Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

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Kunterbunte Episoden aus Schriftstücken, die mich beschäftigen und mitunter auch faszinieren. Unerhörtes, Unglaubliches; einfach nur zum Staunen.

Abenteuerliche Lektüre – Zu einem Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch

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Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.

Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:

Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.

Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt). 

Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle  Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte.  Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping –  verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen!  Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.

Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).

Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:

Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.

Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??

Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:

Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.

Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.  

Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden.  Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.

Erscheinungsbilder: Gedanken zu Otl Aichers Werk

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‚Erscheinungsbild’ ist ein wunderbares Wort, das meiner Großmutter noch wenige Monate vor ihrem Tod über die Lippen ging, als sie mich kaum noch erkannte. Uns erscheinen ja auch mentale Bilder, erst recht im Traum.

Zum Jahreswechsel 2022 / 2023 besuchte ich in der Städtischen Galerie Lüdenscheid eine Ausstellung mit dem schönen Titel „Ökonomie der Gestaltung“ zu Otls Aichers Werk, das sich nicht einfach in einem Museum präsentieren lässt. Es gab keine großen Grafiken oder Gemälde anzuschauen, vielmehr Logos, Piktogramme und auch Design-Formen. Viel gibt dies auf den ersten Blick nicht her, doch wenn man sich einen Kunstband aus dem Prestel-Verlag besorgt und dazu noch Aufsätze von einer hervorragenden Homepage zu Gemüte führt, dann wird klar, dass Otl Aicher (1922-1991) die Designgeschichte in Westdeutschland entscheidend mitgestaltet hat. Die Piktogramme zu den Olympischen Spielen in München 1972 und das ZDF-Erscheinungsbild von den frühen 1970er Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende stammen aus der Denk-Fabrik von Otl Aicher im schönen Allgäu, genauer gesagt aus dem Weiler Rotis, wo er auch die gleichnamige Schrift entwickelte. Akademisch wirkte Aicher an der Hochschule für Gestaltung in Ulm als deren Gründungsmitglied (u.a. zusammen mit seiner Ehefrau Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Sophie Scholl) von 1953 bis zur Auflösung der Hochschule 1968.  Den aus den Vereinigten Staaten stammenden Begriff ‚Visuelle Kommunikation’ nutzte Aicher in Deutschland als einer der ersten, vielleicht sogar als allererster. Tragischerweise verstarb Aicher 1991 an den Folgen eines Unfalls, der sich auf der Straße nach Rotis am Rande seines Grundstücks ereignete.

Wenn sich Großveranstaltungen und ein Fernsehsender auf ein gewisses Erscheinungsbild einigen, dann ist der Umsetzungsprozess eindeutig vielschichtiger als nur die Entwicklung eines „Corporate Design“. Schließlich geht es ja um mehr als eine Bildmarke und eine einheitliche Schriftart. Zwei Gedanken dazu mögen erhellend sein. Sie zeigen, dass es hier wirklich auch um etwas Brauchbares geht.

Der eine Gedanke stammt von aus dem ersten Aufsatz im Prestel-Kunstband, verfasst vom Herausgeber Wilhelm Vossenkuhl:

„‚Welt entwerfen’ bedeutet, sich über das Zusammenspiel der vielen sperrigen Faktoren Gebrauchsfähigkeit, technische Perfektion und Innovation, ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Verwertbarkeit, anspruchsvolle und attraktive Form Gedanken zu machen und sie in einem Produkt auf den Punkt zu bringen. So wird jedes Produkt exemplarisch für ein Ganzes. Jedes so entworfene Exemplar wird zum Teil eines Ganzen, das es davor noch nicht gegeben hat. Das Ganze entsteht erst durch und im Entwerfen.“  

Ich stelle mir den Gebrauchswert von Piktogrammen vor. Sie schaffen Ordnung und Übersicht gerade in einem vielsprachigen Umfeld. In einem Olympia-Ort fing diese Art der Bildersprache spätestens ab den Spielen in Tokio 1964 an, wie ich aus einem kurzen Video-Beitrag erfuhr, der sich nur mit der Geschichte des Olympia-Design befasst.  Was viele Menschen aus der ganzen Welt richtig interpretieren sollen, muss gut durchdacht sein. Und da ein Piktogramm allein wenig Gebrauchswert hätte, müssen die Bildzeichen als Ganzes überzeugen, also nicht nur die dargestellten Sportarten, sondern auch der Verweis auf wichtige Dienstleistungen und Anlaufstellen. Näheres dazu hat der Designer Marc Holt für die bereits erwähnte Homepage geschrieben und zahlreiche aufschlussreiche Dokumente aufgeführt.

Ein weiterer zentraler Gedanke betrifft die Farbwahl: Aicher setzte bei seiner Arbeit für das ZDF auf ein „Farbklima“ anstatt auf ein „Farbprofil“, wie aus dem reich bebilderten Online-Artikel des Verlegers und Kommunikationsdesigners Jens Müller hervorgeht. Damit wird auch das breite Angebot an Sendungen gewürdigt.  Standards gelten, doch nicht in strenger Einheitlichkeit, wie Müller schreibt:  

Entsprechend wurde die Schrift mit ihren vier Schnitten zum zentralen Gestaltungselement der neuen Identität. Sie kam bei sämtlichen Bildschirmanwendungen zum Einsatz und fungierte gleichzeitig als prägende Displayschrift bei Drucksachen und Beschriftungen. Nahezu drei Jahrzehnte war sie im Einsatz und gehörte damit zu den ersten Beispielen von wirklich konsequent und medienübergreifend eingesetzter „Corporate Typography“.

