auf der Schiene immer noch nicht so richtig in Fahrt gekommen. Man sollte die unterschiedlichen Verkehrsmittel jedoch nicht gegeneinander ausspielen, denn viele Industriegebiete lassen sich einfach besser mit einem Straßenfahrzeug erreichen.

Ganz zufällig entdecke ich im Internet einen Zeit-Artikel vom Jahresende 2019. Der im Vergleich zu anderen Transportmitteln relativ teure Schienengüterverkehr in Deutschland ist, so erfahre ich, seit dem Jahr 2000 immerhin um 40 % gestiegen, obwohl der Anteil am „Gesamtgüterverkehr“ weiterhin nur bei 19% liegt.  Es gebe nach Ansicht der Bundesregierung weitere 40% Wachstumspotenzial zwischen 2010 und 2030. Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Christian Böttge spricht jedoch davon, dass der „Einzelwagenverkehr […] dramatisch in der Krise“ sei. Der Artikel aus dpa-Quellen erläutert genau einen wichtigen Grund dafür, der in der im Sächsischen Eisenbahnmuseum dokumentierten logistischen Leistung dieses Einzelwagenverkehrs liege:

Dabei werden Einzelwaggons beim Kunden abgeholt und in großen Rangierbahnhöfen zu langen Zügen zusammengestellt. Am nächsten Rangierbahnhof werden die Züge dann wieder auseinandergenommen und die einzelnen Waggons weiter zum Ziel transportiert. Das ist aufwendig und derzeit unwirtschaftlich.

Es brauche angeblich „[d]igitale Stellwerke, automatisiertes Fahren, automatische Kupplungen“, also „technische Innovationen“. Es scheint, dass das Sächsische Eisenbahnmuseum in Zukunft diese technischen Innovationen gut wird vermitteln können, weil es auf dem großen Gelände trotz manchen schon umgesetzten Abrissvorhaben  der Deutschen Bahn viel zu sehen gibt. Man sollte nicht in Nostalgie verfallen, sondern auf den Erkenntniswert von Technik- und Industriegeschichte mit all ihren Verwerfungen setzen.


Dank gilt der technischen Auskunft von Dr. Maximilian Claudius Noack bezüglich der Seilablaufanlage. Das Museum hat auf seiner Homepage für jeden Eisenbahnfan viele interessante Infos zu bieten. Passenden Lesestoff bietet auch der erwähnte Zeit-Artikel.

Der gewirkte Stoff als Wirk-Stoff – Zu Besuch im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna

Museen definieren sich über ihre Ausstellungsstücke. So können wenige Gegenstände vieles plastisch verdeutlichen, was in der Literatur nur schwer darstellbar wäre. Im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna bei Chemnitz wird die Geschichte der regional stark verankerten Textilindustrie anschaulich gemacht. Im August 2020 bekam ich in einer Spezialführung mit Freunden einen sehr guten Einblick. Sonst hätte dieser Notiz-Blog-Artikel nicht entstehen können. Gerade im Jahr 2020, anlässlich der Landesausstellung „Boom“, bei der 500 Jahre Industriekultur in Sachsen aufbereitet werden, ist ein Besuch empfehlenswert. Es zeigt anschaulich, dass Kultur- und Industriegeschichte zusammen gehören.

Die drei folgenden, im Museum vertretenden Gegenstände zeugen von der weitläufigen Geschichte der (Textil-)Industriekultur, die über die Region hinaus von großer Bedeutung ist: Eine Abbildung von Louis de Silvestres opulentem „Allianzporträt“ (das Gemälde befindet sich in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister) zeigt Friedrich I. von Preußen und August II. von Polen, zugleich Kurfürst von Sachsen:

Allianzporträt

Louis de Silvestre (1675-1760): Allianzporträt von König August II. von Polen und Friedrich Wilhelm I. von Preußen (Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, vor 1730)

Friedrich (rechts im Bild) hält nichts von neuster Mode, August (links im Bild) inszeniert sie geschickt und trägt sichtbar Seidenstrümpfe, auf die es im Museumskontext ankommt. Modisch sahen sicher beide Herrscher im Zeitalter der Manufaktur-Produktion aus, die heute wieder mehr geschätzt wird, nicht erst, seitdem es gewisse Läden mit dem Namen „Manufaktur“ gibt….

