Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

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Kunterbunte Episoden aus Schriftstücken, die mich beschäftigen und mitunter auch faszinieren. Unerhörtes, Unglaubliches; einfach nur zum Staunen.

Bild-Kontemplation: Über einen gläsernen Guten Hirten in Berlin

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Verkehrsumtost steht die evangelische Kirche Zum Guten Hirten am Rande der Bundesallee, einer der größten Nord-Süd-Ausfallschneisen Berlins auf dem Friedrich-Wilhelm Platz im Stadtteil Friedenau. Auch die direkt unterhalb der Kirche verlaufene Trasse der U9 ist mit ihren Erschütterungen wahrnehmbar. Die Kirche bietet gerade hier einen Rückzugsraum vom harten Alltag der Großstadt. An einem Sonntag ist die Kirche als Andachtsraum für das ganze Areal ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Im Advent 2022 fokussierte sich mein Blick während eines bunten Kindergottesdienstes auf das Glasmosaik, das unverkennbar einen Guten Hirten abbildet. Es grenzt sich von den üblichen Darstellungen ab, da ein Mosaik das Licht in vielen Farben wunderschön bricht und in der Form oberhalb des Altars ungewöhnlich ist. Auch das Antlitz des Guten Hirten hat etwas Entrücktes und zugleich etwas Nahbares an sich.  Die vier weiblich anmutenden Antlitze, die wie Himmelsrichtungen rund um den Hirten angeordnet sind, repräsentieren wahrscheinlich die Missionsschwestern, die im „Auftrag“ des Guten Hirten tätig waren. Der Kontext, der unter anderem auf die weltweit wirkende Gossner-Mission verweist, wurde hier verewigt.  Offensichtlich wurde, wenn man biografische Angaben berücksichtigt, die Künstlerin Eva-Maria Lokies zusammen mit ihrem Vater Hans vom Glaubenszeugnis indischer Christen derart geprägt, dass der abgebildete Hirte von dieser Erfahrung künden soll. Hans Lokies war lange Zeit „Direktor und Inspektor“ der Gossner Mission, die vor knapp 200 Jahren in Berlin von Pfarrer Johannes Evangelist Gossner gegründet wurde. Er war auch auf dem indischen Subkontinent präsent.

Rosette_Berlin_Friedenau
Glasmosaik nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies in der Evangelischen Kirche „Zum Guten Hirten“ in Berlin-Friedenau

Die Glasrosette wäre genauso wie die Missionsarbeit ohne die Heilige Schrift so nicht denkbar gewesen. Kirchen- und Kunstgeschichte beziehen sich seit jeher auf theologische Auslegungen, worin das Gehörte bzw. Gelesene in unterschiedlichen Materialien verewigt wird. Wer auch das einfallende Licht berücksichtigen wollte, konnte mit einer Glasmalerei besondere Effekte erlangen. Glas ist ein schwer herzustellender und zu verarbeitender Werkstoff, so dass bis in die Zeit der Hochindustrialisierung nur wenige Künstler in der Lage waren, damit zu arbeiten. Chor- und Altargestaltung bieten sich dafür verständlicherweise besonders an, um das Geheimnis des Glaubens an diesen Orten noch stärker hervortreten zu lassen.

Der Hirte ist ein oft verwendetes Motiv in der Bibel. Besonders eindrücklich wird es im Psalm 23, dem Hirtenpsalm mit dem bekannten ersten Vers „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.“, im Buch Ezechiel und im Johannes-Evangelium dargestellt. Gott, der Herr, ist im Alten Testament von den Hirten seiner „Schafe“ tief enttäuscht. Die Herde, das Volk Israel, hat bekanntlich harte Zeiten durchlebt, bevor es nach den Worten des Propheten Ezechiel vom Herrn gerettet wird:

Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollten nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein. (…) Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben. 

EZECHIEl 34, Verse 10-12

Jesus erweitert den Aspekt der Rettung vor Gefahren, wenn er im Johannes-Evangelium zusätzlich sein Wirken in der Analogie der Tür konkretisiert :

Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (…) Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. 

JOHANNES 10, Verse 7-9, 11

Die zweiteilige Rolle als Tür und als Hirte könnte so interpretiert werden, als dass der Sohn Gottes den Zugang zum Himmelreich ermöglicht und gleichzeitig sich für seine Nachkommenschaft hingibt.

Eva-Maria Lokies konnte sich auf einen hervoragenden Produzenten verlassen, ohne den eine solches groß angelegtes Werk kaum möglich gewesen wäre: Die Berliner Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Treptow hatte die Rosette im Jahr 1949 hergestellt und geliefert, nachdem Kriegseinwirkungen die Originalausstattung zerstört hatten. Sie ist mitsamt dem repräsentativen Firmensitz seit Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre von der Bildfläche verschwunden. Mehr als 150 Jahre, etwa von 1890 an, vor allem dank des Engagements des Kaufmanns August Wagner und des Ingenieurs Friedrich Puhl, hatte die Firma durch die wechselvollen Zeiten hindurch eine Monopolstellung für sämtliche Aufträge im Bereich Glasmosaikkunst inne. Mehr Weltruhm konnte man in diesem Metier kaum erlangen. Vor der Gründung der Firma waren Auftraggeber auf italienische Glasmosaik- und Glasmalerei-Werkstätten angewiesen gewesen.

Am Ostermontag 2023 sahen wir in der Dorfkirche Marzahn weitere Glasmosaiken von Eva-Maria Lokies: die vier Evangelisten und der gekreuzigte Christus sind ebenfalls unverwechselbar, nicht nur aufgrund der Farbwirkung.

Dorfkirche Alt-Marzahn: Glasfenster
Der Evangelist Markus: Glasfenster von Katharina Peschel nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies, Dorfkirche Marzahn, 1949/50

Lokies’ Werk, vor dem Bau der Berliner Mauer fertiggestellt und installiert, hat die Zeit der Teilung überlebt und strahlt nun jeden Tag in der wiedervereinigten Stadt, je nach Wetter und Sonnenstand. Eine wiederholte Betrachtung lohnt sich daher zu jeder Witterung.

Vielen Dank an Pfarrer Peter Martins für die Bereitstellung von Informationsmaterialien zur Rosette in Berlin-Friedenau.

Grauzone – Über „Graue Bienen“ von Andrej Kurkow

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Wer von Grauzonen spricht, hat oft nur eine unzureichende oder gar keine Vorstellung davon, welche Zone gemeint ist. Meist handelt es sich um keine geografischen Zonen. Der auf russisch schreibende, in Kiew aufgewachsene Schriftsteller Andrej Kurkow hat in seinem 2018 erschienenen Roman Graue Bienen (die deutsche Übersetzung folgte 2019) die Konfliktregion Donbass in der Ostukraine im Blick, die von 2014 bis 2022, also vor der Zeitenwende, trotz der immer wieder auflodernden Kampfhandlungen nur gelegentlich in den Nachrichten auftauchte. Die Hauptfigur Sergejitsch ist Einwohner der fiktiven Ortschaft Malaja Starogradowka als Bienenzüchter und auch Einwohner der „grauen Zone“, die politisches und militärisches Niemandsland bezeichnet, denn „Grau ist die Farbe des Übergangs und der Schattierung zwischen den Polen.“ 

In dieser Logik erfordern militärische Auseinandersetzungen zweier Kriegsparteien als „Pole“, die sich durch keine klare Offensive auszeichnen, ein schattiertes Gebiet, das quasi als Pufferzone für beide Kriegsparteien dient:

Die graue Zone überfiel niemanden! Deshalb war sie ja auch grau, weil sich nichts in ihr ereignete und sich fast niemand in ihr befand. Und da gingen nun beide Horizonte mit Waffengewalt gegen die graue Zone vor. Obwohl beiden die graue Zone völlig egal war, sie wollten durch sie hindurch den anderen treffen. Wenn die einen wie die anderen fortgingen, dann würde die graue Zone wieder zum Mutterland!