Faszinierend, dass grafisch für die leicht abgerundete Mattscheibe und nicht für das Papier optimiert wurde.  Subtil gab es also einen Zusammenhang zwischen der heute-Sendung und dem Aktuellen Sportstudio, auch wenn die Studiokulisse auf den ersten Blick eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten offenbarten. Und doch wird jedem treuen Fernsehzuschauer das Signet der beiden Sendungen geholfen haben, diese sofort zu identifizieren, unabhängig davon, wer gerade moderierte.

Otl Aicher hat also die Design-Geschichte in (West-)Deutschland geprägt. Nicht zu vergessen ist, dass er auch das Erscheinungsbild von Unternehmen (mit-)gestaltet hat, wie zum Beispiel der Lufthansa, deren Logo er mit dem Kreis rund um den Kranich entscheidend veränderte. Und das Sparkassen-S stammt auch von ihm!  Im Online-Beitrag von Dagmar Rinker erfährt man zudem auch, dass Aicher dezidiert einen Artikel mit dem Titel „erscheinungsbild“ aus dem Sterbejahr 1991 verfasste. Rinker zitiert dessen Begriffsbestimmung: Der Schlüsselbegriff meine eine „form des vorstellungsbildes, seine konkretisierung in gebärden, verhalten, haltungen, profilen, linien, stilen, in farben und figuren, in handlungen und leistungen, in produkten und objekten.“

Ganzheitliches Denken heißt hier das Stichwort. An diesem Zitat wird indirekt deutlich, dass Aicher an philosophischen und moralischen Prinzipien während seines Schaffens sehr interessiert war. Kein Wunder also, dass Unternehmen und Philosophie wortschöpferisch zusammengefunden haben. Immer wenn ich Zukunft an Unternehmensphilosophie denke, wird mir Otl Aichers Schaffen über den Gedanken-Weg laufen!

Der erwähnte Aufsatz von Wilhelm Vossenkuhl heißt „Denken und Machen“; das Zitat steht auf der Seite 20 des Prestel-Kunstbandes mit dem Titel Otl Aicher. Designer. Typograf.Denker . Weitere sehr interessante Informationen zu Otl Aichers Biografie sind in einem Feature des Bayrischen Rundfunks enthalten. Herzlichen Dank auch an Frau Dr. Susanne Conzen, die die Aicher-Ausstellung in Lüdenscheid kuratierte und sie aufschlussreich mit dem Schaffen von Gerd Arntz (1900-1988) kombinierte, der schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine „piktogrammartige Figurensprache“ schuf.

Film-Bar: Daniel Brühls „Nebenan“ als Nachbarschaftsdrama 

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Spionagethriller gibt es en masse, doch wie es sieht es filmisch im zwischenmenschlichen Abhör-Bereich aus? Man würde hier wohl von Psycho-Drama sprechen.

Zu DDR-Zeiten spionierte man mit ausgebufften Abhörmethoden, die der Oscar-prämierte Film Das Leben der anderen (2006) eindrucksvoll zeigt. Und im 21. Jahrhundert findet besonders dank offener digitaler Kanäle das Beschatten wohl mehr denn je statt. Neudeutsch spricht ja auch von Stalking. Wie das sich kammerspielartig darstellt, vermittelt der Film Nebenan, in dem Daniel Brühl zum ersten Mal als Regisseur hinter den Kulissen und als Hauptdarsteller vor der Kamera in Erscheinung tritt. Der gefeierte Schriftsteller Daniel Kehlmann verfasste das Drehbuch, das es in sich hat.

Brühl spielt in seinen Teilen sich selbst – einen Schauspieler namens Daniel, der seinem wichtigsten Gesprächspartner im Film, dem Nachbarn Bruno gegenüber überheblich und auf den ersten Blick desinteressiert auftritt. Handlungsort ist die Kneipe Zur Brust irgendwo im Prenzlauer Berg.

Bevor er zu einem Casting in Großbritannien aufbricht, möchte er sich noch kurz in jener Stammkneipe auf den Termin vorbereiten, doch er kommt aufgrund von Bruno nicht von diesem Ort los: Sein Nachbar, der ihm eigentlich zuvor in seiner Unscheinbarkeit über die Hinterhof-Distanz nichts bedeutete, führt ihm sein eigenes verruchtes Privatleben vor die Augen. Dabei ist Bruno alles andere als ein Spion, denn er muss sich größtenteils gar nicht bemühen, die Dialoge zwischen Daniel und seiner Partnerin Clara mitzuhören. Eine bizarre Wissensasymmetrie wird offenbar: Während Daniel nichts über Brunos Leben vorher wusste, kann Bruno genaustens über Daniels Filmschaffen und über seine Machenschaften Auskunft geben.