Johann Esche (1682- 1752), Strumpfwirker und Stuhlmacher im Rittergutsdorf Limbach unter Antonius III. von Schönberg und dessen Sohn Georg Anton, entdeckte nach einer Legende in Dresden den wohl einzigen seidengängigen Strumpfwirkstuhl in Sachsen. In Frankreich waren die Könige mit gewirkten Seidenstrümpfen vor der Revolution bestens bedient; Seidenstrümpfe galten im wahrsten Sinne des Wortes als vorzeigbar. Nach der Revolution waren diese genau wie die Kniebundhosen („culottes“) out, so dass darauf spezialisierte Firmen ihr Geschäft umstellen mussten. Bestehen blieb die Kulturtechnik des Wirkens bzw. Kulierens, gerade für Unterwäsche besser geeignet ist als traditionelle Web- und Stricktechnik:

Handkulierstuhl
Handkulierstuhl (ca. 1800) im Esche-Museum (Foto: Dietmar Träupmann)

„Wirken ist eine Fortentwicklung des Strickens. Es werden statt einer Masche nach der anderen eine ganze Maschenreihe in einem Arbeitsschritt gebildet“, erläutert Museumsleiterin Frau Dr. Barbara Wiegand-Stempel. Hier kommt mir der immer noch geläufige Ausdruck „engmaschig“ in den Sinn. Das Esche-Museum dokumentiert eindrucksvoll, wie bis zum Ende der DDR Wirkstühle sich technisch entwickelten. Die Familie Esche hat bis zum Ende des 2. Weltkriegs großen Anteil daran; im 19. Jahrhundert existierten sogar zwei Esche-Firmen von zwei Geschwistern, von denen die größere, die Firma Moritz Samuel Esche, es bald nach Chemnitz zog und zum größten Strumpfhersteller Deutschland avancierte. In Limbach wurde die erste „Wirkschule“ überhaupt vom Gewerbeverein Limbach gegründet, woran auch die Familie Esche beteiligt war. Die Schule wurde von mehr als 100 Fabrikanten, Kaufleuten und Handwerken, die in einem „Strumpfwirker-Fachverein“ organisiert waren, finanziert.

Der prominenteste Unternehmer aus der Familie war zweifelsohne Herbert Eugen Esche, der 1903-1904 von Henry van de Velde die erst ab 1998 wieder restaurierte Villa Esche in Chemnitz erbauen ließ. Architektur-Fans kommen hier auf ihre Kosten – van de Veldes erster Bau in Deutschland ist zum Glück nicht den Bombenangriffen von 1945 zum Opfer gefallen. Wie vielseitig Ästhetik damals geschätzt wurde, zeigt sich daran, dass van de Velde mehrere Firmenlogos entwerfen und Edvard Munch 1905 in der Villa Esche künstlerisch arbeiten durfte und dabei nicht nur die Familie Esche porträtierte. Man kann davon ausgehen, dass die Familie Esche mit diesen prominenten Künstlern nicht prahlen wollte, sondern künstlerisches Engagement einfach zu ihrem Selbstverständnis gehörte. 
Nach 1945 flüchteten viele Familienmitglieder ins Ausland, obwohl das Unternehmen nicht verstaatlicht wurde. Herbert Eugen Esche ging in die Schweiz, wo er häufiger auf van de Velde traf. Er sah seine Chemnitzer Villa nie wieder. Die Textilindustrie in West- und Mittelsachsen führten nun andere (Staats-) Unternehmen an.  Noch heute ist unter anderem die Firma Noon in Limbach-Oberfrohna präsent, die mit dem Slogan „Fine German Knitting“ wirbt. Die Logik, dass Textilien in sogenannten Billiglohnländern hergestellt müssen, damit sie erschwinglich bleiben, kann somit widerlegt werden. Gebrauchswäsche darf nicht als minderwertig vermarktet werden, scheint es.

Ein Firmenplakat zeigt sehr schön die Fabrikation von Handschuhen mit all ihren Arbeitsschritten.

Die Fabrikation von Ukor - Handschuhen
Die Fabrikation von
„Ukas“- Handschuhen der Firma C.A. Kühnert (Foto: Dietmar Träupmann)

Mir kommt dabei der Begriff „Betriebsablauf“ in den Sinn, den wir heute eher vom Bahnfahren kennen, wenn es hier zu Verzögerungen kommt.  Jedenfalls sind ganz oben nach der „Spulerei“ die „Schärerei“, „Spannerei“ und auch die „Wirkerei“ zu sehen. Die vielen Arbeitsschritte belegen auch schön, wie wertvoll ein qualitatives Paar Handschuhe sein muss. Man schätzt dann den Gegenstand umso mehr, wenn man weiß, wie viel Arbeit dahintersteckt. Die heutige Massenproduktion verschleiert dies, gerade auch, weil ein gewöhnlicher Kunde kaum Einblick in heutige Fabrikationen erhält. Schließlich erlaubt sich die Frage: Warum sollte nicht auch Mode zu den Schönen Künsten gehörten? Kleider machen Leute (bekanntlich schön).

