Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

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Kunterbunte Episoden aus Schriftstücken, die mich beschäftigen und mitunter auch faszinieren. Unerhörtes, Unglaubliches; einfach nur zum Staunen.

Bilderbuchreisefilm – Gedanken zu „Bis ans Ende der Welt“ von Wim Wenders (1991)

Als im Sommer 2020 in der ARD-Mediathek eine „Werkschau“ der Filme von Wim Wenders angeboten wurde, bediente ich mich gerne aus der großen Auswahl. Den längsten und auch teuersten Wenders-Film Bis ans Ende der Welt habe ich mir erst im Spätherbst in der  „Director’s Cut“-Version angeschaut. Sie ist sage und schreibe 287 Minuten lang und nicht wie in der Kinoversion nur 179 Minuten. Bei ca. 24 Millionen Dollar Produktionskosten und Filmszenen aus vier Kontinenten hätte der Film leicht Kult werden können. Doch an den Kinokassen floppte das Riesen-Epos. Es mag auch an der äußerst komplexen, vielschichtigen Handlung liegen, die manchen Zuschauer überfordern mag. Die französische Hauptdarstellerin Solveig Dommartin, die bereits im deutlich bekannteren Wenders-Film Der Himmel über Berlin mitgewirkt hatte und während der Drehzeit mit dem Regisseur liiert war (und am Drehbuch mitschrieb), hätte durch diesen Film zum Mythos werden können. Als sie 2007 mit nur 46 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, gab es nur vereinzelte kurze Nachrufe. Die Kategorie „Stars und Sternchen“ ist hier fehl am Platze, da sie leider ab Mitte der 90er Jahre keine nennenswerten Filmauftritte mehr hatte.

Wenders hat in der Zeitschrift Revolver (Ausgabe 4, 1999) von einem „Reisefilm“ gesprochen. Dieser Begriff ist gut gewählt, denn der gängigere Begriff „Road Movie“ würde zu diesem Epos eben nicht passen, da in diesem Film die Straße und das Auto nur anfänglich –  wie auf dem Lozère-Plateau – im Fokus stehen:

Solveig Dommartin in: Bis ans Ende der Welt
(Deutschland / Frankreich / Australien 1991) von Wim Wenders
© Wim-Wenders-Stiftung 2015

Die Hauptfigur Claire Tourneur möchte ihrem Freund Eugene Fitzpatrick entkommen. Jedoch wird die filmische Geschichte, die in Venedig, an einem vor allem aufgrund von Drogenexzessen berauschenden Ort beginnt und im Weltraum endet, von jenem Fitzpatrick erzählt. So verfolgt er in seiner Rolle als Schriftsteller stets die Handlung und reist dabei seiner Ex-Freundin nach.  Die Liebesgeschichte mit dem Australier Sam Farber, der den Decknamen Trevor McPhee trägt und international als angeblicher „Opal-Dieb“ und „Spion“ gesucht wird, ist alles anderes als hinreißend, weil es sich eher um eine Liebesprojektion von Claire handelt.  Doch die erzählerische Konstruktion ist kongenial: Beide Männer verfolgen (neben anderen Männern) auf intime Art und Weise das Leben von Claire Tourneur: Der eine von Beginn an als Roman-Erzähler, der andere als Bilder-Erforscher ; beide verbindet, dass sie als handelnde Personen im Film präsent sind und ihre Rollen wie auch bei den anderen Reisenden im Film nicht klar abgesteckt sind.

Da der Film 1991 herauskam, aber im Jahr 1999 vor dem Hintergrund eines apokalyptischen nuklearen Angriffs spielt, sind Science-Fiction-Elemente zahlreich, vor allem elektronische Geräte, die tatsächlich um die Jahrtausendwende mehr und mehr auf den Markt kamen. Ein Zuschauer von 1991 hat es wohl noch als wundersam empfunden, wenn Claire in ihrem Rover P5, der nur bis 1973 hergestellt wurde, über ein grafisches Navigationssystem verfügt, das sie direkt anspricht.  Als sie von der Piazzale Roma in Venedig zurück nach Frankreich losfährt, sagt ihr die Computerstimme:

Guten Tag, Claire. Ihr Auto-Computer ist online. Sämtliche Fahrfunktionen werden überprüft. Aktivieren Sie die elektronische Landkarte und geben Sie das gewünschte Fahrziel ein.

Der folgende Roadtrip führt Claire nicht direkt zurück nach Paris, sondern in die menschenleere Region Lozère, wo sie nach einem glimpflich ausgegangenen, aber spektakulären Unfall auf zwei Bankräuber trifft, die leichtsinnig die Karambolage zu verschulden hatten. Diese nimmt sie in ihrem noch fahrtüchtigen Wagen mit in eine Unterkunft und handelt als Belohnung 30% der von ihnen erbeuteten Geldsumme aus, die aus verschiedenen Währungen besteht. Da die Tasche mit dem vielen Geld einen Ortungssender hat, wird Claire von den beiden weiter indirekt verfolgt. In einem verwahrlosten Einkaufszentrum in Saint Etienne stößt sie während der Autoreparatur dann auf Trevor McPhee an einer öffentlichen Bildschirmtelefonie-Station. Sie nimmt ihn mit nach Paris, ohne Kontaktadressen auszutauschen. Durch Zufall sieht sie ihn wieder an einer Telefonstation im Büroviertel La Défense, wo sie die Adresse Mangerstraße 26 in Berlin (die reale Adresse ist eine Potsdamer Villa) aufschnappt. Sie sucht ihn dort auf. Zur weiteren Unterstützung beim Aufspüren von Sam kommt der schräge Detektiv Philipp Winter (firmierend unter „Missing Persons GmbH“) zum Einsatz, der seinerseits ein Auge auf Claire wirft. So nimmt ein weiterer Mann an einer unwiderstehlichen Welt-Reise teil….. Die Geschichte kann und soll jetzt nicht weitererzählt werden. Sie lohnt sich auf jeden Fall, in Gänze angeschaut zu werden.

Wenders sagte im bereits erwähnten Interview:

Für mich fangen Filme mit einem Ort an. Für die meisten meiner Filme gab es einen Ort, bevor es eine Geschichte gab.

Dieser Gedanke fasziniert mich, gerade auch weil Ort und (Zeit)-Geschichte in gewissen Augenblicken verschmelzen. „Storytelling“ basiert auf Zeit und auf gewissen Begebenheiten: Eine ganz wichtige kann der Umweg sein, den Claire am Anfang des Films auf der Autofahrt von Venedig nach Paris macht. Denn sie lässt nicht die atomare Bedrohung, sondern ein Verkehrstau ungeduldig werden, dem sie von der verstopften Autobahn über einen Waldweg entkommt. Nur deswegen führte die angezeigte Route sie folgenreich über das Lozère-Plateau.

Als besonderer filmischer Ort ist das Hotel Adlon in Berlin geradezu visionär, wo Claire Trevor McPhee / Sam Farber privat treffen wollte, dabei jedoch versetzt wird. (Das Bild zeigt die erschöpfte Claire in der Hotellobby). Vielleicht hat Wenders damals daran gedacht, dass es wiederaufgebaut werden würde (Neueröffnung im originalgetreuen Gewand 1997). Verständlicherweise wählte er im Film eine futuristische Kulisse, die zusammen mit der historisch-realen Kulisse vom heutigen Zuschauer abgeglichen werden kann. Das gilt auch für vieles andere im Film: Was war damals im Film Fiktion, was heute Wirklichkeit ist? Allein mit dieser Frage ist dieses filmische Dokument ein wertvolles Stück Kunst(geschichte), das es unbedingt (wieder) zu entdecken gilt.


Solveig Dommartin in: Bis ans Ende der Welt
(Deutschland / Frankreich / Australien 1991) von Wim Wenders
© Wim-Wenders-Stiftung 2015

Lesenswert ist das erwähnte Interview in der Zeitschrift Revolver; darüber hinaus eines mit Schülerinnen und Schülern des Lycée Français de Berlin aus dem Jahre 2010. Wissenschaftlich setzt sich unter anderem Andreas Jacke mit dem Film auseinander: „Apocalypse – not now“ , erschienen auf den Seiten 149-162 in: Blade Runner, Matrix und Avatare (Springer 2013, hg. von Parfen Laszig.) Das Buch ist auch als E-Book erhältlich. Seit 2012 gibt es die Wim-Wenders-Stiftung, die zu jedem Wenders-Film Informationen bereithält und ggf. bereitstellt (wie dankenswerterweise die beiden Bilder). Der Film ist über die Arthaus-Webseite leicht erhältlich.