Was mich an dem Film (erst im Nachhinein) begeistert, ist das Ausloten von Nähe und Distanz. Nachbarschaft erlaubt einerseits das Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen, ohne dass sich das Gefühl der Freundschaft oder der Sympathie einstellt. Peter Kurth spielt diese ambivalente Figur äußerst gekonnt. Mehrheitlich fokussieren sich die Dialoge auf die Problematik zweier ganz verschiedener Lebenssituationen, die sich im Schlagwort ‚Gentrifizierung’ (der Begriff fällt auch im Film) widerspiegeln. Der erfolgsverwöhnte und abgehobene Schauspieler auf der einen Seite aus dem Westen der Republik, auf der anderen Seite der ausgebildete Programmierer als Call-Center-Agent, der in einem „Help Center“ arbeitet, zu DDR-Seiten in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde, und dessen Vater vor der Jahrtausendwende aus der Altbauwohnung von einem Spekulanten für billiges Geld „herausgekauft“ wurde, bevor man sie in eine schicke Maisonette-Wohnung umbaute, in die sich Daniel einquartieren sollte. Das Psycho-Drama wird stellenweise zum Sozialdrama, en miniature auch zum Nachbarschaftsdrama.

Bruno kann dank seines Berufs die Kontobewegungen von Daniels Partnerin Clara bestens durchleuchten und kann von ihren Seitensprüngen berichten. Dabei schwirrt im Film eine Fliege zuerst auf Brunos Stirn und dann auf den mitgebrachten Kontoauszug; sogleich wird sie von Daniel gekillt. Auf dem zahlenlastigen Dokument hinterlässt diese Todes-Spur etwas Morbides; gleichsam wie die Auflistung der Umsätze, die eigentlich nur pralles Leben vorspiegeln:

Rechnung_Nebenan
Fliege mitten auf der durchleuchteten Rechnung – Aus dem Film Nebenan (Regie: Daniel Brühl), 54min27sek

Insgesamt wirken die Kneipen-Gäste einsam, was die folgende Einstellung eindrucksvoll zeigt:

Einsamkeit im Film "Nebenan"
Solitäre in der Kneipe “Zur Brust” – Aus dem Film Nebenan – Regie: Daniel Brühl, 1h08min22sek

Die weiten Abstände zwischen den Akteuren erinnert an die Pandemiezeit, in der der Film entstand, ohne dass davon die Rede wäre. Jegliches Handeln scheint für wenige Sekunden stillzustehen.  

Neben den Kontoauszügen bekam Bruno dank eines Blumengieß-Jobs Zutritt zu Daniels Wohnung und damit zu dessen I-Pad, auf dem er dessen schmutzige Online-Techtelmechtel mit einer gewisse Denise nachlesen kann. Das I-Pad als enthüllendes Speichermedium gibt er dann im verschlossenen Umschlag in der Kneipe über einen Kinder-Boten, der ein Fan von Daniel ist und als Verwandter der Kneipenbesitzerin den Handlungsort aufsucht, gegen geldwerte Belohnung an Klara weiter. Auch hier kann man von einem schmutzigen Geschäft sprechen.

So spielt der Schauspieler Daniel in seinem Privatleben gleichzeitig eine Täter- und eine Opferrolle, die man auch Bruno zuschreiben könnte. Sein Agieren als Beschaffer von indiskreten Informationen ist überdies zweideutig, da er ja trotz seiner kriminellen Energie Licht ins Dunkel bringt und Lebenslügen im wahrsten Sinne des Wortes auftischt. Dabei verheimlicht er nicht, dass auch er Opfer eines Betrugsfalls geworden ist (nämlich von seiner Frau).

Am Filmende erfahren wir als Schlusspointe, dass Daniel mit seiner Familie nicht mehr in der schicken Maisonette-Wohnung lebt. Stattdessen ist es eine Schauspielerin: Brunos Vorhang öffnet sich nun in eine neue Wohn-Welt:

Fenster_Nebenan
Brunos Sicht-Fenster – Aus dem Film Nebenan – Regie: Daniel Brühl, 1h26min40sek.

Der Film konzentriert sich auf die Macht der Sprache, die über ausschweifend geführten Dialoge an einem Handlungsort Lug und Betrug enthüllt und dabei verborgene Lebenswelten aufdeckt. Zusammen mit der subtilen Zusammenführung deutsch-deutscher Lebensgeschichten ist dieses Kammerspiel mitten in Berlin ein ganz wichtiges Zeit-Zeugnis gut zwei Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende.

Ein Interview mit Daniel Brühl bietet Wissenswertes zur Filmidee. Eine ausführliche Kritik findet sich bei in der Online-Zeitschrift epd film. Der Film kann hier über verschiedene Anbieter heruntergeladen werden. Noch ein wichtiges Detail: 2022 wurde die Theaterfassung am Wiener Burgtheater uraufgeführt.

Der interkontinentale Film – Gedanken zu „Paris kann warten“

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Paris kann warten (engl.: Paris can wait) ist ein zweitklassiger Film, auch wenn in der Süddeutschen Zeitung Rainer Gansera in seiner Besprechung zurecht von einem zauberhaften Road-Trip“ und einer „Feier des Lebens“ spricht. Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, dass Anne, die Frau des Produzenten Michael mit dessen Geschäftspartner Jacques die französische Provinz erkundet – und erst ganz zum Schluss in Paris eintrifft, wo sie sich entscheidend näherkommen. Daher rührt der Titel. In dieser Reise-Zeit weilt der Ehemann weit ab in Budapest, wo er dringend gebraucht wird.