Sergejitsch  verlässt seine Heimat in Richtung Zentralukraine nur, um seine durch näherkommende Geschosse verschreckten Bienen in Freiheit ausfliegen zu lassen, damit sie endlich ihrer Arbeit nachgehen können. Er ist nach seiner Ansicht „nicht nur Herr des Bienenstandes, sondern auch gleichsam Vertreter der gesetzlichen Interessen der Bienen“. Auch wenn das Honigsammeln nicht explizit als gesetzlich verankertes (Tier-)Recht angesehen werden würde, so sind seit den 1990er Jahren EU-Tierschutzvorschriften in Kraft, in denen fünf Freiheiten für Tiere formuliert sind, unter anderem auch die „Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens“. In diesem Sinne ist die „Road Novel“, um einen Ausdruck von Sigrid Löffler auf Deutschlandfunkkultur aufzunehmen, ein Versuch, den für den Tiernutzen und damit auch für den Nutzen des Menschen wichtigen Aspekt der Freiheitssuche konkret darzustellen.  Wenn man bedenkt, dass Bienen für ein Glas Honig „rund 40000 mal ausfliegen und dabei 4 bis 7 Millionen Blüten besuchen“ müssen, wie man in Ralph Dutlis Kulturgeschichte der Bienen mit dem schönen Titel Das Lied vom Honig nachlesen kann, dann  ist der Begriff der Freiheit eng mit stofflichem Ertrag verknüpft.

Sergejitschs Reise führt in das Mutterland, wo keine Kriegshandlungen stattfinden. Im realen Dorf Wessele (ein buchstäblich fröhlicher Ort) kommt er auch näher mit einer Händlerin namens Galja in Kontakt und kann Honig zu Geld machen. Der soziale Friede ist auch dort brüchig, ein „traumatisierter Kriegsheimkehrer“ beschädigt sein Hab und Gut, unter anderem seine Bienenstöcke, die auch für den Imker als Bettstatt dienen. So beschließt Sergejitsch, Achtem, einen krimtatarischen Bienenzüchter-Freund  auf der schon damals russisch besetzten Krim-Halbinsel aufzusuchen.

Bei der Einreise auf die Halbinsel werden die Bienen an der Grenze einer gründlichen Inspektion unterzogen, während Journalisten genau den Ankommenden mit seinem beschädigten Besitz filmen und ihm „Blicke zuwarfen, in denen weder Interesse noch Mitleid lag“. Der Verdacht liegt nahe, dass sie mit dem Bildmaterial im wahrsten Sinne des Wortes eine prorussische Geschichte drehen.

Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass Achtem verschwunden ist.  Seine Familie, die keinen Minderheitenschutz genießt, weist Sergejitsch den Weg zu den verwaisten Bienenstöcken. Die angestellten Recherchen verheißen nichts Gutes; es gibt keine Hoffnung, dass Achtem noch am Leben ist. Nach dessen Begräbnis wird Achtems Sohn Bekir aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Sergejitsch wird zudem beim Honigschleudern vom Geheimdienst FSB mitten in der Natur aufgespürt. Ihm wird ein Bienenstock abgenommen, um eine „veterinärbehördliche Grenzkontrolle“ nachzuholen, da es möglich sei, dass Krankheiten von den Tieren übertragen werden. Auch wenn die Kontrolle ohne Beanstandungen verläuft, hat sich etwas bei den untersuchten Bienen verändert. Sie zeigen ein merkwürdiges Verhalten: Nur mit einer „Schwarmkiste mit Deckel“ und dem Beschweren der Flügel mit Hilfe von zerstäubtem Wasser kann Sergejitsch sie wieder einfangen. Die Zeit für die Rückkehr in die Ukraine ist gekommen: Er nimmt in seinem ramponierten Auto Achtems Tochter Ajsche mit an die russisch-ukrainische Grenze, von wo sie sich auf den Weg zu seiner Ex-Frau Witalina nach Winnyzja machen soll, um dort ein Studium aufzunehmen.

Auf der Reise wird Sergejitsch von Träumen geplagt, in denen seine Bienen sich „wie Aufklärer des Militärs“ verhielten und „grau waren, weil sie einen Tarnanzug trugen, vielleicht auch nur einen Regenumhang, auf jeden Fall etwas Militärisches“. Auch nach dem Aufwachen „wirkten sie grau auf ihn!“ Das Unheil scheint sich auf die Bienen übertragen zu haben.  Der Roman endet folglich tragisch damit, dass der „Herr des Bienenstandes“ sich seiner in einem der nicht kontrollierten Bienenstöcke überraschend wiederentdeckten Handgranate, die er vor seiner großen Reise daheim von einem Soldaten geschenkt bekommen und nachts im trunkenen Zustand in der Nähe seiner Bienen versteckt hatte, entledigen möchte, um nicht wegen Waffenbesitz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anstatt sie einfach explodieren zu lassen, nimmt er mutwillig in Kauf, den merkwürdigen, kontrollierten Bienenstock zu zerstören. Nur wenige „graue“ Bienen scheinen danach überlebt zu haben.

So handelt auch Sergewitsch schließlich irrational. Die Angst vor einer Manipulation der Bienen führt ihn zu dieser Tat, bevor er wieder zu Hause eintrifft. Das Graue steht hier für etwas Diffuses, das eher Schaden als Nutzen anrichtet. Der Alptraum hat auch Konsequenzen auf die erzählte Wirklichkeit: Die eigenen grauen Nutztiere genießen keinen Schutz vor Gewalteinwirkung mehr.

Ralph Dutli schreibt: „Es gibt eine Nachtseite des Bienenwesens, Geschichten um Tod und Vernichtung“. Diesem Gedanken folgt der Roman, da er ja auch Ein- und Auswirkungen des damals schwelenden Krieges in der Ostukraine mit dem Schicksal von Tieren verknüpft. Diese Nachtseite ist bei Andrej Kurkow auch dem Verhalten von Menschen eigen, selbst vom harmlosen Bienenzüchter und Frührentner Sergej Sergejitsch.

Der Roman lässt sich bei Diogenes bestellen (auch als E-Book). Das lange Zitat steht auf Seite 164. Die übrigen Zitate sind den Seiten 228, 262, 276, 372, 412, 429 und 441 entnommen (in der Reihenfolge ihres Auftretens im Roman). Die beiden Zitate in Ralph Dutlis Kulturgeschichte stehen auf den Seiten 18 und 133.

Bildschirm-Text: Jean-Philippe Toussaints „Fernsehen“

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Die meisten Erwachsenen unter uns, die vor oder um das Jahr 2000 herum das Teenager-Alter erreicht oder hinter sich gelassen haben, können nicht nur über besondere Lebensmomente erzählen, sondern auch besondere Fernsehmomente einbringen. Diese Momente sind zugleich Bestandteile einer Fernsehgeschichte aus Nutzersicht.

Ein Roman, der literarisch Fernsehen als Phänomen beleuchtet, heißt La télévision (deutscher Titel: Fernsehen).  Jean-Philippe Toussaint hat ihn 1997 veröffentlicht, bevor das Internet im großen Stil in Privathaushalten Einzug hielt und Flachbildschirme Standard wurden. Es war die Hoch-Zeit des linearen Fernsehens. Würde man eine Fernsehgeschichte aus der Perspektive der Literatur schreiben, käme man an diesem Text nicht vorbei.

Im Roman setzt der Erzähler in unterschiedlichen, nicht immer kongruenten Erzählhaltungen mehrere Brillen auf; sein kunsthistorischer Forschungsaufenthalt in Berlin wirkt nicht streng durchorganisiert, wohingegen die Betrachtungen rund ums Fernsehen neben anderen Inhalten vergleichsweise viel Raum in der Erzählung erhalten. Die sprunghafte Erzählfreude zeigt zugleich auch ein großes Talent, kleinste Ereignisse wie mit einer Lupe narrativ zu vergrößern. Das Langsam-Meditative erhält einen hohen Stellenwert.

Natalie Potok-Saaris, Forscherin an der  Harvard University, schreibt 2014 treffend:

La télévision” emphazises the slow, meditative aspects of narrative, stressing the very qualities that make literature distinct amid a background of fast-paced and fragmented information.

Im Zeitalter mobiler Endgeräte würde man vieles ähnlich formulieren, wobei die Abhängigkeit von Bildschirmen noch viel stärker ist, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Auf jeden Fall steigerte sich das Fragmentarische und das Temporeiche im Informationsfluss des Fernsehzeitalters spätestens mit dem Aufkommen des Privatfernsehens Anfang der 1980er Jahre.

Der Erzähler hat bei Toussaint mitunter einen wissenschaftlichen Anspruch, wenn es heißt:

La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoiqu’elle en ait toutes les apparences (en plus petit, dirais-je, je ne sais pas si vous avez déjà regardé la télévision), mais de sa représentation.

Ihm geht es darum, zu skizzieren, dass wir es mit einem „Schauspiel“ zu tun haben, und zwar „nicht der Realität, (…) sondern ihrer Darstellung“.  Der in Klammern gesetzte Einschub ist quasi ein Augenzwinkern, denn das Fernsehen gebe sich nun mal so aus, als ob es die Realität im „Mini-Format“ zeige. Ich stelle mir den Erzähler in einem Vortrag vor, der schon hier versucht, das Publikum mit rhetorischen Kniffen auf seine Seite zu ziehen.