Beleuchtete Arbeits-Gänge: Über den Film „In den Gängen“ (2018)

Ein „Frischling“ in der Probezeit namens Christian (Franz Rogowski), eine erfahrene Kollegin (Sandra Hüller) aus der Süßwarenabteilung namens Marion und ein Vorgesetzter namens Bruno (Peter Kurth) – diese Konstellation in einem Großmarkt könnte gewöhnlicher kaum sein und ist dennoch brillant inszeniert. Thomas Stubers FilmIn den Gängen, der auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer basiert, wird mir als cineastisches Kammerspiel noch lange in Erinnerung bleiben. Die schnöden Arbeitsgänge werden im wahrsten Sinne des Wortes beleuchtet. Der Regisseur spricht in einem Interview mit dem Filmwissenschaftler Ronald Ehlert-Klein von einem „humanistischen Film“. Licht wird maßgeblich zum Erzählfaktor, was die folgenden Einstellungen bildhaft zeigen, in denen der Mensch – hier Christian – mit dem Erlernen von Arbeitsgängen, seinen Reflexionen und der Einsamkeit vorgeführt wird und die von teils vorsichtigen, teils dreisten Annäherungen an Marion unterbrochen werden. Der unbedingte Wunsch nach Kontaktaufnahme durchbricht jegliche menschliche Kälte. Selbst in den einsamsten Stunden wird das Dunkel durch künstliche Lichtquellen geflutet, die jedoch kaum menschliche Wärme symbolisieren können. Licht und Dunkel gehören zu Brunos Arbeitsleben unmittelbar dazu.

Beim Duschen geht dieser Gedanke Bruno melancholisch durch den Kopf, als er seine ersten Arbeitstage im Großmarkt Revue passieren lässt: „Es gab kein Tageslicht in den Gängen, und wenn ich den Markt verließ, war es draußen schon dunkel.“ Seine Sehnsucht nach Zweisamkeit ist ihm ins Gesicht geschrieben:

Badewanne
Allein in der Badewanne

Das Alleinsein ist auch im Nachtexpress nach Schichtende eindrucksvoll inszeniert. Verlassene Parkplätze und Haltestelle sind im Grunde seelenlose Transit-Orte; doch auch hier schwingt der innere Friede mit, der eben keine Verzweiflung über die Härte des Lebens zulässt:

Heimfahrt
Einsame Heimfahrt vom Großmarkt

Der Faktor Logistik steht in einem Großmarkt an erster Stelle. Dazu gehört auch das Manövrieren eines Hubwagens zum Transport von Euro-Paletten, was der dritte Screenshot zeigt. Währenddessen erklingt Johann Sebastian Bachs berühmte Air, was der Szene einen unaufgeregten, getragenen und leicht schwermütigen Eindruck verleiht:

Üben
Üben in den Gängen (für den Staplerführerschein)

Eindrücklich wird der Gabelstapler als wichtigstes Fahrzeug im Großmarkt in vielen weiteren Szenen mit all seinen Tücken vorgeführt.  Ähnlich wie in einer Fahrschule ist ebenfalls Theorieunterricht für den Staplerführerschein angesagt. Lakonisch-frotzelnd doziert der Ausbilder über physikalisch-technische Eigenheiten des Gabelstaplers:

Der Gabelstapler, oder das Flurförderzeug, wie es korrekt heißt, ist eine sichere Arbeitsmaschine, Komma, wenn wir ein paar einfache Grundregeln beachten: Gabel mit b, Stapler mit p, sag’ ich nur.  Was für’n Autofahrer die Straßenverkehrsordnung ist, das ist für uns die berufsgenossenschaftliche Vorschrift, kurz die BGV, da habe ich hier zufällig mal ein Exemplar dabei. Da steht zum Beispiel: „Die Mitführung einer weiteren Person im Gabelstapler ist strengstens verboten.“ Warum wohl? [Schweigen]. Sie führt zu unkalkulierbaren Risiken für das Leben der mitgeführten Person. Wer lesen kann ist klar im Vorteil. Kommen wir zum Hebelgesetz 1 und 2, Physik achte Klasse, Freunde. Keiner?
[Pause] Das kennt ihr aus dem Kindergarten. Das beste Beispiel ist die Wippe. Wenn de mit’m dicken Kind wippst, biste ganz schnell oben, kommste nicht mehr runter. Was machste? Was machste, he? Stell dir mal vor: Wippst mit’m dicken Kind, biste oben, kommst nicht mehr runter. Wie kommste runter?
[Pause] He? He? Kippel mal. Ist erlaubt. [Christian kippelt mit seinem Stuhl.]  Sehr gut. So. Was macht er? Er verlagert seinen Schwerpunkt nach hinten. 
[Ausbilder drückt ihn leicht wieder am Rücken nach vorn.] Er verlängert den Lastarm. Wie der Gabelstapler.

Am Ende des Films wird Christian nach bestandener Probezeit und Staplerscheinprüfung befördert, wenngleich der Freitod von Bruno den Aufstieg trübt. Die Doppeldeutigkeit von Beförderung im beruflichen und im logistischen Sinne erhält hier eine besondere Geltung: Verbotenerweise führt er bei seiner Gabelstablerfahrt seine Kollegin Marion mit und befördert damit auch wortwörtlich eine von ihm geliebte Person.

Marion und Christian bemerken dabei, wie entrückend und betörend solch ein technisches Gefährt in besonderen Augenblicken wirken kann. Dieser Dialog ist ein grandioses und zugleich stilles Finale, nach dem kein Wort mehr artikuliert werden muss.

Christian: Hab mal gehört, dass das verboten ist.

Marion: Hab mal gehört, du bist befördert worden. [Pause, während sie weiterfahren] Halt mal kurz an. So, fahr die Gabel mal ganz hoch.

Christian: Wieso?

Marion: Mach mal bitte. Das hat Bruno mir vor Jahren mal gezeigt, ich weiß nicht,  ich find‘s schön. [Christian fährt die Gabel hoch.] Lass sie wieder runter, ganz langsam. [Christian fährt die Gabel wieder runter.]

Christian: Und jetzt?

Marion: Du musst still sein, ganz still. Das Rauschen. Hörst du, wie das Meer.

Christian: Jetzt hör ich’s. [Beide schauen weiterhin zur sich langsam nach unten bewegenden Gabel nach oben; hörbares Meeresrauschen.]

Christian [als Erzähler während des Meeresrauschens]: Sie hatte recht. Warum war mir das nie vorher aufgefallen? Es klang tatsächlich wie das Rauschen am Meer.

Die Screenshots sind im Film in ihrer Reihenfolge zu folgenden Zeitangaben zu sehen: 15:25, 23:02 und 14:23; die längeren Zitate sind an folgenden Stellen zu hören: 33:02 – 34:42 und 1:52:42 -1:54:55. Bis zum 10.02.21 ist der Film noch in der Arte-Mediathek zu sehen. Ein ausführliches Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung enthält das erwähnte Interview mit Thomas Stuber. Mehr (hochauflösende) Bilder zum Film und das Filmplakat gibt es bei der Filmverleihfirma Zorro Film.

Doppelter Eignungstest – Über die gerügte Dissertation von Bundesministerin Franziska Giffey

Wer schon einmal eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreiben musste, weiß, wie wichtig prägnante Fragestellungen sind. Nicht immer geht es dabei um Lösungsansätze, da längst nicht jede Frage eine klassische Aufgabenstellung beinhaltet.

Als ich neulich aus Interesse die im Herbst 2019 mit einer Rüge versehende Dissertation der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey überflog, kam mir schnell in den Sinn, dass ein Unterfangen namens Promotionsschrift fragwürdig sein kann, wenn praktische Lösungsansätze mit wissenschaftlichen Lösungsansätzen kombiniert werden. Es sind zwei unterschiedlich geartete Sphären, die sogar wie zwei Billardkugeln kollidieren können.  Ich denke vor allem an die (Diskurs-) Felder Politik und Politikwissenschaft. (Tages-)Politik kommt im Grunde ohne Politikwissenschaft aus, wenngleich eine Trennschärfe nicht immer möglich sind. Es steht außer Frage, dass Politikgestalterinnen und -gestalter wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen sollen, wie es in der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist. Doch ist es realistisch anzunehmen, dass Giffeys politikwissenschaftliche Dissertation auch in der politischen Gestaltungsarbeit berücksichtigt wird?