Eleanor Coppola, die 2024 verstorbene Ehefrau des berühmten Regisseurs Francis Ford Coppola, bietet in ihrem ersten Spielfilm (Debüt mit über 80!) mit dem Schauspieler Alec Baldwin (Michael) mindestens einen Hochkaräter auf, doch der glänzt im Film ja eher durch Abwesenheit. Die anderen beiden Hauptdarsteller (Diane Lane und Arnaud Viard) spielen ihre konventionellen Rollen ohne Glanz  – sie blieben für mich also eher blass. Die gezeigten Orte sprechen für sich; dabei sind die Dialoge eher Beiwerk. Laut einem Spiegel-Artikel hatte Coppola eine ähnliche Route einmal selbst zurückgelegt.

Zwei Szenen bleiben für mich in Erinnerung. Einmal die Vorführung des legendären Bergmassivs Sainte-Victoire bei Aix-en-Provence, die mehr ist als eine Vermittlung zwischen einer Amerikanerin und einem Europäer: Der Dialog könnte genausogut zwischen Reiseführer und Touristen entstehen:

-Oh, you see that mountain over there? It’s Sainte-Victoire.

– A-ha. (…)

– It’s a major landmark of this region and a favorite subject for many writers and artists. Cézanne captured it perfectly. I saw a beautiful exhibition of his work last year in Aix-en-Provence.

-Oh, that’s great.

-Yeah.

-It must have been incredible to see Cézannes paintings here in this light. Yeah. Ha. The ones that I know at the MET in New York, they look a little sad, you know, as if they don’t really want to be there.

Was den Dialog besonders macht, ist die Verknüpfung von sprachlichem Inhalt und realen Ansichten sowie der gemalten Sicht, die auch den Filmzuschauern die Besonderheit des Abgleichens ermöglicht. Auf der Autofahrt wird erst die relativ unspektakuläre, nicht von Cézanne auf Leinwand gebannte Sicht von Osten auf die Sainte-Victoire gezeigt. 20 Sekunden später folgt jenes berühmte Gemälde von Paul Cézanne, die das Motiv von Südwesten her in Szene setzt (La Montagne Sainte-Victoire, 1887, Standort: The Courtauld Gallery in London), bevor weitere 20 Sekunden später die reale Perspektive, die dem Gemälde zugrunde liegt, aus dem Auto heraus gefilmt wird:

Ansicht_Sainte_Victoire
Blick auf das Sainte-Victoire-Gebirge im Film Paris kann warten (2016), 13min38sek.
Cezanne: La Montagne Sainte-Victoire
Einblendung des Gemäldes La Montagne Sainte-Victoire (1887) von Paul Cézanne, 13min57sek.
2. Blick auf die Sainte-Victoire
Das reale Sainte-Victoire-Gebirge aus dem Auto in Paris kann warten gesehen, 14min17sek.

Sprachlich noch interessanter ist die Wahl der Speisekarte, die zum Abendessen nach dem ersten Reisetag gereicht wird:

Speisekarte: Paris kann warten
Speisekarte von Les Jardins d’Epicure im Film Paris kann warten, 23min2sek.

Es kann kein Zufall sein, dass dieses Dokument nicht aussschließlich französische Wörter bereithält. Die Sprache der Kulinarik, ganz ohne Angabe von Preisen, so soll recht eindrucksvoll vermittelt werden, ist eben mehrsprachig: „pickles de carottes” kombiniert Französisch und Englisch, „à la plancha” für eine spezielle Grill-Auflage kombiniert Französisch und Spanisch und „à la caponata” (sizilianisches Gericht mit Auberginen) sowie „risotto léger” kombiniert Französisch und Italienisch. Es wäre wirklich interessant, den Autoren dieser Speisekarte zu ermitteln. Es ist schade, dass sie im Film nur etwa zwei Sekunden eingeblendet wird und auch im Gespräch mit der Bedienung nur von „agneau de lait avec mini-carottes et mini-oignons“ bzw. „veau de lait“  die Rede ist, die in der Speisekarte nicht (sichtbar) auftauchen. In der Synchronfassung wird der auf Französische gehaltene Dialog zwischen Jacques und dem Kellner übrigens nicht übersetzt, ebenso wenig wie in der englischen Originalfassung. Nur wird kurz vor dem Dialog der „Milchlammbraten“ erwähnt, für den der Küchenchef bekannt sei. Jacques bestellt schließlich für zwei eine „dorade royale” als Vorspeise sowie das Lamm- und das Kalbsgericht („carré d’agneau“ et „côte de veau“), dazu einen Wein aus dem Örtchen Condrieu, einen aus dem Weinbaugebiet Côte-Rôtie sowie einen Hermitage vom Weingut Jean Michel, die allesamt aus dem Rhône-Tal stammen.