Vielen Dank an das Esche-Museum Limbach-Oberfrohna, vor allem an Frau Irmgard Eberth, Herrn Michael Nestripke, an die Leiterin Frau Dr. Barbara Wiegand-Stempel sowie an die Ratsschulbibliothek Zwickau für die Auskünfte und die Bereitstellung der benötigten Medien. Der „Förderverein Esche-Museum e.V.” hat dazu weitere wissenswerte Details im Internet aufbereitet.


Ein besonderes Refugium : Über Schloss Waldenburg in Sachsen

Jedes Gebäude und jeder Ort hat seine eigene Historie; Schicksale und glückliche Fügungen sind niemals in ihrer Gänze zu überblicken. Und doch lässt sich besonders gut in die Geschichte eintauchen, wenn Spuren und Hinterlassenschaften sichtbar sind.  

Schloss Waldenburg
Vorderansicht von Schloss Waldenburg

Die Geschichte hat Schloss Waldenburg, idyllisch im Muldetal eine halbe Autostunde nord-östlich von Zwickau gelegen, immer wieder auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Hierzu nur einige Details: Otto Victor I. von Schönburg-Waldenburg ließ es Mitte des 19. Jahrhunderts neu errichten, da es zur damaligen Bürgerlichen Revolution komplett abgebrannt war. Bereits im 12. Jahrhundert hatte die Geschichte von Schloss Waldenburg begonnen, damals noch als Burg. Die Burg sowie nachfolgende drei Schlösser waren allerdings auch abgebrannt, zuletzt 1848. Otto Victor II. veranlasste Anfang des 20. Jahrhunderts mit der damals verfügbaren modernsten Technik den Umbau (Einbau von zentraler Heizung, Be- und Entlüftungsanlage, zentraler Staubsauger, Telefonanlage, Personen- und Speiseaufzug) und steigerte durch den Zukauf wertvoller Gegenstände die Pracht des Hauses. Der Hausherr fiel bedauerlicherweise im Ersten Weltkrieg und konnte sein Anwesen nur wenige Jahre genießen. Heute, kann man sagen, steht das Schloss glänzend da; es hat die Zeitläufte mehr als nur gut überstanden.

Ganz sicher: Ein typisches Museum ist Schloss Waldenburg nicht, denn es ist in seiner aktuellen Ausstattung besonders originell:  Viele Zimmer entsprechen immer noch dem Zustand zur Zeit der Fürsten, obwohl das Schloss 50 Jahre lang als Klinik genutzt wurde. Das prunkvolle Originalmobiliar wurde zwar nach dem 2. Weltkrieg geplündert bzw. existiert teilweise noch an anderen Orten. Die Eigentumsverhältnisse haben sich über die Zeit leider geändert. Trotzdem versprühen die prachtvollen Zimmer noch heute den Charme fürstlicher Zeiten, ohne opulent zu wirken.  

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Schloss enteignet, was aus heutiger Sicht zu erwarten war. Dass es noch vor der Gründung der DDR zu einer Lungen- und Tuberkuloseheilanstalt umfunktioniert wurde, überrascht hingegen schon. Die für die neuen Machthaber ideologisch verhassten Räumlichkeiten wurden eigentlich geschätzt, denn wo im Umkreis hätte man geräumiger Patienten behandeln können? Eine Immobilie des Adels, die sich nun als nützlich erwies. Man könnte sagen: Ironie des Schicksals! Die Bibliothek wurde zum Chefarztzimmer, die prächtigen Säle zu Speisesälen. Eigentlich kein großes Unterfangen. Bis Ende der 1990er Jahre musste das Schloss sich bewährt haben; erst dann machten neue (Hygiene-)Vorschriften einen Weiterbetrieb unmöglich.