Diese Fragestellung ist keinesfalls hypothetisch, versucht die Arbeit doch, europapolitische „Beteiligungsinstrumente“ der Europäischen Kommission auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die lokalpolitische Akzeptanz in Berlin-Neukölln zu prüfen.  Die Prüfung dieser Instrumente ist als ein Eignungstest zu verstehen, der für drei verschiedene „Eignungsdimensionen“ jeweils drei weitere „Bewertungsindikatoren“ vorsieht. Einen Überblick dazu gibt die Tabelle, die am Ende von Giffeys Arbeit dargestellt ist und quasi einen Überblick über die Analyseergebnisse bietet:

Franziska Giffey: Europas Weg zum Bürger
Aus: Franziska Giffey: Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft, 2009, S.197 (Abrufbar unter: https://refubium.fu-berlin.de/)

Die dreistufige Bewertungsskala zeigt an, ob die skizzierten Instrumente sich mehr oder weniger für bestimmte lokal zivilgesellschaftliche Maßnahmen vor Ort bzw. an der Basis, wie es in der Politik oft heißt, eignen. Der wissenschaftliche Leser kann schon an diesem Tableau erkennen, dass die sechste Kategorie, nämlich multiplikatorenbasierte Beteiligungsinstrumente, am besten abschneidet.

Ohne weiter ins Detail zu gehen, frage ich mich, ob hier der Faktor Vergleichbarkeit zwischen mehreren Instrumenten gegeben ist. Lassen sich rein mediale, nämlich die printbasierten, audiobasierten und webbasierten Instrumente mit denen vergleichen,  wo Personen mit oder ohne Unterstützung leibhaftig in Aktion treten? Liegt es nicht nahe, wie das Wort „Multiplikator“ bereits anzeigt, dass hier beabsichtigte Wirkungen wie in einem Resonanzraum verstärkt werden? Die Autorin stützt sich vorwiegend auf Aussagen vor Ort, was bedeutet, dass hier auch Statements politischer Akteure einfließen. Das ist für eine Feldstudie natürlich ein probates Mittel, doch wie valide ist eine wissenschaftliche Untersuchung in diesem Kontext? 

Ich lasse die Fragen bewusst offen, weil ich hier keine abschließende Bewertung abgeben kann und dies auch nicht möchte. Eine von der FU Berlin erteilte Rüge – ein wahrlich bizarres Vorgehen – beweist, dass die Autorin ihren eigenen Eignungstest eigentlich nicht bestanden hat. Und so leidet auch der Eignungstest europapolitischer Maßnahmen.  Diese beiden Eignungstests lassen sich eben nicht feinsäuberlich trennen.

Nach einem Jahr, wo es spätestens ab dem Frühjahr täglich um Tests und Testungen ging, bei denen das Ergebnis neben dem gewöhnlichen Ergebnis
„positiv“   und „ negativ“ auch mal in der Schwebe hing, sehen wir womöglich in Zukunft noch eindringlicher, wie sensibel auch die Interpretation von Testergebnissen vorgenommen werden muss. Natürlich geht es in der Dissertation der Bundesministerin weniger um Tests im herkömmlichen Sinne als um Bewertungen von Maßnahmen in Bezug auf bestimmte erfüllbare Indikatoren, die als Kriterien fungieren. Die vorgelegte Arbeit ist quasi der Test-Kit. Wenn er etwas taugen sollte (dies wäre zuvorderst in der Politikwissenschaft zu diskutieren) würden die abgeleiteten Empfehlungen womöglich nicht nur in Berlin-Neukölln Schule machen. Ich bin jedoch weiterhin skeptisch, ob der Test-Kit gut genug dafür ist, lasse mich aber gern eines Besseren überzeugen.  

Ich wünsche der Autorin, wie es in Absageschreiben so schön formell heißt, jedenfalls alles Gute für ihren weiteren Lebensweg, und das meine ich bewusst nicht lapidar. Nächstes Jahr steht ja die Wahl zur Regierenden Bürgermeisterin in Berlin an. Das sollte für Franziska Giffey ausgemachte Sache sein! Eine Dissertation ist für dieses Amt jedenfalls keine Voraussetzung. Schließlich würde ich mir wünschen, wenn europapolitische Akteure in Zukunft wirklich als Multiplikatoren aktiv(er) werden, damit das Bauwerk Europa auch transparenter wird. Es braucht neben genügend Fördertöpfen Mittler, die überparteilich den Geist Europas wie einen Luftstoß in lokale Gefilde bringen. Nach einem reise- und begegnungsarmen Jahr 2020 ist das wichtiger denn je! 

Digital-künstlich: Gedanken zur smarten Überwachung

TÜV – Technischer Überwachungsverein – diese Abkürzung ist auch denjenigen vertraut, die (noch) gar kein Kraftfahrzeug besitzen. Alle zwei, spätestens alle drei Jahre steht ein TÜV-Termin an, denn immer noch lässt sich ein Motor mitsamt der Karosserie nicht selber überwachen. Es bedarf eines Ingenieurs, der die Technik überwacht.

Wie sieht es mit dem Smart Home aus, das nach dem Smart Phone schlau genug ist, sich selbst und zugleich den Nutzer zu überwachen? Während im Deutschen das Verb ‚wachen’ seit Jahrhunderten positiv konnotiert ist – man denke nur an die Nachtwache oder den Wachhund – , ist die Überwachung ein zweischneidiges Schwert. Eine Videoüberwachung mag den einen oder anderen Kriminalfall lösen, doch ist vielen unwohl, wenn wir auf Schritt und Tritt überwacht werden, gerade wenn ein Smartphone die Aufgabe einer Videokamera mehr als gut ersetzen kann. Hier ist ganz klar: Anders als beim TÜV überwacht das Gerät den Menschen und zeigt ihm im wahrsten Sinne des Wortes mögliche Fehltritte an. Theoretische Überlegungen zu diesem Thema wurden bereits genug angestellt – die Interaktion von Mensch und Maschine wird uns sicherlich die nächsten Jahrzehnte über begleiten.

Romanesk hat sich der Architekturkritiker und F.A.Z.-Redakteur Niklas Maak dem Phänomen Smart City gewidmet, was im Grunde das Weiterdenken von Smart Home ist, denn schließlich geht es darum, auch Häuser untereinander zu vernetzen, in dem der aufschlussreiche Datenfluss nirgendwo auf die eigenen vier Wände begrenzt wird:

In der autogerechten Stadt ging es darum, dass die Leute in Ruhe gelassen werden, in ihren Schlafburgen, auf dem Weg zur Arbeit, wohingegen es in der smartphonegerechten Start darum ging, dass alles mit allem in Kommunikation trat und der Bewohner, was man als Versprechen oder als Drohung lesen könnte, nie mehr allein war, sondern ständig Daten abgenommen bekam wie ein Patient in der Notaufnahme Blut und dass dieses neue Blut alle Informationen enthielt, die man brauchte, um die Körper und die Gefühle und die Begierden und die Ängste des Smartstadtbewohners nach Belieben zu steuern. Eine Wand bedeutete nichts mehr, sie war kein Schutz mehr und nur noch notwendig, um an ihr Sensoren anzubringen. Die Datenvampire hatten ganze Arbeit geleistet.

Der Roman Technophoria, aus dem dieses Zitat stammt, beschreibt dystopisch das Austesten und damit auch das reale Simulieren von Elementen einer Smart City.
Maaks Figuren bleiben ähnlich wie beschriebene Welten, die sich um den Globus spannen, seltsam blass. Turek, die Hauptfigur, ist ein Cheflobbyist einer Private Equity Firma, die Smart Cities testen und bauen lässt. Er findet im (Arbeits-)Leben keinen Halt und wird wohl absichtlich diffus gezeichnet; jedenfalls kann ich mir diese Figur kaum bildhaft vorstellen.