Im Abspann wird das Hotel Belles rives in Juan-les-Pins bei Antibes als realer Handlungsort dieses Abendessens erwähnt. Warum im Film der Name Les Jardins d’Epicure aufwartet, der mitten in der Provinz (im Weiler Bray et Lû) nordwestlich von Paris lokalisierbar ist, wäre auch eine interessante Frage. Denn dorthin konnte die Route bei bestem Willen nicht hinführen – dann wäre das Duett über wahrlich über das Reiseziel Paris hinausgeschossen. So wird hier ein realer Restaurant-Ort mit einem realen Restaurant-Namen extra für diesen Film kombiniert.

Anschließend folgt ein Dialog zur Blumendekoration im Restaurant, den Anne eröffnet:

-Why do the flowers smell so much better in France than they do in the U.S.?

-Because we are in France. In America they look lovely but they smell like a refrigerator.

-It’s true. I love roses.

-But their scent mustn’t intrude on the aroma of the wine.

Diesen Dialog kann man eigentlich nur ein US-Amerikaner lustig finden, oder eben einfach nur danaben. Wie soll man sich einen Kühlschrank-Geruch vorstellen? Immerhin geht es ja in erster Linie um die Schönheit der Rose, die nicht automatisch mit dem Duft gekoppelt wird. Wird hier etwa auf die Herkunft der Rosen (Garten vs. Treibhaus) abgezielt?

Offensichtlich wird, dass ein zu starker Rosen-Duft eben nicht zu einem guten Wein passt. Die Wein-Nase möchte nämlich gerne ohne olfaktorische Ablenkung bleiben….Worauf es hier ankommt, ist einfach der gute Tropfen, der eben besonders in Frankreich gerne zelebriert wird: Jacques bestellt ohne Abstimmung mit seiner Gefährtin gleich drei verschiedene Weine.

Ohne Käseauswahl und ohne schokoladiges Dessert ist das Menü natürlich nicht komplett:

Screenshot aus dem Film "Paris kann warten"
Riesige Käseauswahl, nur für Anne und Jacques, im Film Paris kann warten – 30min42sek.

Jacques betont, dass der Käse aus Rohmilch („unpasteurized milk“) hergestellt und sehr gesund und „alive“ sei, während der US-amerikanische Käse aus pasteurisierten Milch tot sei und im Magen wie ein Fettkloß („ball of fat“) landen würde. Er bejaht Annes Frage, ob deswegen Franzosen nicht zulegen würden, woraufhin Jacques sie ebenso als „more romantic“ charakterisiert. Der Gesprächsstoff in diesem interkontinentalen Setting kommt eben ohne Polemik nicht aus; und wer weiß, wie viel Wahrheitswert in dieser verbalen Schwarz-Weiß-Malerei steckt….

Im Film werden passend zu den jeweiligen Sequenzen zudem die Gemälde Le Déjeuner sur L’Herbe (1883) von Edouard Manet und Danse à Bougival (1883) von Pierre -Auguste Renoir eingeblendet. Hier war die Regisseurin ziemlich kulturbeflissen!

Im Film fiel mir außerdem auf, dass die gezeigten Orte (zumindest partiell) nicht den tatsächlichen Verlauf einer (möglichen) Reiseroute beachten.  Der Stopp am Aquädukt Pont-du-Gard, das nach dem Vorbeifahren an der Sainte-Victoire gezeigt wird, entspräche einer Route, doch dass direkt im Anschluss der Zuschauer den Peugeot-Oldtimer in einer Allée in Le Tholonet (bei Aix-en-Provence) vorbeifahren sieht, kann nur der schönen Kulisse geschuldet sein, die ich 10 Monate lang 2006-2007 genießen durfte. Sonst wäre mir diese Allee überhaupt nicht aufgefallen.

Noch kurz zu weiteren ungewöhnlichen Kultur-Orten im Film:  Anne wird durch das schöne Musée des Frères Lumières in Lyon geführt, so dass auch über die Anfänge der Filmgeschichte berichtet wird. Das bunte Markttreiben wird in Lyon ebenso eingefangen wie ein Besuch in einem Lyoner Traditionsrestaurant (einem bouchon) und im Textilmuseum (Musée des Tissus et des Arts Décoratifs). Dort wird Anne beim unerlaubten Fotografien erwischt, woraufhin Jacques dem Sicherheitspersonal ein paar Geldscheine zusteckt, um den Ärger schnell im Keim zu ersticken. Auf einem weiteren Stopp wird im Kerzenschein die Kathedrale in Vézelay im Burgund (Jacques erinnert an Richard Löwenherz’ Startpunkt für seinen Kreuzzug im Jahre 1190) als Besichtigungsort inszeniert. Ein besonderer Kamera-Blick liegt auf den kunstvoll gestalteten Säulen. Die meditative Ruhe, während der Anne über ihr verlorenes Kind spricht, gehört zu den gelungensten Momenten im Film. Insofern lohnt sich der Streifen von der ersten bis zur letzten Minute. Ich bin froh, das er mit über den Weg gelaufen ist; denn so konnte ich Frankreich auf der Grundlage von Erfahrungen wieder mit Hilfe einer ausgeklügelten Bildregie neu entdecken.