Als ich am Vatertag 2020 durch die Räumlichkeiten geführt wurde, ahnte ich schon, dass durch die Zimmerfluchten der Wind der widerspenstigen Geschichte wie ein Gespenst wehte. Die Fotos können dies veranschaulichen:

Blauer Saal
Blauer Saal (früherer Zustand)
Blauer Saal
Blauer Saal (heutiger Zustand)

Und schließlich diente das Schloss auch als Kulisse: Dreharbeiten zu Wes Andersons The Grand Budapest Hotel fanden dort statt. Wer wohl das Schloss ausgekundschaftet haben mag? Diese Frage zu beantworten würde sicher einigen (Forschungs-)Aufwand bedeuten, doch eigentlich wäre dies müßig. Ich stelle mir diesen Job sehr zeitaufwendig vor, denn bei der Vielzahl der Schlösser sind Zufallstreffer eigentlich kaum zu erwarten. Dass ein US-amerikanischer Filmregisseur, der auf traumhafte Bilder in ästhetischer Vollkommenheit setzt, unter anderem das von Touristenmassen verschonte Schloss Waldenburg auserkoren hat, war eigentlich eine kluge Entscheidung, denn wenn ein größerer Teil des Publikums den fiktionalen Ort lokalisieren kann, dann kann dies wesentlich die Interpretation beeinflussen.

Film und Schloss Waldenburg
Dreharbeiten zu The Grand Budapest Hotel (Artikel aus der Bild-Zeitung vom 19.2.2013)

Insofern wurde Schloss Waldenburg als Schauplatz, ohne dass hier Feudales allzu sehr zum Tragen gekommen wäre: Ehemalige Patienten können aufgrund ihrer Erlebnisse vor Ort Dinge aufspüren, die weder ein Tourist noch ein Filmemacher je erkennen würde. Es geht hier nicht um einen Gedenk- oder Gedächtnisort, der oft auch eine gesellschaftspolitische Funktion hat, sondern um einen Ort zum Verweilen, der früher Hoffnung auf Heilung bot und heute Hoffnung auf Erholung bietet. Trotz der tragisch verlaufenen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleibt mir das Prinzip Hoffnung im Kopf, wenn ich an Schloss Waldenburg denke. 

Schloss Waldenburg
Der Park von Schloss Waldenburg

Anmerkung: Das Schloss wurde als Filmkulisse durch die Listung des Schlosskomplexes Waldenburg im Location Guide der MDM Film Commission gefunden. Dort ist es seit November 2010 aufgeführt und stellt alle Spezifikationen (Fotogalerie, technische und räumliche Bedingungen) des Schlosses Waldenburg als Drehort umfangreich vor. Die Filmprojekte sind auf der Homepage aufgelistet.

Ich danke herzlich Anja Straube für einige redaktionelle Präzisierungen und für die Freigabe der Aufnahmen, die einen kleinen Eindruck der bewegten Geschichte von Schloss Waldenburg vermitteln sollen. Die Bildrechte liegen bis auf die Parkansicht (letztes Bild) beim Schloss Waldenburg (Tourismus und Sport GmbH) .

Seit Mai 2020 ist das Café Sweet Sophie geöffnet, das im Sommer auf einer herrlichen Terrasse einen Blick in den wunderschönen Park bietet, in dem der Besucher ein lauschiges Plätzchen finden kann. Der Name geht auf die musikalisch und kompositorisch aktive Fürstin Sophie von Waldenburg zurück, die ab 1914 auch Fürstin von Albanien war.   

Dialog mit Abstand – Zu einer Skulptur von Christel Lechner

Am letzten Junisonntag 2019 sollte man eigentlich zu Hause bleiben. Natürlich noch längst nicht wegen einer gewissen Pandemie, sondern wegen einer brütenden Hitze. Das Thermometer zeigte Werte von über 35 Grad ein, fast deutschlandweit. Ich schonte mich bis auf ein paar Minuten, blieb aber nicht zu Hause: Den Zug nahm ich bis Flöha östlich von Chemnitz, um dann einige schattige Kilometer durchs Tal der Zschopau zu radeln. Ziel sollte das Schloss Lichtenwalde sein, das recht imposant über dem Tal thront. Und genau diese Minuten hoch zum Schloss waren in der Tat schweißtreibend; gewiss würde sich diese Mühe lohnen. Eigentlich war es eine höchst kurzweilige Anstrengung.  Es waren im Schloss ein paar Werke von Studierenden aus der Fakultät für Angewandte Kunst in Schneeberg zu sehen, wo die Westsächsische Hochschule einen besonderen Ableger hat, der leider kaum am Stammsitz der Hochschule in Zwickau präsent ist.  Für diese Ausstellung war ich eigentlich unter anderem zum Schloss gefahren; von den Installationen von Christel Lechner hatte ich erst vor Ort gefahren.