Nachfolgend setzt der Erzähler die Fernsehkonsumenten-Brille auf:

Une des caractéristiques de la télévision, en effet, quand on ne la regarde pas, est de nous faire croire que quelque chose pourrait se passer si on l’allumait, que quelque chose pourrait arriver de plus fort et de plus inattendu que ce qui nous arrive d’ordinaire dans la vie.

Hier entlarvt er etwas, was der Handykonsum inzwischen mehr als bestätigt hat: Viele Nutzer schalten das Gerät öfter als gewöhnlich ein, weil wir nichts Wichtiges verpassen wollen – sei es eine wichtige Nachricht auf dem Handy oder früher eine Fernsehsendung, die als Fernsehereignis betrachtet werden kann.  Früher war beispielsweise Wetten, dass…? ein Fernsehereignis par excellence, von dem man noch Tage später mitunter mehr sprach als von einem realen Ausflug.  Paradox ist nur, dass wir heute dank der Mediatheken eigentlich nichts mehr verpassen können – und doch öfter aufs Smartphone schauen als ins Fernsehen. Der Glaube, dass etwas Besonderes im Fernsehen passiert, bestätigt sich oft nicht, doch allein die Möglichkeit, dass Fernsehen interessantere Bilder „produziert“ als wir körperlich-sinnlich einfangen können, rechtfertigt gerade beim Zappen den Griff zur Fernbedienung. Dabei steht fest: Die meisten Fernsehbilder sind eben nicht ereignishaft, sondern eher banal!

Heiter bis burlesk wird es, wenn der Erzähler wissenschaftlich-präzise und zugleich konsumkritisch, über eine Putzaktion des Fernsehbildschirms schreibt (fett markierte Ausdrucke werden auf Deutsch erwähnt):

Enfin, comme je m’apprêtais à quitter ma pièce avec mon pulvérisateur et ma bassine sous le bras, je jetai un coup d’œil sur le téleviseur et, remarquant qu’il était très poussiéreux lui aussi, je lui balançai distraitement une petite giclée de pulvérisateur, qui alla s’écraser en haut de l’écran en un petit amas de mousse blanchâtre effervescente, puis, pris d’un léger vertige où se mêlait sans doute le simple plaisir enfantin de continuer de tirer à une jouissance plus subtile, symbolique et intellectuelle, liée à la nature de l’objet que j’avais pris pour cible, je ne m’arrêtai plus et je vidai presque tout ce qui restait de produit dans le réservoir du pulvérisateur, continuant à tirer à bout pourtant sur le téléviseur, appuyant sur la détente et relâchant mon doigt, appuyant et relâchant, de plus en plus vite, partout, au hasard de l’écran, jusqu’à ce que toute sa surface fût recouverte d’une sorte de couche liquide mousseuse en mouvement qui commenca à glisser lentement vers le bas en filets réguliers de crasse et de poussière melêes, en lentes coulées onctueuses qui semblaient suinter de l’appareil comme des résidus d’émissions et de vieux programmes fondus et liquéfiés qui descendaient en vagues le long du verre, certaines, rapides, qui filaient d’un seul trait, tandis que d’autres, lentes et lourdes, arrivées au bas de l’écran, rebondissait et dégouttaient par terre, comme de la merde, ou comme du sang.  

Was für ein sprachlicher Aufwand, das Saubermachen in solch einen Monstersatz zu packen! Dieser Satz wird mir als Schilderung eines Mikro-Ereignisses im Gedächtnis bleiben, strukturell und inhaltlich. Der Erzähler bemerkt sein „kindliches Vergnügen am Schießen“ zusammen mit einem „subtileren, symbolischen und intellektuellen Genuss“: Das Fernsehen wird im wahrsten Sinne des Wortes zur „Zielscheibe“ für einen „Spritzer“ Spülmittel, wobei der „Hahn“ die „Patrone“ einer geladenen „Sprühpistole“ entleert.  Die „regelmäßigen Schlieren aus Fett und Staub“, die „in cremigen Strömen“ nach unten fließen, werden als „flüssig gewordene Reste von Sendungen, vermischt mit alten Programmen, die in Wellen den Schirm herunterrannen“, in eine äußerst treffsichere Analogie buchstäblich gegossen.  Das Abspülen oder auch Wegspülen kommt einem Entledigen gleich, parallel dazu wird Text produziert, der in seiner Fülle zu einem literarischen Ereignis wird. Denn in keinem anderen Medium ließe sich das Geschilderte so genüsslich synthetisieren wie im Roman.  Abstrakte Fernsehinhalte werden wie „Scheiße“ oder „Blut“ konkret weggewischt. Statt konventioneller Fernsehunterhaltung ist hier außergewöhnliche Romanunterhaltung am Werke!

Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Bernd Schwibs. Die deutsche Version lässt sich auch als E-Book-Version bei der Frankfurter Verlagsanstalt bestellen. Dort stehen die übersetzten Passagen auf den Seiten 5f, 33 und 36.Die französischen Zitate sind der Ausgabe des Verlags Editions de Minuit (2006) auf den Seiten 12, 94f und 100 entnommen. Der zitierte Aufsatz von Natalie Potok-Saaris ist 2014 in der Zeitschrift Paroles Gelées (Band 28, Nr.1; Zitat: S.46) erschienen.

Kokusnuss-Kokolores? – Über ein Gedanken-„Imperium“

Am Abend des 15.01.23, im ruhig dahingleitenden ICE von Berlin nach Leipzig, begann ich den Lektüre-Endspurt von Christian Krachts vor gut zehn Jahren erschienenem Roman Imperium. Auf der anderen Seite des Gangs saßen zwei junge Damen, deren schweres Gepäck unter anderem ein Kamerastativ umfasste. Viel imponierender für mich waren bloße zwei Wörter, die ich aufschnappte, als kurz die Rede von einem Freund war, der sich auf Martinique in einer „Kajüte“ in der Nähe eines „Vulkans“ aufhalte. Mehr konnte und wollte ich nicht in Erfahrung bringen; mir reichten diese Wortschnipsel für meine Lektüre, die sogleich surreal wirkte, denn in jenem gerade begonnenen elften Kapitel ist tatsächlich die Rede von einem „rauchenden Kegel des Vulkans“ und von einer „Kapitänskajüte“. In Leipzig Hauptbahnhof zeigte ich den kurz als Beleg für diese unglaubliche Koinzidenz das Buchcover vor, bevor ich mich schnellen Schrittes vom Bahnsteig entfernte. Ich bereue fast, dass ich nicht eins, zwei Minuten länger die eine oder andere Frage zum Südsee-Abenteuer stellte, doch ein S-Bahn-Anschluss wollte und sollte erreicht werden.

Nun, Imperium ist umfangreich rezensiert worden – eine weitere Besprechung wäre hier unangebracht. Was mich erstaunte, ist die Tatsache, dass ich den Roman zunächst ohne Quellenrecherche gelesen habe und ich bis Schluss dachte, die geschilderten Sachverhalte seien von Christian Kracht erfunden worden. So ließ ich mich durch einen fiktionalen Text unbewusst auf historisches Verbürgtes ein. Die Biografie von August Engelhardt (1875 – 1919) ist etwa ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts im doppelten Sinne abwegig. Ab 1902 siedelte er auf einer Insel namens Kabakon, die zum heutigen Papua-Neuguinea gehört und noch nicht einmal einen Quadratkilometer groß ist.

Für mich lehrreich ist bei aller Absurdität des Lebensreformskonzepts der Hauptfigur August Engelhardt, der mit seinem allen Ernstes erdachten Kokovorismus elend auf der Südseeinsel Kabakon Schiffbruch erlitt und dort kurz nach Ende des ersten Weltkrieges verstarb, die Kraft der Symbolik. Im Roman wird diese Kraft auf die Spitze getrieben und verpufft, doch ist das Symbol der Kokosnuss im Hinduismus präsent, wie man in einem religionswissenschaftlichen Blog nachlesen kann. Während die Schale das Körperliche beschreibt, steht das Fruchtfleisch für unser Fühlen, Denken und Handeln, „für das Anhaften an der illusorischen Wirklichkeit“.  So lassen sich abstrakte Zusammenhänge in etwas Fassbares transportieren, analog zu einem Granatapfel, dessen Frucht in der jüdisch-christlichen Tradition Fruchtbarkeit symbolisiert.