Niklas Maak scheut dabei nicht davor zurück, Kalamitäten zu schildern, die einer bissigen Tragikomödie gleichkommen. Als Leser scheint die literarische Welt schockgefroren zu sein; menschliche Wärme ist selbst in noblen Anwesen ein Fremdwort; selbst der Anblick von Frisuren erinnert daran, dass darin „eine unsichtbare Elektrizität zu fließen schien“. Überwachung per Videokamera ist omnipräsent. Immerhin kann man die Kamera noch mit Rasiercreme einschäumen und sie blind stellen, wie es Tureks Freundin Aura im angemieteten Ferienhaus in Portugal bewerkstelligt. Die menschliche (Er-)Schaffenskraft bleibt seltsam forciert, weil Geräte und nicht der Mensch selbst Entscheidungen erzwingen, so dass die Willensfreiheit kaum noch gegeben ist. Diese Grauzone resümiert Maak eindrucksvoll, als von einem Test-Roboter in der Verkleidung einer Androidin die Rede ist. Menschenähnliche Wesen erhalten in einem eigenen Kapitel namens „Roboter“ eine schaurige Bühne. Er legt dem japanischen Ingenieur, den Turek im fernen Osaka besucht, folgende Worte in den Mund:

Weißt du – ein Roboter ist nichts anderes als ein lebendigerer Spiegel, der uns zeigt, was wir wollen und wer wir sind. Es gibt etwas in unserem Gehirn, das aktiv wird, wenn man Trauer oder Freude bei anderen Menschen beobachtet, was es uns erlaubt, sich in jemand anderen hineinzuversetzen. Schon jetzt können Roboter von ihren Fehlern lernen. Bald werden sie in der Lage sein, auch ihre Programme zu hinterfragen, und Fehler der Programmierer zu korrigieren, ohne dass man sie dazu aufforderte. Und dann haben wir es mit einer neuen Natur zu tun.

In der Tat: Ein Roboter lässt tief blicken, umso mehr, wenn er hat ein gewisses Fehlerbewusstsein aufweist. Er hätte dann eine Einsicht, so wie wir auch Spiegel verwenden, um in unser Innerstes hineinzusehen. Wenn die Forschung es schaffen sollte, Nachdenken und Reflektieren vom menschlichen Gehirn abzukoppeln, wäre unser Geist entzaubert. Dann wären neue Geister aus der Taufe gehoben. Doch noch ist es (längst) nicht soweit: Solange der TÜV noch ansteht, überwacht sich die Technik noch nicht selbst.  Solange wir mit dem Phänomen Risiko leben müssen, hat der Mensch paradoxerweise noch sein Leben in gewissem Maße unter Kontrolle. Ohne Risiko scheint er jedoch die Autonomie über seinen Lebensweg entscheidend zu verlieren. Wollen wir sie aufgeben, um von autonomen Technikgeistern geführt zu werden?

Das ARD-Kulturmagazin ttt besprach Technophoria im Sommer 2020. Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen.

Schreiben mit Naturfarben – Über ein Gedicht von Andreas Altmann

Andreas Altmanns Lyrik ist seit vielen Jahren im Leipziger poetenladen Verlag gut aufgehoben. Daneben ist der poetenladen ein bemerkenswertes Literaturportal und -label, das sich nicht nur der Lyrik widmet. 2009 traf ich Altmann in Berlin, nachdem ich aus Zufall auf der mehrsprachigen Webseite lyrikline.org auf einige Gedichte aus seiner Feder gestoßen war. Mit ihnen hatte ich sogar ein Ausstellungsprojekt zusammen mit passenden Fotografien von ehemaligen Industrielandschaften geplant, das ich jedoch schließlich verwarf.

Im Nachhinein lohnt es sich, das Internet nach Rezensionen zu durchforsten, die zu eigenen, früheren und nun wieder aufgerufenen Gedankengängen passen. Schließlich geht es ja auch um das Anknüpfen von Gedankensplittern, gerade wenn von Lyrik die Rede ist. Die Äußerungen von zwei weiteren Altmann-Interpreten zeigen mir nämlich, dass die wahrhaftigen Sprachbilder – ob sie nun gemalt oder fotografiert sind
– für Altmanns Gedichten gerade auch wegen der leuchtenden Farben prädestiniert sind. Denn im Grunde zeichnen die Texte ihre eigenen Bilder:

Die Gedichte von Andreas Altmann sind grün. Diese Farbe legt sich um eine Sprache, die leise und sanft sich bewegt. Mitunter, wenn die Sanftheit in eine umfassendere Ganzheit gelangt, wechselt die Farbe.


So steht es in einem Blog mit dem schönen Namen literaturleuchtet. Und auf der  Literaturplattform Fixpoetry heißt es:

Wer einen Gedichtband von Andreas Altmann aufblättert, betritt eine Gemäldegalerie. (…) Die Dinge sind häufig belebt, als ginge ein animistischer Geist durch alles und würde es miteinander verbinden. Dann sinken die Dinge wieder zurück in eine bedächtige Distanz zum Betrachter, dem es unterdessen mehr und mehr vorkommt, als verblassten die Rahmen um diese Gemäldeskizzen, so daß die Gedichte ins unbegrenzte Offene ausfasern.

Im 2018 erschienen der Band Weg zwischen wechselnden Feldern, dessen Cover das Visuelle in der Schrift mehr als verdeutlicht und dabei zugleich eine konkrete Spur als Weg einzeichnet:

Cover
Andreas Altmann: Weg zwischen wechselnden Feldern (poetenladen, 2018)

Die dahingleitende Erinnerung an untergegangene Zeiten, die mehr oder weniger leidvoll für den engeren Familienkreis des lyrischen Ichs gewesen sein muss – sie strahlt im Band oft auf und wird gewissermaßen mit Worten bebildert. Das Gedicht naturfarben wählte ich stellvertretend aus, weil es all die Attribute enthält, die Altmanns Lyrik in einem fokussierten Wort-Kosmos verwebt: Farb(losigkeit)en, (un)belebte Natur, (Frei-)Räume, (An-)Blicke, (Zwie)Licht(er), (Jahres-)Zeiten, (Schrift-)Zeichen :

naturfarben

licht hat die säle geflutet, der regen

moos und flechten in den beton gepflanzt.

hier wachsen die bäume nicht in den himmel.

zeichen aus einer anderen zeit faulen auf

den mauern. stühle, seit jahren unberührt,

häufen sich vor dem gebäude über den tischen.

das freie hat ihnen zugesetzt. die natur holt sich

ihre farben zurück. im schnee erzählen sie

den augen ihre blinden geschichten. sie sehen

das licht in den worten aufscheinen. der raum

spielt für sich selbst theater steht an der wand

mit den aufgeklappten sitzen. und vor den

flügeln der tür hat sich herbstlaub gesammelt,

verrät jeden gang, der an sich selbst vergeht.  

Eindrücklich und auch eindringlich beschreibt Altmann einen aufgegebenen (Kunst-)Raum, der mit der Kraft der Worte neu erstrahlt. Kaum ein Foto könnte diese Intensität zeigen. Mit unserer Vorstellungskraft können wir uns ausmalen, wie so ein Raum aussehen könnte; das Sichtbare allein wäre nicht ausreichend. Denn neben „sehen“ und „aufscheinen“ sind auch „erzählen“, „faulen“, „unberührt“, „Gang“ und „spielen“ präsent. Es sind Worte, die wir nur mit Hilfe unserer gesamten Sinneswahrnehmung durchdringen können.  Uns ist Flutlicht vertraut, aber nicht Licht, das Säle geflutet hat, uns setzt Stress und Streit zu, aber gewöhnlich nicht das Freie. Ein an sich selbst vergehender Gang, verraten durch das Herbstlaub, hat etwas wunderbar Geheimnisvolles, das sich nicht auflösen lässt. „Gang“ und „vergehen“ besitzen bereits eine schillernde Bedeutungsvielfalt, dazu erscheint mit diesen beiden Worten die „Vergangenheit“ im Kontext des Gedichts wie ein Wort-Gespenst.

Allgemein ist uns Zeile für Zeile jedes einzelne Wortes vertraut, aber nicht das gebildete Satzgefüge. Gerade dieses Abrufen von Erfahrungsschätzen im Zusammenspiel mit einer Neubegegnung von buchstäblich nachspürbaren Ausdruckskombinationen macht nicht nur dieses Gedicht von Andreas Altmann zu einem Hochgenuss von Lektüre – schließlich werden alle Sinne angesprochen.