Die zitierten Dialoge kommen im Film zwischen 13min38sek und 14min16 sek sowie zwischen 26mi55sek und 27min10sek vor. U.a. bei jpc kann der Film erworben werden.

Bahn-(Rad)-Fahren: Über ein lohnenswertes Unterfangen

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Im September 2012 wurde ich am Bahnhof Kinding rechtens aus einem Regionalexpress geworfen. Der Grund war ganz simpel: Es fehlte der Fahrradwagen, so dass mein Drahtesel im Wege stand und damit der Sicherheit an Bord nicht zuträglich war. Mein Ticket (Fahrradtransfer inklusive) half hier auch nicht weiter. Pech gehabt! Der schnellste RE Deutschlands, auf einer ICE-Schnellstrecke unterwegs, erwies sich an diesem Tag als vollkommen unbrauchbar für mich!
Mein Ziel Ingolstadt habe ich schließlich ohne Probleme erreicht: Wie gut, dass wie gerufen am Bahnhof eine gut 80-jährige Frau mit ihrem Kleinwagen stand und mich sehr freundlich das Altmühltal hoch bis nach Denkendorf mitnahm. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Ziel. Eine wirklich ganz besondere und daher auch unvergessliche Hilfestellung, gerade mit meinem Fahrrad, der den Kofferraum und die Rückbank gut ausfüllte.

Mitte Mai diesen Jahres musste ich wieder an diese Begebenheit denken, als ich einen Artikel in der Freien Presse las (Zwickauer Ausgabe vom 14. Mai 2024), in dem „fünf typische Szenarien beim Reisen mit Fahrrad“ aufgeführt waren, die din unserem Alltag allesamt realistisch sind. Ob es dann noch „Szenarien“ sind, die ja vom Begriff her auf eine schwer vorherbare Zukunft verweisen sollten?? Jedenfalls ist in der Folge die Rede von Szenen, was besser klingt.

Eine fehlende Anstellmöglichkeit für Fahrräder wurde nicht erwähnt, weil die meisten Regionalbahnen heute über eine recht begrenzte Anzahl von Fahrradstellplätzen im Großraumbereich am Zuganfang oder am Zugende verfügen. Szene 3 und Szene 4 passen jedoch gut in die Kategorie Kapazitätsmangel. Die Autorin Hanna Gersmann gab sich Mühe, diese auch möglichst lebendig zu formulieren:


Ein schöner sommerlicher Sonntag, warum nicht einen Ausflug ins Grüne unternehmen? Das dachten sich viele, nun stehen Menschen ratlos vor dem Zug. Alle Abstellplätze für Räder sind bereits belegt.


Hier haben wir die passive, langweiligere Variante, wenn es um die nicht vorhandene „Mitnahmegarantie“ geht. Deutlich spannender ist die 4. Szene, die aber im Grund auf das gleiche Phänomen hinausläuft: „‚Los, jetzt lassen Sie mich doch rein, das passt doch noch’: Jemand fängt an zu drängeln und zu schieben“.

Während die Szene 3 besonders die Reservierungspflicht für Fahrräder in Fernzügen thematisiert, die nicht online möglich ist, geht die Szene 4 auf die teilweise ausgewiesene „Maximalanzahl mitzunehmender Räder“ ein-
Dass David Koßmann als Experte vom Branchennetzwerk Pressedienst Fahrrad zitiert wird, zeigt, dass man auch hier Tipps gut gebraucht kann. Koßmann verweist in Szene 3 auf „Übersichtsseiten, welche Züge an welchen Wochentagen als überlastet gelten“. In Szene 4 rät er, zum Platzsparen „Fahrräder möglichst eng, versetzt oder mit entgegengesetzten Lenkern abzustellen“.

Es gibt in meinen Augen zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema: Entweder man probiert den Radtransport gar nicht erst aus, weil einfach nicht zu viel Unwägbarkeiten drohen; oder man nimmt sein Rad einfach mit, in der Annahme, dass die Mitnahme meist problemlos möglich ist.
Nach meiner Erfahrung ist das auch so. Natürlich kann es manchmal hektisch werden (vgl. Szene 1), wenn das Radabteil nicht dort ist, wo man es erwartet, zum Beispiel am vorderen Ende des Zuges. Es handelt sich hierbei allerdings nur um ein paar Sekunden, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordern. Leider ist die Regelung bei Zusatztickets für Fahrräder sehr uneinheitlich geregelt (vgl. Szene 2). Es hängt vom Verkehrsverbund und teilweise auch vom Eisenbahnunternehmen ab, ob Räder gratis mitgenommen werden können: Während beispielsweise die Mitteldeutsche Regiobahn (MRB) innerhalb eines Verkehrsverbundes Räder kostenlos befördert, ist das bei der S-Bahn Mitteldeutschland nicht der Fall. Und dass Tandems oder Liegeräder nicht genommen werden dürfen (vgl. Szene 5), ist nicht überraschend. Wie so oft ist das Kleingedruckte hier alles andere als unwichtig.