Der Roman – der Titel spielt darauf an – entlarvt imperiales Gedankengut, in dem Allmachtsphantasien nicht unmittelbar in einen politischen Kontext gestellt werden. Auch auf die heutige Zeit könnte folgende Kostprobe anspielen:

Engelhardt war, nachdem er durch einen Eliminierungsprozess alle anderen Nahrungsmittel für unrein befunden hatte, unvermittelt auf die Frucht der Kokospalme gestoßen. Es gab gar keine andere Möglichkeit; cocos nucifera war, so hatte Engelhardt für sich erkannt, die sprichwörtliche Krone der Schöpfung, sie war die Frucht des Weltenbaumes Yggdrasil. Sie wuchs an höchster Stelle der Palme, der Sonne und dem lichten Herrgott zugewandt; sie schenkte uns Wasser, Milch, Kokosfett und nahrhaftes Fruchtfleisch; sie lieferte, einzigartig in der Natur, dem Menschen das Element Selen, aus ihren Fasern wob man Matten, Dächer und Seile, aus ihrem Stamm baute man Möbel und ganze Häuser; aus ihrem Kern produzierte man Öl, um die Dunkelheit zu vertreiben und die Haut zu salben; selbst die ausgehöhlte, leere Nussschale lieferte noch ein ausgezeichnetes Gefäß, aus dem man Schalen, Löffel, Krüge, ja sogar Knöpfe herstellen konnte; die Verbrennung der leeren Schale war nicht nur jener herkömmlichen Brennholzes bei weitem überlegen, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel, um kraft ihres Rauches Mücken und Fliegen fernzuhalten, kurz, die Kokosnuss war vollkommen. Wer sich ausschließlich von ihr ernährte, würde gottgleich, würde unsterblich werden. August Engelhardts sehnlichster Wunsch, ja seine Bestimmung war es, eine Kolonie der Kokovoren zu erschaffen, als Prophet sah er sich und als Missionar zugleich.

Es fällt nicht schwer, hier die Kokosnuss als universales Produkt angepriesen zu sehen, auf dem kommerzielle Interessen beruhen. Halbwahres  (Stichwort: Selen als nicht nur in Nüssen vorhandenes  Spurenelement)  wird mit pseudoreligiösem Popanz und germanischen Sagenwelten (Stichwort: Yggdrasil) kombiniert und dabei Exklusivität als Heilsbringer mit Hilfe von konsumistischer Werbesprache ad absurdum geführt.  Bitterböse wird hier auch auf zeitgenössische Geschäfts- und Lebenspraktiken – Stichwort ‚Allheilmittel’ geschaut. 

Das Ende von meiner Lektüre-Geschichte ist – die Ironie muss sein – auch mir als Konsumenten anheimgestellt. Am Abend des 02.02.23 griff ich beim Einkaufen ungeplant zu einem Produkt, dass „Kokosblütenzucker“ enthält – und kaufte es. Als ob sich da noch eine Spur von August Engelhardt darin verloren hätte….

Exemplarisch folgen hier die Rezensionen im Politik-Magazin Cicero, in der (leider 2020 eingestellte) Zeitschrift Der literarische Monat sowie in der Neuen Zürcher Zeitung. Auch ein Blog, der sich zentral mit der der Kokosnuss befasst, besprach den Roman genauso wie das einschlägige Forum literaturkritik.de.  Die handliche Fischer-Taschenbuch-Ausgabe kann u.a. bei Weltbild bestellt werden. Das lange Zitat befindet sich dort auf den Seite 21 und 22.  Einige Fotos und Dokumente aus der Südsee hat Der Spiegel zur Verfügung gestellt.

Sprachliche Eskapaden: Über einige Werbebotschaften der Berliner Verkehrsbetriebe

Wenn man einen Deutschkurs mit der etwas sperrigen Bezeichnung „Marketing unter interlingualem Aspekt“ unterrichtet, dann sollten sprachliche Finessen unter die Lupe genommen werden. Im Dezember 2022 beschäftigte ich mich im Kurs mit dem Auftritt der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in den Sozialen Medien. Mir waren schon vorher Plakate an Berliner Haltestellen aufgefallen, die großen Wert auf das Spiel mit der Sprache legen. Und eine längere Recherche auf Instagram bestätigte dies. Besonders ausführlich kam folgendes Plakat zur Geltung, das angeblich ein ungestelltes Foto aus dem Jahr 2013 enthielt. Es kursierte danach auch im Internet (spätestens seit Januar 2015 auf einem tumblr-Fotoblog zu Berlin) und wurde am 18.01.2016 von der BVG auf Facebook mit dem Kommentar „Schon wieder Fashion Week. Da tragen wir doch einfach noch mal die alten Plakate auf.“ hochgeladen:

BVG-Plakat
Plakat der BVG am U-Bahnhof Hermannplatz, fotografiert um 2015

Das Plakat setzt geschickt Bild und Text aus dem realen Leben in Szene und regt zum Schmunzeln an, da der ungewöhnliche Ausdruck „den Stil hochfahren“ auf einen wohl älteren Herren trifft, der zum einen wortwörtlich eine Rolltreppe in einer Berliner U-Bahnstation der U1 (vermutlich Nollendorfplatz) hochfährt und – ästhetisch gesehen – als ungewollte Werbe-Figur herhält. Seine sommerliche Kleidung vermittelt einen casual look, der ins Auge sticht. Wer sich für Mode interessiert, wird das Stechen aufgrund des ausgereizten Karo- Formspektrums von Hemd und Shorts zusammen mit den weißen Strümpfen unangenehmer und intensiver empfinden als jemand, der auf praktische Freizeitkleidung steht. Insofern könnte man gut das „Hochfahren“ als Vorschlag deuten, die Fashion Week zum Anlass für etwas stylishere, höherwertigere Kleidung zu nehmen, die sich auch für höhere Anlässe eignen. Auf jeden Fall wird hier ein kommunikativer Zusammenhang zwischen einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Fahrgast und einer Veranstaltung hergestellt, denn natürlich ist es denkbar (wenngleich nicht gerade wahrscheinlich), dass die abgebildete Person die halbjährlich stattfindende Fashion Week besuchen möchte. In diesem Kontext ließe sich auch der augenscheinliche Fahrgast in ein positives Licht rücken, denn er nutzt die öffentlichen Verkehrsmittel  in einem lässigen, luftigen Look – und die Verbindung zur Fashion Show evoziert einen aktiven „Lifestyle“. Dieser wohlwollende Ansatz stammt von mehreren Studenten aus meinem Marketing-Seminar aus China / Taiwan, von denen einer seine Gedanken auch schriftlich festhielt. Ich zitiere:

Die ersten Gedanken, wenn man an den Begriff „Fashion“ denkt, sind für viele Menschen Bekleidung und damit in Verbindung die jüngere Generation. Fashion befasst sich jedoch nicht nur mit Bekleidung, sondern auch mit einem Lebensgefühl und -stil, dem sogenannten Lifestyle. Sich wieder jung und modisch zu fühlen, bedeutet nicht, dass man sich sehr schick oder trendbewusst anziehen muss. Die ältere Generation hat ebenfalls die Möglichkeit an diesem Trend teilzunehmen und sich wieder jung zu fühlen, indem sie wie früher mit der Bahn fährt.

Diese Deutung ist sicher ebenfalls im Sinne der BVG und auch des Veranstalters der Fashion Show – Stichwort Zielgruppenerweiterung. Darauf komme ich noch einmal zurück.

Spielerisch-ironisch ist auch ein Instagram-Post vom 13.10.2022 anlässlich eines Backstreet-Boys-Konzerts gemeint, bei dem man ja auch von einer Show sprechen kann. Die BVG kommentiert ihn folgendermaßen: „Für alle, die es nicht kennen: Das sind die Elevator Boys der 90er.”

BVG - Backstreet Boys
Instagram-Post der BVG am 13.10.2022 anlässlich des Backstreet-Boys-Konzerts in Berlin

So mancher Boygroup-Fan könnte hier sicher die Rolle des Telefonjokers übernehmen, der alle Songtitel korrekt nennen kann. Bis auf den letzten Titel hatte ich alle parat – natürlich kein großes Kunststück, wenn man die 90er Jahre als Teenager erlebt hat (und ich bislang die Elevator Boys überhaupt nicht kannte). Da ich oft mit der U5 fahre, ist natürlich für mich die Verballhornung des Titels Larger than life großartig, wenn man bei englischer Aussprache sich einen Reim aus „life” und „U5” macht! Die deutsche Übersetzung von „get down” ist in Verbindung „You’re the one for me” im Original bzw. „the Maskenpflicht’s still around” überhaupt nicht trivial: dank von Nachschlagehilfen fände ich die Übersetzung „Merke Dir!” nicht schlecht (im Original-Refrain heißt es „and move it all around”). Diese Bedeutung war mir zuvor unbekannt.