Hier geht es direkt zum Weg zwischen wechselnden Feldern und zu weiteren Informationen über den Autoren. Dem Verlag danke ich für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die Miniatur des Reisens – Über den „Flugsteig“ von Frank Kunert

Dieses Bild verleitet zum Träumen. Eigentlich ist es eine ganz reale Miniatur, die es so in Vergrößerung nicht gibt. Und doch besteht sie aus real wahrnehmbaren Elementen. Das macht das Ganze für den Betrachter so besonders. In einer Ausstellung im Herbst 2019, die im Greizer Sommerpalais stattfand, entdeckte ich die auf Fotopapier festgehaltenen Miniaturen von Frank Kunert, dessen Atelier in Boppard am schönen Mittelrhein liegt. Den „Flugsteig“ habe ich erst auf Kunerts Homepage entdeckt:

Flugsteig
Flugsteig (2002)
© Frank Kunert | www.frank-kunert.de

Fangen wir beim Titel an: „Flugsteig“, meist auch „Gate“ genannt, ist allen ein Begriff, die schon mal geflogen sind. Oft sind es langweilige Bereiche, in denen bis zum Aufruf des Fluges gewartet wird. Wer will, kann abseits davon noch mal schnell shoppen oder sich stärken gehen. Meist sind es schmucklose Bereiche, was auch bei ganz neuen Flughäfen kaum anders ist, wie wir bald am Flughafen Berlin Brandenburg sehen werden.

Elizabeth Clarke fasst Frank Kunerts Ansatz im Bildband „Wunderland“ sehr schön zusammen:

In der Langsamkeit liegt bei Frank Kunerts Arbeitsweise der Schatz verborgen, Ideen zu entwickeln und kreative Wege zu gehen. Das handwerkliche Arbeiten, die lange Zeit am Bau der Miniaturwelten – nicht selten über viele Wochen -, das präzise Lichtsetzen und Fotografieren im Studio machen dies möglich.

Unabhängig von realer Architektur ist die Miniatur „Flugsteig“ ein Verweis auf Reiseträume, die erst einmal mal organisiert werden müssen. Wir brauchen Reiseinformationen, es sei denn, wir brechen einfach planlos auf. Das ist aber meist nicht der Fall.  Fahrpläne und Aushänge stehen als Dokumente dafür. Der Koffer steht als metaphorischer Gegenstand für Reisetätigkeiten. Wartebänke und Geländer stehen wie Chiffren für Raumgrenzen und Zeitrahmen, die bei der Reise offenkundig werden. Ein Steig, egal ob ein Flug- oder ein Wandersteig, ist ohne Begrenzungen links und rechts undenkbar. Auch Zugänge zu den Steigen gehören dazu, genauso wie künstliche Lichtquellen und Behältnisse zur Müllentsorgung. Zu einem Flugsteig hin ist das Bewegungsverhalten vom Eingangsbereich des Flughafens mehr als sonst kanalisiert. Man folgt Korridoren und Sicherheitsschleusen, die erst auf dem Sitzplatz im Flugzeug ein Ende haben.

Beim Fliegen gibt es nicht erst seit diesem Jahr erdrückend viele Bestimmungen, die mit Träumen wenig zu tun haben. Bis wir endlich am Ziel sind, gilt es vieles auszufüllen und zu beachten. Ansonsten kann die jeweilige Fluggesellschaft den Reisenden vom Flug ausschließen. Der Flugsteig gleicht ironischerweise bei Kunert einem schmalen Grat, der recht ungesichert bereits in den Lüften schwebt. Es passt zu meinem Gefühl im Sicherheitsbereich eines Flughafens, in dem ich mich nicht selten unsicher fühle: Dies liegt daran, dass ich mich regelmäßig vergewissern möchte, kein wichtiges Dokument irgendwo liegengelassen zu haben.

Mir wurde zusammen mit meinem Bruder ein Versäumnis einmal fast zum Verhängnis, als ich von einem Flug von Mexico City nach Frankfurt über Washington völlig vergessen hatte, dass selbst für einen bloßen Umstieg ein Visa-Waiver (ESTA-Formular) für die Vereinigten Staaten vor Antritt der Reise auszufüllen ist. Wir konnten dies zum Glück noch am Flughafen in großer Eile nachholen. Im Nachhinein sind die Vorschriften nachvollziehbar: Ein Flughafen ist ein Sicherheitsbereich und braucht strengere Regelungen, unabhängig davon, ob die Einreise in ein Land offiziell erfolgt oder nicht.

Kunerts Miniatur lässt einen auch an Wolkenkuckucksheim denken, das ja auf etwas Fiktionales, Unrealistisches verweist. Reisen sind selbst oft Miniaturen der Einbildung, denn viele Reisende bekommen einen trügerischen, manchmal sogar völlig künstlichen Einblick in ein jeweiliges Land, gerade wenn es sich um eine komplett durchorganisierte Pauschalreise handelt.

Das Wolkige kann aber auch für das Unfassbare stehen, das einen umtreiben kann. Wer hätte im 19. Jahrhundert gedacht, dass man genauso schnell ans andere Ende der Welt fliegen kann als zu Fuß eine Strecke von 100 km zurückzulegen? Das sind Beschleunigungen, die uns im zweifachen Sinne fesseln: Einerseits begeistern sie, andererseits machen sie aber auch von einer sehr aufwändigen Technologie abhängig. Die ganze Logistik rund um einen Flug ist so ausgeklügelt, dass Systemfehler zur Katastrophe führen können. Zum Glück passiert das relativ selten, was darauf hinweist, wie viel wir technisch im 20.Jahrhundert dazugelernt haben.

Kunerts Flugsteig wird allen, die gerne und viel reisen, Gedanken an eigene Reiseerlebnisse schenken. Die Miniatur thematisiert unmissverständlich die Magie, die sich dann ergibt, wenn man Begegnungen eingeht, die das Leben bereichern und die Weltsicht erweitern. Sie werden alle unterschiedlich sein. Es gibt kein normiertes Reisen. Auf jeden Fall sollte das Reisen niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ein Stück Abenteuer bleiben. Die Reiseliteratur ist davon reich gesegnet: Die Ziele, die man im Leben nicht (mehr) erreichen kann, lassen sich zum Glück zwischen Buchdeckeln aufspüren.

Weitere Informationen finden sich auf der Homepage von Frank Kunert, wo auch die aktuellen und zukünftigen Ausstellungen angegeben sind.

Die Inszenierung der Dinge – Über eine Fotografie von Louise te Poele

Stillleben haben auf den ersten Blick nichts Lebhaftes. In den meisten romanischen Sprachen ist bei dieser Genrebezeichnung sogar der Tod präsent, denn eine „nature morte“, wie es im Französischen heißt, verweist auf das Abgestorbene. Es liegt deswegen nahe, diese jahrhundertealte Tradition von Stillleben ein wenig zu dynamisieren und ihr etwas Lebendiges einzuhauchen. Kräftige Farben von Blüten reichen da nicht aus.  Etwas Neuwertiges gehört vielmehr dazu, das geradezu magisch einen „move“ beim Betrachter erzeugt. Die Magie ist dann geschaffen, wenn die Dinge scheinbar in Fahrt kommen bzw. an Fahrt gewinnen.

Die aus Arnhem (Arnheim) stammende Fotografien Louise de Poele schafft dies mit verblüffenden fotografisch festgehaltenen Arrangements, wo Medium und Objekte eine Fusion eingehen. Ich habe den Eindruck, dass das Medium Fotografie diese Arrangements optimal vermittelt, auch wenn digitale Arrangements eigentlich keine Kamera mehr benötigen. Das Phänomen der Belichtung ist jedenfalls etwas, was über das Foto die visuelle Wahrnehmung erweitert und quasi wie in einem Brennglas die Augen schärft. Die Gegenstände sind auf einer flachen Oberfläche gebannt, ohne die dreidimensionale Wirkung zu verlieren.   