Seit den frühen 2000er Jahren hatte ich kaum Probleme mit dem Radtransport im Bahnsystem. Der geschilderte Zwischenfall blieb bisher einmalig. Erfahrungswerte sind oftmals buchstäblich wertvoller als Empfehlungen , die nur im Optimalfall wirklich helfen, selbst wenn sie gut gemeint sind. Unwägbarkeiten gehören einfach dazu. Und manchmal hilft einfach der gesunder Menschenverstand: Wenn mal ein Engpass vorliegen sollte, dann wird sich auch daraus wieder eine neue Erfahrung herausgeschält haben, die in eine erzählreife Szene passen könnte. Im Zweifelfall sollte der Lebensoptimismus die Oberhand behalten!

In der Chemnitzer Ausgabe der Freien Presse erschien der Artikel bereits am 11.05.24 (Seite 24).

Standortwechsel: Gedanken zu einem Möbeltransfer

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Es war der 20. Juni 2018, als ich in Schlettau im Erzgebirge auf dem allerletzten Meter gegen ein Regendach prallte. Und dann noch mit einem geliehenen Kastenwagen, der für den zu transportierenden Inhalt, ein Korbsofa sowie ein Korbstuhl mitsamt einem kleinen runden Korbtisch (und einer Glasplatte als Auflage) viel zu groß geraten war. Der Schaden war größer als der Kaufwert, so dass meine Laune an jenem Tag trotz der hochwertigen, gebrauchten Möbel bescheiden war. In Anbetracht der Kostenbeteiligung wurde ich durch mein nervöses Auftreten gegenüber den Privatverkäufern als Fremdling gehalten, zumindest nicht als deutscher Staatsbürger. Erst der Schaden am Fahrzeug, dann die Zitterpartie, als sich die Frage stellte,  ob das Korbsofa über einen  Flaschenzug heil aus dem dritten Stock nach unten befördert werden würde. Hochspannung pur! In dem Augenblick bewunderte ich das ältere Ehepaar für ihr Vermögen, eine so eine waghalsige Transportanlage aus dem Stand einzurichten. Und dann wähnte ich mich noch unsicher, ob das Sofa auch noch durch meine Wohnungstür passen würde. Es passte zum Glück!

Korbmobiliar in Schlettau
Korbsofa-Seilzug im Juni 2018 in Schlettau

Fast sechs Jahre bereicherte mein Zwickauer Wohnzimmer diese Möbelkombination, bevor ich sie letzten Februar wegen eines neuerlichen Umzugs nach Chemnitz aus den Händen gab. Auch dieses Mal war das Heraushieven aus der Wohnung kein Kinderspiel (wie zu erwarten war!), doch lief die Verladung auf einen Pritschenwagen umso einfacher. Der kurze Frischlufttransfer zum Haus Abendfrieden, einem Seniorenheim der Diakonie in Werdau, war wiederum etwas Besonderes. Schließlich – und das ist mich die schönste Entdeckung – ist der neue und vielleicht letzte Standort dieses Möbel-Trios eine Café-Ecke, in der räumlich und farblich kaum andere Sitzobjekte stimmiger sein könnten.

Korbmobiliar in Werdau
Seit Februar 2024 steht das Korbmobiliar im Haus Abendfrieden in Werdau

Ende April traf ich mich mit der Einrichtungsleiterin Dorothea Floß. Sie zeigte mir die weiträumige Anlage, in der viele Orte zum Verweilen einladen. Das nasskalte Wetter war wie geschaffen, anschließend drinnen in der besagten Café-Ecke bei einem Kaffee ein ausführliches Gespräch zu führen, um den Ort zu würdigen. Genau das ist ja der Zweck der Korbmöbel. Sie eignen sich nicht besonders gut zum Fernsehen und auch nicht zum Schlafen. Sie dienen der Unterhaltung und füllen erst dann ihre Funktion optimal aus, wenn mindestens zwei Personen am Korbtisch Platz nehmen. Ohne den Stuhl wäre der Raum weniger schön ausgefüllt, doch gerade weil ein Runder Tisch eben Sitzmöbel auf der gegenüberliegenden Seite wünschenswert erscheinen lässt. Diese Geschmackssache ist natürlich wiederum raumabhängig….

Wenn so viel in unserer Zeit über Nachhaltigkeit gesprochen wird, dann jedoch weniger zur sozialen Komponente. Mir scheint, dass das Korbmobiliar genau diese Komponente berücksichtigt: Der geldlose Transfer sorgt für keinen ökonomischen Mehrwert, wohl aber für eine Wertsteigerung im sozialen Bereich. Sitzmobiliar ist nur dann sinnvoll, wenn es nicht nur Raumfüller sind.  Ich habe den wunderbaren Eindruck gewonnen, dass nicht nur ästhetisch der Ort zum Objekt passt, sondern auch sozial: Wenn angeblich diesen Möbelstücken ein Urlaubsgefühl und gleichzeitig ein Zuhause-Gefühl anheimgestellt wird, wie Frau Floß zu berichten wusste, dann erfüllen sie Raum und Zweck vollkommen!

Vielen Dank an Michaela Rusch für den Tipp, die Diakonie Westsachsen wegen des Mobiliars zu kontaktieren, und natürlich für Dorothea Floß für die Führung über das Diakonie-Gelände und das tiefsinnige Gespräch am neuen Möbel-Standort. Es wird in guter Erinnerung bleiben!