Ein weiterer, sehr auffälliger Instagram-Post, ebenfalls aus dem Oktober 2022, wirbt mit dem 29-Euro-Ticket, indem es ganz auf Jugendsprache setzt:

Jugendsprache bei der BVG
Instagram-Post der BVG am 25.10.2022 zur Einführung des 29-Euro-Tickets

Ich gebe zu, dass ich hier ohne weitere Informationen chancenlos wäre und delegiere eine gute Übersetzung dem kreativen Leser, der auch mehr mit gommemode (super stark) bzw. flexen (mit seinem Verhalten angeben) und smashen (eine intime Beziehung eingehen) etwas anzufangen weiß. Nun kann keiner sich mehr darüber beklagen, dass gewisse sprachliche Register nicht bedient würden. Aus dem BVG-Kommentar wird diese sprachliche Stilblüte bewusst ironisch verzerrt: „Unser Arbeitskreis BVG 30+ präsentiert seine neueste Arbeit zum Thema ‚Tagesaktuelle Zielgruppen-erweiterungsmaßnahmen’”. 30+? Die (An-)Sprache soll für die gedacht sein, die noch die 1990er Jahre erlebt haben??

Kompliment an die Kreativität der Werbetreibenden, die hier Plakatkunst in die virtuelle Welt verlagern. Hierfür brauchen wir in Zukunft keine Museen, wohl aber gut gesicherte digitale Archive, damit wir noch 2030 und später wissen, dass 2022 smashen (Smash ist das Jugendwort des Jahres 2022!) und cringe (peinlich) als Jugendwort 2021 salonfähig geworden sind!

Die BVG-Imagekampagne Weil wir Dich lieben wurde von der Agentur GUD.berlin GmbH entwickelt und läuft seit 2015. Sie ist ein gutes Beispiel für das sogenannte Content Marketing.

Film-Fotografie: Sinnschärfende Bilder im Film “Tagundnachtgleiche” (2020)

Es wäre eine typische Einstiegsfrage in einem medienwissenschaftlichen Seminar: Wo liegen die Unterschiede zwischen Filmografie und Fotografie? Dass sich die Frage lohnen könnte, merkt man daran, dass im Abspann das lapidare Wort ‚Kamera’ im Englischen durch ‚Director of Photography’ wiedergegeben wird.

Der Debütfilm Tagundnachtgleiche von Lena Knauss besticht nicht zuletzt durch Kamerabilder, die Licht und Dunkel in ein wundersames Mischverhältnis bannen. So ist es passend, dass im Abspann der Begriff „Bildgestaltung“ (Eva Katharina Bühler ) verwendet wird.  Der Titel ist bereits ein Verweis auf die „sinnlich-poetische Atmosphäre, die sich in der Visualität spiegelt“, um Worte von Knauss zu ihrem Film wiederaufzunehmen.  Die Geschichte des kontaktscheuen Alexander (Thomas Niehaus), der sich hemmungslos in die  Variété-Künstlerin Paula Clarin (Aenne Schwarz) verliebt, bevor sie mysteriös aus dem Leben scheidet, ohne dass er sie näher kennenlernen konnte, nimmt erst durch Paulas Schwester Marlene (Sarah Hostettler) Gestalt an. Die Liebe kann sich erst dank Marlenes Einfühlungsgabe in ihrer Rolle als Radiomoderatorin vollends entfalten. Während Paula den Augen der Regisseurin als „Projektionsfläche“ dient,  ist ihre Schwester als Radiomoderatorin trotz ihrer Unsichtbarkeit Alexanders Lebenswirklichkeit viel näher. Das liegt auch daran, dass Alexander ein großer Liebhaber klassischer Musik ist.

Ein Dialog bleibt dabei besonders in Erinnerung, als Marlene Alexander ihren Arbeitsplatz im Funkhaus zeigt:

[Alexander:] Hier kommt das alles her, was ich jeden Tag höre. Das ist schon irgendwie ein kleines Wunder. Du setzt dich hin, und wenn man will, kann man nun überall da draußen deine Stimme hören.

[Marlene:] Ich liebe das. Alles wird verschluckt. Als gäbe es da draußen die Welt gar nicht – nur noch das Hier und Jetzt. Für die da draußen bin ich unsichtbar: Keiner sieht mich – trotzdem bin ich da!

Eigentlich ist Marlenes Stimme zusammen mit den angekündigten Musikstücken – darunter Ohrwürmer wie die Vocalise von Sergej Rachmaninoff in einer Version für gemischten Chor mit heller Solo-Stimme – der Impuls für eine Annäherung Alexanders. In einem Kammerkonzert hören die beiden live die 1. Gnossienne von Erik Satie in einer Version für Klavier und Cello, wobei Alexander sich noch immer Paula an seiner Seite vorstellt (im Film sehen wir abwechselnd die beiden Schwestern neben ihm).

Zwei Film-Bilder zeigen die präzise Beleuchtung des Films. Ganz zu Anfang sehen wir Alexanders Arbeitsplatz  – seine Fahrradwerkstatt neben einem Café – mit dessen Besitzerin er hin- und wieder anbandelt:

Filmszene aus "Tagundnachtgleiche"
Alexanders Lebenswelt: Fahrradwerkstatt & Café; Tagundnachtgleiche, Regie: Lena Knauss, Tamtam Film (2020), 1’26”

In wenigen Sekunden wird das opake Nebeneinander von Arbeit und Unterhaltung in Hell und Dunkel gehüllt. Das bewegte Bild zoomt in Alexanders Werkstatt hinein, so dass der Zuschauer in die Lebenswelt von Alexander eintaucht.

Die andere Einstellung zeigt, wie Alexander auf den Fersen von Paula ist. Er verfolgt sie bis zu ihrem Arbeitsplatz, dem Variété Tagundnachtgleiche:

Nachtszene in "Tagundnachtgleiche"
Alexander folgt Paula zu ihrem Arbeitsplatz; Tagundnachtgleiche, Regie: Lena Knauss, Tamtam Film (2020), 10’36”

Auch hier sind es wenige Sekunden, in denen die Einstellung unvergesslich wird. Gerade die wenigen hellen Stellen  rund um die Theaterkasse haben zusammen mit dem leuchtend weißen, vertikal angeordneten Schriftzug „Tagundnachtgleiche“ etwas Traum-haftes. Hier spiegelt sich Kunst auch in der Kunst, da hier offensichtlich das Eingangstor zu einem Variété-Theater im Film als Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum ein besonderes Gewicht erhält.

Auch im weiteren Verlauf des Films gibt es viele buchstäblich traumhafte Einstellungen. Da auch Liebe etwas Unerklärliches ist, bleibt die Beziehung zwischen Alexander und Marlen in der Schwebe. Der Hör- und Sehgenuss hält bis zum Abspann vor – allein dies ist Grund genug, den Film in einer schwärmerischen Einstellung anzuschauen; gerade dann ist es nicht mehr weit, von diesem Film zu schwärmen!

Die Zitate sind im Film an Position 46‘49‘‘ bzw. an 47‘24‘‘ zu hören. Das Interview mit Lena Knauss ist hier nachzuhören (Zitate folgen an Position 1’37” bzw. an Position 2’23”). Bis Ende Februar 2023 ist der Film in der ard-Mediathek verfügbar. Die DVD kann zum Beispiel bei Weltbild bestellt werden.

Liefer-Biene: Zum Mopedauto im Film “Sommer auf drei Rädern”

Möchte ein Regisseur in seinem Film gewisse Entwicklungsprozesse im Raum-Zeit-Kontinuum anschaulich machen, so scheint dafür eine Kombination aus Roadmovie und Coming-of-Age-Film geeignet. Ein wunderbares Beispiel dafür ist Sommer auf drei Rädern von Marc Schlegel, der vom SWR in Auftrag gegeben wurde. Einen genaueren Blick lohnt hier die Auswahl des Vehikels, das aufgrund seiner drei Räder auffällig ist. 