Der große Schlosspark war fast völlig verwaist. Der Biergarten mit sicher mehr als 100 Plätzen hatte frühzeitig geschlossen, mangels Masse. Nur zwei Personen tranken noch genüsslich ihr kühles Bier; und ich gesellte mich zu ihnen. Das anschließende Gespräch über (Sport)Unterricht heute und früher in der DDR gab mir den notwendigen Auftrieb, durch den Schlosspark zu gehen, wo mir allerlei Skulpturen von Christel Lechner auffielen. Sie wurden in einer Freiluft-Ausstellung mit dem Titel „Alltagsmenschen“ zusammengestellt. 

Zwei Alltagsmenschen bleiben mir aufgrund der derzeitigen Abstandregelung besonders im Gedächtnis:

Christel Lechner: Mann im Dialog

Eigentlich sagt diese Skulptur aus zwei Menschen – ob man hier schon von einer Installation sprechen kann? –  so viel über die Gegenwart, aber eben nicht nur. Sie stammt ja aus einer Zeit, wo noch kein Politiker und kaum ein Wissenschaftler über Abstandregeln nachgedacht hätten. Insofern wäre es nicht gerechtfertigt, sie als Ausdruck unserer Zeit zu interpretieren. Und doch bin ich als Betrachter fasziniert davon, wie ein aktualisierter Kontext in der Rückschau überhand nehmen kann. Ich „sehe“ diese Skulptur mit den Augen von heute, wenn man so sagen kann, und nicht mit den Augen von 2019. Damals habe ich mir keine großen Gedanken über die Bildszene gedacht – ich fand es einfach nur originell, die hügelige Landschaft mit zu berücksichtigen und gewisse Parkgrenzen zu überwinden. Wie viele Gespräche finden räumlich distanziert statt, ganz einfach, weil sie sich so ergeben? Die klassische Alltagssituation ist jene, wenn „über den Gartenzaun hinweg“ gesprochen wird. Wer kennt dies nicht? Mit etwas lauterer Stimme kommt so ein Gespräch zustande, das auch vertraut sein kann. Nur kommt man sich eben physisch und emphatisch oft nicht näher. Jedenfalls sind viele nachbarschaftliche Beziehungen alles andere als freundschaftlich geprägt.

Bei Christel Lechners Skulptur ist jedoch das Nachbarschaftsverhältnis nicht zu erkennen. Es ist eher die Be-geben-heit, die sich im Alltag er-gibt. Die Distanz ist unübersehbar, und möglicherweise soll kein Gespräch dargestellt werden, sondern nur ein flüchtiger Blickkontakt. Wir kennen ja den Ausdruck „Wie es in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus“. Also liegt es nahe, auch an ein (kurzes) Gespräch zu denken, oder an einen Zuruf als akustisches Signal.  Die Dreidimensionalität ist hier maßgeblich durch die natürliche Landschaftsformation geschaffen: Von oben herab – von unten hinauf – beides gilt symmetrisch.

In einem Interview mit der Rheinischen Post, das ich lese, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, fallen mir drei von Lechner genannte Aspekte auf, die sich mit meinen Gedanken kreuzen.  Die „Alltagsmenschen“ erzählen „Geschichten“, zudem sind sie in ein passendes „Umfeld“ verankert, das eine intensive Interaktion zwischen Skulptur und Betrachter möglich macht. Nicht zuletzt soll die von den Kunstwerken ausstrahlende „Gelassenheit“ auch eine bestimmte Wirkung erzielen. Gerade im Krisenjahr 2020 ist diese ganz gewiss von Vorteil. Die Alltagsmenschen sind zeitlos, und der Betrachter findet einen Teil seiner selbst in ihnen wieder, und wenn es nur die Alltagskultur um ihn herum ist.

Informationen zum Werk von Christel Lechner.

Hier gibt es den erwähnten Artikel nachzulesen.

Keine Horrorvorstellung?! Über die Bildlichkeit einer Erfolgsmeldung

Das Phänomen der Prokrastination ist sicher keines, das man würdigen sollte. Doch manchmal verschlägt es einen auf Internet-Seiten, die eigentlich in keinem Zusammenhang mit einer gezielten Recherche stehen. Es war der 21.04.20, als ich in einer Pressenotiz einen Satz vernahm, der mich sofort in den Bann zog:

Wäschespinnen laufen gerade wie Hölle.