In der Orangerie in Gera waren diesen Sommer einige Fotos der niederländischen Künstlerin unweit von Bildern zu sehen, die den magischen Realismus repräsentieren und von Landsleuten der Künstlerin in den letzten gut 100 Jahren gemalt wurden. Insofern war der Ausstellungsbesucher gut vorbereitet und hatte bereits ein geschärftes Auge, denn Louise te Poele aktualisiert das Magische, indem sie Dinge geschickt arrangiert und inszeniert:

Borderlands

Borderlands – © Louise te poele (2019)  

Besonders hat mich die Fotografie „Borderlands“ angesprochen.  Liegt es etwa an den Büchern? Die gesammelten Werke von William Shakespeare auf Niederländisch sind mit der elektronischen Lupe ebenso zu erkennen wie Meisterwerke der Bildenden Künste auf Französisch („Chefs d’Œuvre de l’Art“). Liegt es an den leuchtenden Farben der Blumen, die Lichtglanz zusammen mit den (halb-)transparenten Stoffen verbreiten? Liegt es an der Illusion der irisierenden Seifenblasen, die, wie wir wissen, nur eine sehr kurze Lebensdauer haben? Sind es überhaupt Seifenblasen oder eher doch Glaskugeln, die künstlich ins Bild eingefügt worden sind, ohne dass sie real als Gegenstände fungieren? Wie der ins Dunkel abtauchende florale Fisch am linken Bildrand – hier scheinen sich Flora und Fauna in einem Objekt zu begegnen – ergänzen sie das Arrangement, als ob sie dazugehörten. Den Anblick stört nichts.

Auch die teils drapierten Attrappen von Händen mit ihren Armansätzen sind Elemente von Körpersprache, nämlich von Gestik, und zeugen von etwas zutiefst Menschlichem, obwohl im Arrangement nur indirekte Hinweise auf das Menschsein zu finden sind. Gerade das Stoffliche, Modische, wirkt neben der partiellen Plastikverhüllung von Laborgegenständen – ganz eindeutig gibt sich ein länglicher Messbecher unter dem Gewand erkenntlich – bewusst kontrastiv, ohne verstörend zu sein. Der artifizielle Gegensatz passt hier buchstäblich ins Bild. Ebenso gilt dies für die eindeutigen Referenzen auf klassische Stillleben wie zum Beispiel ein Ei und eine Zitrusfrucht, die scheinbar sich wie von Geisterhand ihrer Schale entledigt, sowie für das zart glimmende Streichholzfeuer, teils auf Türmchen aus Würfelzucker.

Die mittigen Schleifen in den Farben Orange („oranje“ ist unabhängig von den Farben der Flagge die wahrhaftige Landesfarbe in den Niederlanden und erinnert stets an die Oranier) und Schwarz-Rot-Gold verweisen auf das Grenzgebiet zwischen den Niederlanden und Deutschland, ohne dass eine politische Intention sichtbar wird. Man könnte außerdem über die flämische Tradition der Stillleben philosophieren, doch das drängt sich nicht auf. Die teils frischen, teils verblühten Pflanzen erinnern einfach an Arbeiten aus der frühen Neuzeit, die drei weidenden Miniaturkühe an den grenznahen Niederrhein, der auf niederländische Seite durch die Provinz Gelderland fließt.

Der künstlerische Wert liegt auf Übergangsbereichen, die ja auch zur Grenze gehören, denn keine Landesgrenze wäre ohne Grenzübergang denkbar. Louise te Poele erweitert hier die Bedeutung von Grenzgebieten, da jede Wahrnehmung Grenzen braucht und gleichzeitig hinterfragt. Wo wird getrennt, visuell und begrifflich? Wann gilt ein Objekt als solches und wann ist es etwas anderes? Solche Fragen werden in „Borderlands“ wie mit Zauberhand angegangen. Ein Grund, länger über Louise te Poeles zauberhafte Arrangements nachzudenken.

Mehr über Louise te Poele ist auf ihrer Homepage zu entdecken. Der einzige brauchbare, im Internet auffindbare Artikel zu Louise te Poeles Ausstellung in Gera ist in der Thüringer Allgemeinen erschienen.

In der Welt zu Hause? – Gedanken zum Kosmopolitismus

Im Mai 2020, als ein Verreisen kaum möglich war, stieß ich zufällig auf das Gedicht „Kosmopolit“ von Durs Grünbein. Negativer kann das Dasein eines reisenden Weltbürgers kaum in Worte gefasst werden. Insofern kann ein Cosmopolitan in den „Bars von Atlantis“ alles andere als genüsslich schmecken.  Zuvor heißt es bei Grünbein:

Dem Körper ist Zeit gestohlen, den Augen Ruhe.

Das genaue Wort verliert seinen Ort. Der Schwindel

Fliegt auf mit dem Tausch von Jenseits in Hier

In verschiedenen Religionen, mehreren Sprachen.   

Tausch ist eben auch ein Austausch, doch er klingt banaler und nüchterner. Eigentlich ist jeder Kulturinteressent vom Austauschgedanken beseelt; keine Kultur kommt ohne Austausch aus. Nun drängt sich der Slogan „Wandel durch Austausch“ auf, den der Deutsche Akademische Austauschdienst auf seine Fahnen geschrieben hat. Austausch klingt geistreicher als ein Tausch und wird gerade bei einer Bildungsreise großgeschrieben, während eine Dienstreise dafür oft weniger Gelegenheiten bietet und das Reiseziel eben oft kein Austauschort ist, sondern wahrhaftig eingetauschte Ortslosigkeit herrscht. Die jetzigen Zeiten in den Frühlings- und Sommermonaten 2020, wo deutlich weniger gereist werden kann bzw. sollte, geben Grünbeins Gedicht einen neuen Akzent. Wir haben definitiv mehr Ruhe und mehr Zeit erhalten, indem wir weniger reisen.

Als ich Ende Mai 2019 aus beruflichen Gründen am Flughafen Nizza weilte, dachte ich mir, dass das Reisen für viele nur noch ein Tausch-Geschäft von einer Region zu einer anderen ist. Ein scheinbar geist- und gesichtsloses Unterfangen; da kann die Côte d’Azur noch so schön sein. Man bekam schon einen Vorgeschmack auf die Hauptsaison. Beim Umsteigen in Zürich verzauberte ein amerikanischer Barpianist die Abflughalle mit seinen sanften Klängen, ohne dass viele wartende Fluggäste merklich davon begeistert gewesen wären. Ein Jahr später, wo Live-Musik und das Fliegen vorübergehend eine Rarität geworden ist, ist das Gefühl des Reisens ein Neues.  Zur Zeit scheint das Weltbürgertum, dessen Konzept von der Wert-Gleichheit aller Menschen bereits in der Antike erdacht wurde, einen besonders schweren Stand zu haben.

Ebenfalls im Mai hörte ich ein längeres Interview im Deutschlandfunk mit der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum über ihr Buch Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Das Buch lohnt sich zumindest in Auszügen, denn das Weltbürgertum lässt sich einfach nicht gewinnbringend einsetzen, selbst wenn es ein gewisses Ideal darstellt. Nussbaum möchte den Institutionen innerhalb von Nationen eine größere Bedeutung zumessen, was wiederum bedeutet, dass Nicht-Regierungsorganisationen, die international vernetzt sind, von diesen nationalen Bedingungen abhängig sein müssen. Die Quintessenz lautet:

Wir müssen noch sehr viel mehr über die Bedingungen lernen, unter denen ausländische Hilfe produktiv sein kann. Was wir jedoch nicht länger tun dürfen, ist, uns der Fantasievorstellung überlassen, dass unsere Pflichten sich durch Hilfe aus der Ferne auf eine Weise erfüllen lassen, die die Dinge real und dauerhaft verbessert, ohne dass es dabei zu einem strukturellen und institutionellen Wandel kommt.  

Es ist gewinnbringend, sich wirklich einmal lokale Strukturen anzuschauen, denn ein vernetztes Europa und Zusammenschlüsse großer Nationen sind nur dann von Vorteil, wenn Unterstützung materieller und ideeller Art auch auf fruchtbaren Boden fallen. Mit „Boden“ ist hier die untere Ebene gemeint, auf der Institutionen wie Rathäuser und Gemeindeverwaltungen tätig sind. Sie sind entscheidend bei der Fürsorge im kleinen Rahmen und nicht nur dann, wenn es vor Ort kriselt und brodelt. Ein Weltbürger ohne lokalen Halt ist ein übermutiger Überflieger, der die Bodenhaftung verliert.