Drei mit unterschiedlichen Schicksalen konfrontierte Jugendliche fahren mit einem „Mopedauto“  mit drei Rädern auf zwei Achsen von Stuttgart in Richtung Bregenz am Bodensee. Vorgestellt wird sie im Film wie folgt: „Piaggio Ape Tm 703, Baujahr 1986, keine Airbags, kein ABS, dafür eine Ladefläche für extra viele Warmehalteboxen und sportliche 11 PS“.  Ape heißt zu deutsch Biene und kommt wie die weltberühmte Vespa (Wespe) aus dem Hause Piaggio. Die Biene wird wie die Vespa in verschiedenen Ausführungen seit den 1950er Jahren hergestellt. Wenn das keine Erfolgsgeschichte ist! Sie ist wohl einer der kleinste Kleintransporter und wird vor allem im Innenstadtbereich genutzt. Als Nutzfahrzeug ist sie den meisten vertraut, ohne wirklich Kult zu sein. In der Automobilstadt Zwickau nutzt das Fahrzeug ein Buchhändler, um seine Ware auszuliefern;  dank seiner Wendigkeit wurde es sogar im Sommer 2022 während der Aufführung der Oper L’elisir d’amore (Der Liebestrank) von Gaetano Dozinetti auf die Open-Air-Bühne in Plauen gefahren und diente dem Scharlatan Dulcamara als fahrbarer Untersatz.

Die drei folgenden Standbilder zeigen, wie wunderbar die Ape die Handlung in einem sehr gut fotografierten Roadmovie mitbestimmt:

Sommer auf drei Rädern - Halt an der Pizzeria
Nach dem kurzen Halt an einer Trattoria geht das Reiseabenteuer los –
Sommer auf drei Rädern, Regie: Marc Schlegel, Giganten Film, 2021, 28’19”.
Sommer auf drei Rädern - Abenteuer
An einer Weggabelung geht der Sprit aus; Zeit für ein neues Abenteuer –
Sommer auf drei Rädern, Regie: Marc Schlegel, Giganten Film, 2021, 30’12”.
Sommer auf drei Rädern - Abenteuer
Die Ape hat sich im Matsch festgefahren; und wieder gibt es ein Abenteuer – Sommer auf drei Rädern, Regie: Marc Schlegel, Giganten Film, 2021, 45’1”.

Eine Ape ist kein Fahrzeug, mit dem man glänzen kann. Es passt zu den drei Hauptcharakteren Flake, Kim und Philipp, die allesamt am Rande der Gesellschaft stehen. Die Selbstvorstellung der zentralen Hauptfigur ganz zu Beginn des Films haut sprichwörtlich rein:

Ich bin Flake. Was Flake für ein Name sein soll? Meine Eltern haben sich Ende der 90er Jahre auf einem Metalfestival kennengelernt und dachten, es wäre eine niedliche Idee, ihr erstes und einziges Kind nach dem stotternden Keyboarder einer Rockband zu benennen. Doch es war nicht nur der Name, der mich zum Außenseiter gemacht hat.

Flake ist ganz hin und weg von Leonie, die nach einem längeren Auslandsaufenthalt in seine Klasse kommt. Als Sitznachbarn tragen sie gemeinsam Referate vor; doch hat sowohl sie als auch Kim bereits einen Freund.  Flake opfert sich für Leonie auf:  Er kommt mit ihr auf der Abi-Party in Berührung mit Rauschgift, sie sitzt danach am Steuer, und Flake nimmt den Crash nach der Flucht bei einer Verkehrskontrolle auf seine Kappe, so dass Leonie unbehelligt bleibt. Beim kommunalen Lieferdienst „Essen auf Rädern“, wo er Sozialstunden ableisten muss, begegnet er Kim, die aufgrund von illegalem Drogenbesitz ebenfalls dazu verdonnert worden ist. Leonie macht derweil Urlaub mit ihrem Freund am Bodensee.

Den beiden wird vom Lieferdienst jenes Vehikel zu Verfügung gestellt. Es bietet eine doppelte Perspektive:  Da nur der Deal mit einem in Bregenz in einem teuren Hotel wohnhaften Koks-„Kunden“ ermöglichen kann, fällige Drogen-Rechnungen bezahlen zu können, nutzt Kim zusammen mit Flake ein Wochenende, um sich mit dem Mopedauto nach Süden zu begeben. Der führerscheinlose Flake, der üben möchte, wie er am besten zu Leonie Kontakt aufnimmt, soll als „Schlemihl“ für die Drogenübergabe eingespannt werden.  Der dritte im Bunde, Philipp, an den Rollstuhl gefesselt und in der Einrichtung wohnhaft, in der Flake ihn mit dem falschen Essen versorgt, kommt auf der Ape-Ladefläche mit auf die Reise, weil er aus seinem monotonen Betreuten-Wohnen-Status ausbrechen will. Er sorgt durch seine Kaltschnäuzigkeit für die eine oder andere zusätzliche Handlungsdynamik.

Das  mehrdeutige jiddische Wort „Schlemihl“ hat eine größere kulturhistorische Bedeutung und bedeutet allgemein „Pechvogel“, kann aber auch als „Schlitzohr“ bzw. Narr durchgehen. Im Film wird der Begriff von Kims Freund als „jemand Unauffälliges“, als „jemand, der die Übergabe macht , ohne zu wissen, dass da Drogen transportiert werden“ erklärt. Das Unauffällige macht ihn einerseits zum Opfer, aber andererseits auch zum Täter. Jakob Schmidt brilliert in dieser komplexen Rolle, in der er Schüchternheit mit einem gewissen Biss im richtigen Augenblick sehr gut kombiniert.  Dieser Plan der Schlemihl- Rolle zerschlägt sich zwar, doch die Übergabe gelingt, kurz vor der Verhaftung des nun im Drogenbesitz befindlichen Kunden und einem durchgeknallten Kaninchenzüchter, der schon während der Fahrt dem Trio das Leben schwer machte und von dem Koks-Deal Wind bekam. Just Flake kann dem Kunden im richtigen Augenblick das Geld abknöpfen, während die Polizei schon auf der Lauer ist.

Während des Roadmovies kommen sich Kim und Flake näher: Sie erkennen ihre Zuneigung zueinander, und Flake begreift, dass die Zuneigung für Leonie nur eine Schimäre ist. Das teilt er ihr auch ehrlich am Bodensee mit, so dass auch für ihn die Reise wertvoll ist. Nun ist der Weg frei für eine authentische Liebesbeziehung durch dick und dünn – das Außenseitertum hat ein Ende; der Weg raus aus dem Drogenmilieu ist geschafft. So gesehen hat das Mopedauto buchstäblich über Umwege zur Entwicklung der jungen Menschen beigetragen.

Der Film ist bis einschließlich 1. November in der Arte-Mediathek zugänglich; danach lohnt sich zumindest, den Trailer anzuschauen. Falls er Interesse wecken sollte, kann man nur dem Tag entgegenfiebern, an dem er bei einem Streaming-Anbieter oder auf DVD / Blue-Ray verfügbar sein wird. Das längere Zitat kommt bereits nach 46 Filmsekunden.

Gestochen scharf: Über ein besonderes Guckkastenbild, das einen vom Sockel haut

Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, so sind doch gewisse überlieferte Ereignisse rund um das Thema Erinnerungspolitik wieder brandaktuell:  Als Ende August 2022 in Riga ein Obelisk aus Sowjetzeiten geschleift wurde, weil er den Totalitarismus verherrlichte, musste ich an ein besonderes Guckkastenbild denken. Es wurde bis zum 11.September 2022 in einer feinen Ausstellung mit dem einprägsamen Titel „Die Welt im Kasten“ im Chemnitzer Schlossbergmuseum gezeigt. Bereits 2021 waren mehrere Guckkastenbilder aus der hauseigenen Sammlung im nahen SMAC (Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz) ausgestellt, als es um das Thema Stadt ging. In einem kurzen Video, das Teil des digital verfügbaren Ausstellungsdossiers ist, skizziert Kuratorin Katja Manz die Geschichte von Guckkastenbildern, die vom 17. – 19. Jahrhundert einen Blick in die Welt ermöglichten, spätestens im 18. Jahrhundert auch für die breite Masse.