Dieser Satz stammt von Henner Rinsche, Vorstandsvorsitzender der Leifheit AG mit Sitz im hessischen Nassau.  Er wurde am 18.04.20 in einer dpa-Meldung verbreitet. Leifheit ist mir als renommierter Haushaltsgerätehersteller vertraut. Wäschespinnen kenne ich ebenfalls mehr oder weniger gut, also habe ich den Satz einwandfrei als Erfolgsmeldung verstanden. Doch hat es dieser einfache Satz in sich, denn bildlich ist er auf dreifacher Ebene anschaulich:

Eine Wäschespinne ist anders als eine Vogelspinne frei von Gefahren und einfach nur nützlich, um nasse, saubere Kleidung ganz natürlich an der Sonne trocknen zu lassen. Die Form des Gerätes erinnert an eine Spinne. Eigentlich nichts, woran man weitere Gedanken verschwendet.  Wäschespinnen, die jedoch „laufen“, haben schon etwas Pikanteres, denn hier stelle ich mir bereits wirkliche Spinnen vor, die vielleicht gerade aus einem Wäschekorb herauskrabbelt. Und diese Zuspitzung auf „Hölle“, eigentlich auf einen Ort, der wie kein anderer für Schrecken steht, kann zu einer Horrorvorstellung führen, die natürlich hier harmlos ist, beflügelt sie doch hier nur die Fantasie. Wohl aus dem Englischen „like hell“ ist dies eingeschwappt, so dass jetzt sogar verbrieft von „wie Hölle“ gesprochen wird, was Nachrichtenagenturen teilweise mit „sehr stark“ herunterkochen. Denkbar wäre auch „wie verrückt“; „höllisch gut“ klingt hingegen schon merkwürdig.

Die Kombination aus Insekt, Bewegung und einem fiktionalen Ort hat geradezu etwas Filmisches. Ein Surrealist hätte seine Freude dabei, hier einen Plot zu entwerfen. Die bekannten Ausdrücke „Ich spinne!“ und „zur Hölle (machen)“ sind negativ konnotiert, nur beim einfachen „(Es) läuft!“ denkt man an einen gewissen Erfolg.

Einige Tage später komme ich darauf, dass das englische „to spin“ etymologisch mit „spinnen“ verwandt sein muss. Es geht jeweils um eine Drehbewegung, die etwas sehr Dynamisches hat. Spricht man nicht sogar im Fitnessstudio vom „Spinning“?
„Ich bin am Spinnen ist uncool“, doch „Ich bin am Spinning-(Gerät)“ klingt nach einer durchtrainierten Person. Doch irgendwas klingt hier nach, was auch eine klare Drehbewegung ist: Eine vermaledeite „Virenschleuder“, die nicht klar zu definieren ist, kann einen Menschen genauso durchdrehen lassen wie eine „Virenhölle“, von der neulich ein lieber Freund nach einem Supermarktbesuch sprach. Begriffe, die an das Gegenteil von Sauberkeit denken lassen. Und nun als Kontrast dazu die Wäschespinne, die eigentlich der Abschluss eines realen Anti-Virus-(Wasch-)Programms ist: Erst die Kleidung möglichst heiß mit Waschpulver waschen, und dann ab in die Sonne. Die Weltgesundheitsorganisation rät angeblich zum Wäschetrocknen unter freiem, möglichst wolkenlosem Himmel. Wie wäre es, wenn die Wäschespinne sich dann auch noch um ihre eigene Achse drehen würde? Ich stelle sie mir dann wie ein Wäschekarussell mit ganz unterschiedlichen Anblicken vor…

Nun, meine Fantasie kommt hier nicht weiter. Doch sie ist schon ziemlich weit gekommen dank eines Satzes, der – nun lege ich mich fest – literarische Qualitäten besitzt, auch wenn er für die Öffentlichkeit als ganz ernstzunehmende Erfolgsmeldung geäußert wurde. Möge die Leifheit AG auch weiterhin gute Geschäfte mit Wäschespinnen machen, auch in nicht so virenlastigen Zeiten!

Hier der Kontext (Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 19.04.) in reinstem Pressedeutsch. Übrigens ist ein reales Wäschekarus(s)ell käuflich beim Dänischen Bettenlager zu erwerben!

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