Für Nussbaum ist der Begriff Kosmopolitismus zu „vage“, um damit vernünftig arbeiten zu können. Sie schlagt dagegen einen materialistischen globalen politischen Liberalismus vor,  der sich in einem „Fähigkeitenansatz“ äußert, „der sich auf die wesentlichen Freiheiten der Menschen konzentriert, sich für diejenigen Dinge zu entscheiden, die sie wertschätzen.” Die genannten Fähigkeiten geben eine Antwort auf folgende Frage: „Was kannst du in Bereichen, die für dein Leben von Bedeutung sind, tun und sein?“ Eine Fähigkeit bezieht sich auf „Sinne, Fantasie und Denken“. In der Tat sollte es in jedem Land der Welt möglich sein, „Fantasie und Denken selbstbestimmt anzuwenden“. Wann wird dies Wirklichkeit? Ich kann mir das leider (noch) nicht vorstellen. Es braucht keine neuen Weltbürger, sondern Selbstbestimmung. Ein Geist lässt sich fremd bestimmen, doch dann ist es nicht mehr weit, bis die Unfreiheit einem wie Unkraut über den Kopf wächst.

Das Gedicht von Durs Grünbein ist ebenso online verfügbar wie das erwähnte Interview mit Martha Nussbaum im Original (mit schriftlicher Zusammenfassung auf Deutsch). Auch lässt sich ihr Buch gut über den wbg-Verlag als pdf-Dokument erwerben.




Zwischen Filmreife und Postkarten-tauglichkeit: Über eine Erzählung von Doris Dörrie

Bisher habe ich immer einen Bogen um Doris Dörrie und ihre Bücher gemacht. Das kann auch daran liegen, dass für ihr Werk die deplazierte Kategorie „Frauenliteratur“ verwendet wird, die man nicht ernst nehmen kann: Man stelle sich einmal vor, man würde seriös über Männerliteratur sprechen – die Lacher wären einem sicher!

Dörries Erzählung mit dem kitschig anmutenden Titel Der Mann meiner Träume fischte ich neulich aus der Zwickauer Stadtbibliothek. Es war ein guter Fang, denn nun weiß ich, dass Doris Dörrie das Multimediale erzählerisch vereint. Als Professorin für creative writing an der Hochschule für Film und Fernsehen in München schafft sie es wirklich, schreibend zu kreieren, und damit meine ich nicht nur Geschichten, sondern auch Stoff für Bilder, Filme, Tanz und Theater. Selten ist mir das so deutlich geworden wie in dieser Erzählung, in der tatsächlich eine ästhetische Postkarte die Handlung vorantreibt.

Das Fotomodel Antonia achtet am Rande einer Dienstreise in den riesigen Uffizien in Florenz erst im Souvenirbereich auf ein Gemälde, das als Postkartenmotiv abgedruckt ist. Es stammt von Sandro Botticelli und zeigt einen namentlich nicht bekannten Mann:


Sandro Botticelli: Porträt eines Mannes mit der Medaille Cosimos d. Ä. (ca. 1474)

Der abgebildete Herr fasziniert sie, weil es ihr scheint, dass er eben nicht völlig aus der Zeit gefallen ist, ein sympathischer, gut aussehender Mann eben.

Es war für Antonia unvorstellbar, dass er mehr als vor 500 Jahren gelebt haben sollte. (…) Er sah doch aus wie jemand, dem sie heute auf der Straße begegnen könnte, ein etwa dreißigjähriger linker Politologiedozent, ein Filmemacher vielleicht oder Journalist, ein Mann, dem sie nach dem ersten Espresso alles von sich erzählt hätte, ein schöner Mann, der sie verstand, der Mann ihrer Träume.

Antonia vergegenwärtigt sich diesen gar nicht so fremd erscheinenden Mann und imaginiert auf ihrem Hotelbett einen Dialog mit ihm:

Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, die Liebe sei wie ein Sandsack, und jeder Mann, mit dem man ins Bett geht, macht ein Loch hinein, und jedesmal sickert ein bisschen mehr Sand aus dem Sack, bis am Ende nur eine leere, alte Hülle zurückbleibt. Meinst du, dass das stimmt?“ Ja, sagte, der Mann, aber manche haben einen größeren Sandsack als andere.“ „Danke“, sagte Antonia,
du bist der erste Mann, mit dem man wirklich reden kann.  

Zurück in München sieht sie an einem Kaufhauseingang einen „Penner“ , der in ihren Augen stark Botticellis Unbekanntem ähnelt. Da muss als Requisite nur noch eine auf der Postkarte unübersehbare rote Samtkappe und als Medaillenersatz ein mit Stanniolpapier umwickelter Schokoladentaler her, um mit einer im Kaufhaus auch erhältlichen Polaroidkamera das alte mit einem aktuellen Bildnis abzugleichen. Erst einige Tage später sieht sie jeden Johnny erneut vor einem Restaurant und zögert keinen Augenblick, ihn mit den beiden Requisiten auszustatten und zu knipsen.

Es war, als träte der Mann aus Florenz aus dem Nebel der Vergangenheit und Zukunft auf sie zu und mitten in ihr Leben hinein.

Johnny ist schlagkräftig: Er wähnt sich als Doppelgänger und verweist darauf, dass das geknipste Foto nach 500 Jahren im Müll wiederum Anlass für eine  Suchaktion sein könnte. So webt er sozusagen die Geschichte medial auf der  zeitlichen Achse weiter und schaut in seiner „Bettlerrolle“, die er annahm, um „dem Materialismus in den Hintern zu treten“, souverän hinter die Kulisse des Textes, die Fremdheitserfahrungen mehrdimensional durchleuchtet.  Das gemeinsame Wagnis, eine Reise nach Lima anzutreten, ist nur eine logische Selbstüberprüfung dieser Fremdheitserfahrung auf der räumlichen Achse. Antonia und Johnny eint der Wunsch, anders sein zu wollen, doch sie fliehen dabei vor dem eigenen entleerten Ich.  Dreimal darf man raten, ob die Reise zum ersehnten Liebesglück führt oder einfach nur eine große Desillusion ist….

Über die zweite Hälfte der Erzählung  soll weiter nichts verraten werden; einen Gedanke möchte ich jedoch noch fortspinnen. Der Mann meiner Träume wurde 1991 publiziert. Damals sprach noch keiner vom Internet und erst recht keiner von virtuellen Selbstinszenierungsplattformen wie Instagram. Heute wäre der doppelte Boden der Erzählung kaum noch einzuziehen, da wir durch die Bilderflut des Internets Bilder kaum noch abgleichen (können). Nicht wenige Menschen hinterlassen stets neue Bilder von sich in der virtuellen Welt. In der Tat kommt hier die Frage auf: Wie sehen wir unsere eigenen Bilder mit zeitlichem Abstand? Dank des guten alten Fotokartons sind wir ja oft verblüfft von Kindheits- oder Jugendfotos.  Wir können uns mit ihnen identifizieren. Bei geposteten Fotos ist dies nach einer bestimmten Zeit schon fraglich. Wie werden wir jedoch menschliche Wesen Instagram-Bilder gedanklich verarbeiten, die 500 Jahre auf Servern gelagert sind? Würden sie sich danach sehnen, eine Zeitreise anzutreten? Die Antwort liegt bekanntlich wie so viele in den Sternen oder im Reich der Fantasie, die für jede Geschichte unerlässlich ist.

So lässt sich ohne große Umschweife der Bogen spannen zu Dörries jüngstem Buch Lesen Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben, in dem es ganz am Anfang heißt: 

Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen.

Das geschieht ohne festen Boden unter den Füßen, wie ganz am Schluss deutlich wird: 

Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat.

Die beiden Bücher von Doris Dörrie sind wie ihre anderen Bücher auch bei Diogenes erhältlich.

Adel ganz ohne Tadel – Gedanken zu Marie von Ebner-Eschenbach

Am 10. März stiefelte ich bei Dauerregen durch Leipzig, um auf Bücherjagd zu gehen. Ich hatte einige Titel im Blick, wofür ich zum ersten Mal die geräumige Stadtbibliothek, die ehrwürdige Universitätsbibliothek und zuletzt noch die Institutsbibliothek der Kunstpädagogik in Rufweite der Nikolaikirche ansteuerte, die in den Semesterferien anders als im Internet angegeben verschlossen war. Noch war nirgendwo die Rede von einem „Lock-Down“ in Deutschland, so dass ich stattdessen in ein benachbartes Antiquariat eintrat. Die Suche nach dem Zufallsfund dauerte keine zehn Minuten: Ein Buch aus der immer noch aufgelegten Insel-Bücherei (Nr. 543) aus dem Jahr 1982, gedruckt in Stollberg, gebunden in Leipzig, mit Aphorismen der mir nur vom Namen her bekannten Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) sprang dabei heraus. Warum nicht mal schön kurze Häppchen-Texte, die man einfach minutenweise anlesen kann? Ein klassisches Durchlesen ist hier eigentlich nicht nötig.