Im Schlossbergmuseum ist auch Forschung präsent: Die Bachelor-Arbeit von Susanne Görnert, 2019 an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig unter dem Titel Die Guckkastenblattsammlung des Schlossberg-museums Chemnitz. Datierungsvorschläge und Vorlagenforschung vorgelegt, ist eine wichtige Quelle angesichts vieler noch offener Fragen. Aus der Arbeit erfahre ich, dass der Herausgeber der Guckkastenbilder, die Académie Impériale, von 1770 bis 1790 etwa 500 Exemplare als Kupferstiche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Anders als ein Fotograf ist ein Kupferstecher selten leibhaftig vor Ort; vielmehr muss er aus Beschreibungen und Erzählungen sein Werk schaffen.  Das hier thematisierte Guckkastenbild mit dem Titel „La Destruction de la Statue royale à Nouvelle Yorck“ (deutsch: Die Zerstörung der Königlichen Bild Säule zu Neu Yorck) wurde von Franz Xaver Habermann (1721 – 1796) in Augsburg gestochen, wo auch der Herausgeber ansässig war:

Guckkastenbild von Habermann
Franz Xaver Habermann: Die Zerstörung der Königlichen Bild Säule zu Neu Yorck, um 1780 (Online-Quelle: Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz: www.stadt-im-smac.de)

Zu diesem Guckkastenbild schreibt Görnert auf Seite 49 ihrer Bachelorarbeit:

Die Ansicht New Yorks bezieht sich auf das historische Ereignis des Reiterstandbildes König Georg III. am 9. Juli 1776 im Bowling Green Park. Habermann nutzte hierfür als Vorlage den Kupferstich eines unbekannten französischen Stechers, welcher diesen wenige Monate nach dem Ereignis herausbrachte.  Der Franzose schien New York nicht zu kennen. Statt dem 1760 erbauten Reiterstandbild König Georg III. ist eine Statue abgebildet. Auch die Stadtarchitektur erinnert eher an Paris als an die typisch koloniale Bauweise der amerikanischen Großstadt. Ebenso entspricht die revoltierende Menschenmenge welche aus Turban tragenden, dunkelhäutigen Männern besteht nicht der damals in New York lebenden Bevölkerung.

Welche Aussage sollte mit diesem Guckkastenbild transportiert werden? Immerhin ist das Motiv alles andere als malerisch. Die Zerstörung eines Vertreters aus der europäischen Monarchie ist doch starker Tobak, gerade für eine „Académie“, die das Kaiserliche in ihrem Namen führt. Doch Vorsicht:  Augsburg war damals (bis 1805) Freie Reichsstadt und genoss mehr künstlerische Freiheit als manch andere Stadt.

Georg III. (1738-1820) stammte aus dem Haus Hannover; seine Mutter war Augusta von Sachsen-Gotha-Altenburg. In seine fast 60 Jahre lange Regentschaft fiel als Zäsur die Unabhängigkeitserklärung der USA 1776. Wenn nur fünf Tage nach dem Independence Day der König im wahrsten Sinne des Wortes nach nur einem Jahrzehnt vom Sockel gehauen wird, dann geht es hier nicht um ein singuläres, isoliert zu betrachtendes Ereignis. Es ist nämlich nicht ohne den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg denkbar, der mehrere Jahre (1775 – 1783) dauerte.

Solch eine historische Umwälzung konnte nicht verschwiegen werden. Das Guckkastenbild mag bei Unwissenheit auch erschütternd wirken: fremde, „wilde“ Menschen scheinen die Akteure zu sein, während die wahrhaftigen politischen Kämpfer eher zuschauen. Auch dieses Zuschauen lässt verschiedene Interpretationen zu. Sind sie bestürzt oder eifern sie einfach nur mit? Der Kupferstecher Habermann versuchte, über ein Guckkastenbild den Betrachter in den Bann zu ziehen. Das Werk verrät gewisse (historische) Ungereimtheiten und verzerrt überlieferte Ereignisse. Es gibt einen Blick auf Historie frei, das auf eine ästhetische Wirkung abzielt. Der Akt der Zerstörung und seiner Betrachtung von einer überschaubaren Anzahl von Schaulustigen auf der Gasse – quasi vom Parkett – und am Fenster und auf der Veranda – quasi von den Rängen – wirkt inszeniert, während die Statue in ihrer Wirkung blass erscheint, da sie vergleichsweise unterdimensioniert dargestellt ist. Hat hier nicht einmal mehr der Künstler scharfen Durchblick hinsichtlich der Wucht der Geschichte bewiesen? Zumindest ist die Nachwirkung vorhanden: Man wird die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung anders lesen, wenn man dieses Guckkastenbild gesehen hat.  Und man wird den im September 2022 erneut angestimmten Vers „God save the King“ besonders hochhalten.  Möge Charles III. nicht vom Sockel gestoßen werden! Doch wird man ihn je als Statue verewigen?

Auf der Webseite der in Boston ansässigen Leventhal-Foundation ist der Kupferstich in faszinierender Auflösung online zu betrachten.

Wahrhaftig verlogen – Über das Lügenmuseum in Radebeul

Wer sich auf einen Besuch des Lügenmuseums einlässt, der schließt von Beginn an einen Pakt mit der Lüge. Er verinnerlicht sie quasi, denn zur Begrüßung wird dem Besucher vom Museumsleiter Reinhard Zabka „Lügentee“ nach einem vermeintlichen Rezept der heiligen Hildegard von Bingen serviert. So ein Unfug, gerade zusammen mit einem Reim, der aus einem Schwank stammen könnte! Da fehlte nur noch eine bühnenreife Vertonung.

Untergebracht in einem ehemaligen Gasthof kann einen das Museum eigentlich kalt lassen. Denn das Inventar ist ein zusammengestoppeltes Sammelsurium, wo es mal scheppert und quietscht und mal ruhig ist, je nach Art des Ausstellungsstücks. Es dürfte klar sein, dass man es mit keinerlei Kunstwerken (oder in moderner Diktion vielleicht doch??) zu tun hat. Man bekommt lediglich vorgeführt, wie man Fake produzieren kann. Zum Glück habe ich wenig für das Gezeigte übrig, da es mich nicht in den Bann ziehen kann. Manchmal scheint bei einem Objekt eine gewisse verlogene Ideologie durch, mal sind es nur Bezüge auf Künstler und historische Figuren, denen man einfach nicht glauben kann und mag. Es sind sozusagen Anekdoten, die vom Wahrheitsgehalt her sowieso halbseiden sind, um es mal gewagt auszudrücken. Neben den Objekten sind auch die Worte zusammengeschustert, bis die Schwarte kracht.

Am Ende des Besuchs kommt es zu einer unerhörten Begebenheit. Bei der Betrachtung eines wohl authentischen DDR-Comics für Grundschüler mit dem prägnanten Titel „In Lügenwerda“ taucht auf einmal auf der Glasplatte das Sandmännchen auf. Ich kann es nicht fassen! Denn ich kann die Figur nicht leicht in der Realität lokalisieren:

Lügenwerda
In Lügenwerda – DDR-Ferienlektüre (ohne Jahr)

Es hat den Anschein einer fragwürdigen Spiegelung, die natürlich nichts mit einer Fata Morgana zu tun hat. Auch eine Installation kann es nicht sein. Ich werde im wahrsten Sinne des Wortes während der Betrachtung einer putzigen DDR-Ferienlektüre von einer wahrhaftigen Figur des DDR-Fernsehens heimgesucht, die ich so überhaupt nicht leibhaftig erlebt habe.  Was ist denn da bloß passiert? Für mich ist dieses Erlebnis zweifelsohne der Höhepunkt einer dünnen Ausbeute. Liegt es daran, dass ich mich im Museumsabschnitt „Kathedrale des Sozialismus“ befinde und in weltlicher Manier auf eine andere Lebensstufe erhöht werde? Im Nachgang muss ich natürlich schmunzeln, denn die Sätze „Jaqueline badete mit einem Meerschweinchen“ und „Achim unterhält sich mit einem Ohrwurm“ im Rücken des Sandmännchens würde ich gerne eines Tages auch mal einem Kind vorlesen und dabei auf die heiter verlogenen Comic-Bildchen zeigen. Hier werden tatsächlich sprachlich-spielerisch Lüge und Wahrheit so dargestellt, dass verständlich wird, warum bereits simple Sätze Fiktion und damit Erfindung und Lüge enthalten. Eine Welt ohne Lüge ist einfach undenkbar. Das Lügenmuseum tischt das gehörig auf: Es hat alles den Anschein von Junk Food, von dem man eigentlich die Finger lassen sollte. Geringe Dosen davon können der Seele hin und wieder guttun. Der „Lügenwerda“-Comic mit der Sandmännchen-Erscheinung erzählt im wahrsten Sinne des Wortes davon.

Und wer sich jetzt weiterbilden möchte, dem sei das Hygiene-Museum in Dresden mit seiner neuen Ausstellung „Fake. Die ganze Wahrheit“ sehr empfohlen. Und wer so wie ich mal wirklich Grund zum Lästern haben möchte, der möge doch unbedingt vor den Toren der Barockstadt das Lügenmuseum im Radebeuler Ortsteil Serkowitz aufsuchen.  Auf der Homepage gibt es auch einen halbstündigen Film von Marco Borowski zur Entstehung des Museums. Auf der Seite „So geht sächsisch“ ist das Museum übrigens auch aufgeführt. Zum Schluss sei noch ein Online-Artikel aus der Sächsischen Zeitung über Reinhard Zabkas künstlerisches Anliegen und ein aktueller Artikel zur Zukunft des Museums in Radebeul empfohlen.