Ziemlich genau zwei Monate später öffnete ich endlich das Buch. Die kurzen Miniatur-Texte schienen mir zu sagen, dass ich offensichtlich einen besonderen Fund gemacht hätte. Eines der letzten und längsten Aphorismen, mit der Nummer 91 im abschließenden Teil „Fünftes Hundert“–  zum ersten Mal 1890 publiziert – spricht in meinen Augen Künstler und auch Lebenskünstler an:

Es steht etwas über unseren schaffensfreudigen Gedanken, das feiner und schärfer ist als sie. Es sieht ihrem Entstehen zu, es überwacht, ordnet und zügelt sie, es mildert ihnen oft die Farben, wenn sie Bilder weben, und hält sie am knappsten, wenn sie Schlüsse ziehen. Seine Ausbildung hängt von der unserer edelsten Fähigkeiten ab. Es ist nicht selbst schöpferisch, aber wo es fehlt, kann nichts Dauerndes entstehen; es ist eine moralische Kraft, ohne die unsere geistige nur Schemen hervorbringt; es ist das Talent zum Talent, sein Halt, sein Auge, sein Richter, es ist – das künstlerisches Gewissen.

Als ich im Spätsommer 2017 im Naabtal unweit von Regensburg einem Gespräch lauschte, wo das Wort „Lebenskünstler“ fiel, dachte ich länger über Kunst im Leben bzw. Leben als Kunst nach. Weit kam ich dabei nicht. Nun, dank Ebner-Eschenbach ist mir bewusst geworden, dass das Gewissen einen (Lebens-)Künstler leiten sollte. Es kann kein Zufall sein, dass Wissen und Gewissen, beziehungsweise „conscience“ (Gewissen) und „science“ (Wissenschaft) im Englischen und Französischen sprachlich miteinander verbunden sind, obwohl die Wörter doch so verschiedene Bedeutungen besitzen. Überwachen, Ordnen, Zügeln, Ausbildung, das klingt doch alles sehr nach Moral, nach Wissen, nach Gewissen, nach Mit-Wissen, und weniger nach Kunst. Und doch kann ein Künstler nicht ohne dies auskommen. Es gibt stets eine tiefsinnige Begleitung durch eine Parallel-Ausbildung, für die es eben kein Fachpersonal gibt. Fähigkeiten stehen nicht für sich – sie müssen eingerahmt sein, um buchstäblich Halt innerhalb einer geistig-moralischen Haltung zu finden, für die es eigentlich keine eindeutigen Worte gibt.

Zuletzt las ich die Ebner-Eschenbachs Erzählung Krambambuli (1884), die mehrfach verfilmt wurde (zuletzt 1998 mit Tobias Moretti in der Hauptrolle und Xaver Schwarzenberger als Regisseur).  Krambambuli ist eigentlich ein Branntwein mit Wacholderauszügen, der auch als „studentische Feuerzangenbowle“ im Internet gehandelt wird. Bei Ebner-Eschenbach heißt so ein Hund, der gegen 12 Flaschen Danziger Kirschbranntwein den Besitzer wechselt und zwischen dem ersten Besitzer (einem dubiosen Wildschützen) und dem zweiten Besitzer (Revierjäger Hopp) über Leben und Tod entscheidet: Zum einen klärt Kranbambuli Hopp darüber auf, dass der Wildschütze einen Oberförster erschossen hat, zum anderen sorgt er dafür, dass der Mörder beim anschließenden Racheakt des Jägers keinen Schuss abgeben kann.

Als dritter Besitzer hat zwischenzeitlich ein Graf das Nachsehen, denn der ihm als Geschenk vom Jäger Hopp zugedachte Kranbambuli verweigert ihm die Treue. Die wechselnden Besitzverhältnisse und die Rivalitäten unter den Menschen geben dem Tier das Letzte. Mutig, wie der Jäger der Gräfin die Geschenkidee vorschlägt:

« Hochgräfliche Gnaden! Wenn der Hund im Schlosse bleibt, nicht jede Leine zerbeißt, nicht jede Kette zerreißt, oder wenn er sie nicht zerreißen kann, sich bei den Versuchen, es zu tun, erwürgt, dann behalten ihn hochgräfliche Gnaden umsonst – dann ist er mir nichts mehr wert.»

Die Probe wurde gemacht, aber zum Erwürgen kam es nicht; denn der Graf verlor früher die Freude an dem eigensinnigen Tiere. Vergeblich hatte man es durch Liebe zu gewinnen, mit Strenge zu bändigen gesucht. Er biß jeden, der sich ihm näherte, versagte das Futter und – viel hat der Hund eines Jägers ohnehin nicht zuzusetzen – kam ganz herunter. Nach einigen Wochen erhielt Hopp die Botschaft, er könne sich seinen Köter abholen.

Böser Ernst und bissiger Humor halten sich die Waage; die Sprache ist pointiert, fast salopp. Die Schriftstellerin, die schon in ihrem 13. Lebensjahr selber Titel Gräfin wurde, hat in diesem kurzen Text einer vollkommen verschwundenen Gesellschaft feine Nadelstiche versetzt. Jäger und Schützen sind bei ihr keine Helden mit ihren Trophäen, sondern derb und unkultiviert.

Auf einer frühen Fotografie des kaiserlichen Hof-Fotografen Ludwig Angerer, angeblich aufgenommen um 1865, sind die Blicke der Schriftstellerin zusammen mit ihrem Gatten auf ein geöffnetes Buch fixiert – sicher damals für Frauen ungewöhnlich im Kontext der frühen Porträtfotografie. Hier wird eindeutig auf die berufene Literatin verwiesen.

Ebner-Eschenbach mit Gatte
Porträtfotografie von Ludwig Angerer: Marie von Ebner-Eschenbach mit ihrem Gatten Moritz (um 1865)

Ebner-Eschenbach auf Briefmarke
Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1980 mit einem Foto von Marie von Ebner-Eschenbach

Mehr als 100 Jahre später ehrte sie eine Briefmarke der Deutschen Bundespost zu ihrem 150. Geburtstag. Noch bekannter wurde Ebner-Eschenbach über den Bargeldverkehr: Zierte die 20-D-Mark-Scheine in Deutschland Annette von Droste -Hülshoff, waren in Österreich  die 5000-Schilling-Noten für Marie von Ebner-Eschenbach reserviert, deren Mädchenname Marie Dubský von Třebomyslice wie aus einer vollkommen anderen Welt klingt, obwohl sie doch gerade im damaligen k. und k. -Kontext ein und dieselbe war. Neben Deutsch und Tschechisch kam sie bereits als Kind mit Englisch und Französisch regelmäßig in Kontakt. Kann man da überhaupt von einer Muttersprache sprechen? In Österreich ist sie allein aufgrund der geografischen Nähe zu ihrem Geburtsort, dem Schloss Zdislawitz (heute heißt die mährische Ortschaft Troubky-Zdislavice) und ihrem Sterbeort Wien bekannter. Mit Kaiser Franz Josef II. teilt sie sowohl das Geburts- als auch das Sterbejahr und damit mehrere (Literatur-)Epochen. Im Jahre 1900 bekam sie von der Universität Wien bereits einen Ehrendoktortitel, ein Jahr zuvor bereits das Österreichische Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft.

Zum Glück scheint der Verfall ihres heimatlichen Schlossgutes aufgehalten. Noch 2013 berichtete in melancholischem Ton die F.A.Z. davon. Bald, so scheint es laut Prager Zeitung,  wird Schloss Zdislawitz wieder für Besucher zugänglich zu sein, auch wenn man nicht mehr die wertvolle Bibliothek Ebner-Eschenbachs (1945  geschreddert) zurückholen kann. Was wohl vom Nachlass übrig gelassen wurde? Ein Grund mehr, länger im malerischen Mähren zu verweilen. Vielleicht mit frischer neuer Lektüre im Gepäck: Die Erzählung Kranbambuli gibt es online und ganz frisch als Jugendbuch. Die Aphorismen gibt es im neuen Gewand in der Insel-Bücherei unter der Nummer 1414!

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