Programmierte Partnerschaft – Über den Film „Ich bin Dein Mensch“

Kaum ist man als Bahnreisender in der Gegenwart Berlins am Hauptbahnhof eingetroffen, kann man wenige Hundert Meter entfernt gleich in die Zukunft einsteigen – und zwar im Futurium, dem kostenlos zugänglichen Informationsort zu unserer Gesellschaft von morgen, das sich laut Homepage wahrhaftig als das „Haus der Zukünfte“ bezeichnet.

Dazu liefert der 2021 herausgekommene und bereits mit vier Lolas prämierte Film Ich bin Dein Mensch passendes Begleitmaterial. Maria Schrader hat überzeugend Regie geführt und die Protagonisten Alma (Maren Eggert) und Tom (Dan Stevens) glänzend in Szene gesetzt: Einerseits die etwas spröde wirkende Alma als Anthropologin im Pergamonmuseum, andererseits den humanoiden Roboter Tom, der, so sagt es das Drehbuch, auf den ersten Blick wie ein „Arme Leute Travolta“ daherkommt. Auf Bitten von Roger, einem Universitätsdekan, der als Mitglied einer Ethik-Kommission über das Wesen von künstlichen Kreaturen berichten soll, nimmt Alma an einer Studie teil, die das mehrwöchige Zusammenleben mit einer solchen Kreatur testen soll. Als Dankeschön dafür stehen dann Forschungsgelder für sie in Aussicht. Die nicht mehr allzu fern erscheinende Zukunft wird im Film buchstäblich durchgespielt.

Die erste Begegnung findet in einem „Berliner Tanzlokal aus der Nachkriegszeit“ statt. Die Mitarbeiterin der Firma Terrareca (aalglatt gespielt von Sandra Hüller) weiht Alma in den noch nicht ganz zuverlässig handelnden Roboter ein, den sie auch als Produkt vermarktet.   

Sie glauben nicht, wie kompliziert es ist, einen Flirt zu programmieren. Eine falsche Bewegung, ein falscher Blick, ein unbedachtes Wort, schon ist die ganze Romantik dahin, oder etwa nicht?

Im Interieur der Firma ist es leuchtend weiß: Zusammen mit dem Slogan „Dreams are our reality“, wird von Beginn an die mit Argwohn zu betrachtende traumhafte Wirklichkeit mit ganz besonderen ästhetischen Kameraeinstellungen konstruiert:

Terrareca ("Ich bin Dein Mensch")
In der Firma “Terrareca” (Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch, Regie: Maria Schrader, Letterbox Filmproduktion, 2021, 5’55”)

Die Mitarbeiterin vermeidet jegliche Romantisierung der Testsituation:

Ich weiß, dass Sie das alles mit einer gewissen emotionalen Distanz betrachten, und als Testperson sollen Sie das auch. Ich kann Ihnen aber nur empfehlen, sich auf diese Erfahrung ganz einzulassen. (…) Morgen ist es soweit.  Dann ist alles konfiguriert und Sie können Tom mit nach Hause nehmen.

Alma nimmt gegenüber ihrem Vorgesetzten das zukunftsträchtige Wort „mindfiles“ in den Mund, mit denen die Roboter gefüttert werden, damit sie überhaupt adäquat auf menschliche Äußerungen reagieren oder Erklärungsversuche geben können, wenn man selbst emotional arg belastet ist. Das ist dann der Fall, als Alma getröstet werden muss, weil eine argentinische Forscherin bereits die Forschungsfrage rund um eine antike Keilschrift, die Alma beschäftigt, beantwortet hat. Daten-Input reicht jedoch nicht aus: Jenseits davon soll auch ein Teil der Lebenswirklichkeit konstruiert werden, um mehr Gemeinsamkeit zu schaffen:

Wir empfehlen, an einer gemeinsamen Vergangenheit zu arbeiten. Eine Geschichte zu erfinden, wie man sich kennen gelernt hat. Nur wer eine Vergangenheit hat, hat auch eine Zukunft.

So kommt es, dass die beiden konstruieren, dass sie sich am Rande einer Forschungsreise in Kopenhagen kennengelernt hätten, einer Reise, die Alma noch bevorsteht. Auch werden Almas Urlaubsreisen an die dänische Ostseeküste in der Kindheit zu einem Bezugspunkt. Am Ende des Films sucht sie diesen Kindheitsort wieder auf, nachdem Tom die Koffer gepackt hat. Ihm begegnet sie dort wundersam wieder, ohne jegliche Emotion. Denn für Alma war der Abschied vom Roboter an der Zeit:

Er ist programmiert zur Simulation einer Empfindung, aber unfähig zu einer wirklichen Empfindung.(…) Tom ist eigentlich nur eine Ausstülpung meines Ichs!

Die Betonung liegt auf dem Ich, da an der Studie verständlicherweise nur Alleinstehende teilnehmen können. Der Umgang zwischen Alma und Tom zeigt eindrucksvoll, dass ein Roboter, mag er noch nur gut konfiguriert sein, keinen wirklichen Partner ersetzen kann. Es fehlt die Reibungsfläche zwischen dem Ich und dem Anderen. Die Ausstülpung steigert sogar noch die Ich-Bezogenheit; die Wahrnehmung von Andersheit bzw. Andersartigkeit findet nicht statt. Auch wenn es keinen inhaltlichen Konflikt zwischen Alma und Tom gibt, so findet doch eine Auseinandersetzung statt, für die Tom nicht verantwortlich sein kann, sondern nur Pate steht. Eindrucksvoller als Dan Stevens als Tom kann man diese Patenschaft kaum spielen. Der Wunsch nach Romantik im Badezimmer ist einer bei Tom einprogrammierten Statistik entnommen, nach der angeblich 93% der deutschen Frauen dies so wünschen. Nach eigenen Worten gehört Alma nicht dazu (wirklich nicht??), so dass Toms Mühen, Alma zu imponieren, keine Früchte tragen:

Romantik (Screenshot aus "Ich bin Dein Mensch)
Romantik im Badezimmer (Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch , Regie: Maria Schrader), Letterbox Filmproduktion, 2021, 29’33”)

Im Café mitten in Berlin ‚parkt’ Alma Tom, so dass er selber mitbekommt, wie sich die meisten Besucher in virtuellen Welten bewegen:

Blood Good Café (Ich bin Dein Mensch)
Im Bloody Good Café(Screenshot aus: Ich bin Dein Mensch; Regie: Maria Schrader, Letterbox Filmproduktion, 2021, 25’34”)

Am Ende erhält der Film ein seminaristisches Fazit, als Alma ihre Erfahrungswerte in einem Gutachten auf Wunsch des Dekans darlegt und sich kritisch zu Toms Spezies äußert:

Doch ist der Mensch wirklich gemacht für eine Befriedigung seiner Bedürfnisse, die per Bestellung zu haben ist? Sind gerade die unerfüllte Sehnsucht, die Phantasie und das Streben nach Glück die Quelle dessen, was uns zu Menschen macht?  Wenn wir die Humanoiden als Ehepartner zulassen, schaffen wir eine Gesellschaft der Abhängigen, satt und müde von der permanenten Erfüllung ihrer Bedürfnisse und der abrufbaren Bestätigung ihrer eigenen Person. Was wäre dann noch der Antrieb, sich mit herkömmlichen Lebewesen zu konfrontieren, sich selbst hinterfragen zu müssen, Konflikte auszuhalten, sich zu verändern?

Mit dieser Frage entlässt der Film die Zuschauer. Im Futurium kann man ihr weiter nachgehen; dort wird der Film zusammen mit seiner feinsinnigen Musik, die sehr schön den Kammerton zum Schwingen bringt, womöglich noch länger nachwirken als im heimischen Wohnzimmer. In den eigenen vier Wänden wäre eine Gestalt wie Tom eher eine gruselige Vorstellung; als distanzierterer Betreuer an Lernorten fände ich ihn deutlich besser aufgehoben.

Der Film basiert auf der Erzählung „Ich bin Dein Mensch“ von Emma Braslavsky, die im Sammelband 2029 – Geschichten von morgen erschienen ist. Der Film ist noch bis Ende Juni in der ard mediathek verfügbar und als DVD bei vielen Anbietern erhältlich. Das Drehbuch ist bei der Deutschen Filmakademie in guten Händen.

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