Alles nur ein Abklatsch?! Über eine besondere Verfahrenstechnik

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Ein Streifzug durch ein Museum verspricht Überraschendes. Etwas, das dem Besucher sonst verborgen bliebe. Und es kann sogar sein, dass das Werk erst durch den Werktitel nähere Aufmerksamkeit erhält.

So gesehen bzw. geschehen Ende Oktober 2023. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg unweit von Schloss  Charlottenburg in Berlin ist für Surrealismus-Fans eine Schatztruhe voller Zauber, ohne den diese Kunstströmung weniger reizvoll wäre.

Und nun das Zauberwort: Decalcomanía! Der mir zuvor unbekannte Künstler Oscar Dominguez (1906-1957) schuf sie 1935. Auf Deutsch wird die verwendete Technik nicht weniger reizvoll: „Gouache im Abklatschverfahren.“ Im Spanischen wird etwas Wahnsinniges denkbar, denn das Lexem manía bedeutet allein Manie bzw. Wahn. Also wird dabei etwas Verrücktes evoziert.  Das Wortteil „Decalco“ lässt mich abschweifen und mich fälschlicherweise ans Entkalken denken, das ohne chemische Reaktion(en) nicht denk- und ausführbar wäre.

Manuela Bethke hat mir dankenswerterweise einen Bestandskatalog-Eintrag der Sammlung Scharf-Gerstenberg zukommen lassen. Darin heißt es zutreffend:

Fantastische Welten eröffnet „Decalcomanía“. Submarine oder kosmische Landschaften entstehen, organische und tote Formen, Gesteine und Korallen scheinen sich abzuwechseln. Der Vorstellung des Betrachters sind keine Grenzen gesetzt, durch das Hineinsehen entstehen immer neue Bilder.

Es lohnt sich also ein näherer Blick auf das Werk, gerade mit einer digitalen Lupe, auf der sehr guten Internet-Seite bildindex.de, die sich als Verbunddatenbank bezeichnet. Gerade in der Vergrößerung (unten links ansteuerbar) wird schön sichtbar, wie sich eine fiktive Landschaft herausbildet. Man könnte an Riffe inmitten eines unübersichtlichen Systems von Wasserläufen denken, so dass als Höhen und Tiefen interpretierte Konturen Dreidimensionalität schaffen. Im unteren Bilddrittel zerfällt jedoch diese Struktur, so dass Analogien, die aus physisch erlebbaren Topographien erzeugt werden, nur bedingt aufrecht erhalten werden können. Für den Betrachter ist das Abgebildete nur schwer begreifbar, gleichsam wie in einer Tropfsteinhöhle, wo Kalkabbauprozesse auch eine kaum erfassbare Landschaft im Erdinnern formen. So passt der nicht übersetzte Titel Decalcomanía auch so gut. Noch einmal sei daran erinnert, dass im französischen Original „décalcomanie“, aus dem das spanische „decalcomanía“ abgeleitet ist, keinesfalls Kalk eine Rolle spielt. „Calque“ bedeutet im Französischen eine Ebene bzw. eine Schicht und auch eine Nachbildung, was ja im konventionellen, negativ konnotierten Sinn ein Abklatsch ist; in der Sprachwissenschaft bezeichnet es auch ein Lehnwort, so dass hier auch ein Transfer (von einer zur anderen Sprache) eine Rolle spielt.  Ein „papier calque“ ist ein Pergament- oder Pauspapier, womit hier das Material und das Verfahren im Zusammenhang mit einer Bastelarbeit durchscheint, die natürlich auch künstlerisch wertvoll sein kann. Eine Nachbildung ist also hier ein Abklatsch im schöpferischen, also kreativen Sinn!

Domínguez beschäftigte sich in den 1930er Jahren intensiv mit klassischen Abklatschverfahren, bevor Max Ernst diese Technik in andere integrierte. Ein Abklatsch hingegen ist auch in der Standardsprache ein Phänomen, das ja von der Kunsttechnik herrühren muss, jedoch mit dem Zauberhaften wenig bis gar nichts gemeinsam hat: Eine „(schlechte) Nachbildung eines Originals“, wie es im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt, hat oft einen negativen Beigeschmack, was wiederum durch das Verb „klatschen“ für „schallend schlagen“ aufgewertet und durch das Substantiv „Klatsch“ in Verbindung mit Tratsch wiederum negativ verdreht wird. In der Wortgeschichte wurde der Klatsch (heute eher als Kaffeeklatsch verwendet) als Gerede spätestens im 18. Jahrhundert salonfähig.

Im Katalog las ich außerdem von einem „Abziehbild“ als Ergebnis des Abklatschverfahrens, was auch in der Drucktechnik als Probedruck eine wichtige Funktion hat, ohne dass hier surrealistisches Gedankengut mit im Spiel wäre. Da ein Probedruck früher unvollkommen war, weil er ohne die Druckerpresse, sondern nur durch Bürstenschläge erzeugt wurde, kann dem Abklatsch in der herkömmlichen Tradierung kein Zauber innewohnen.

Im Grunde ist das unplanbare Ergebnis ohne eindeutiges Motiv der Kern des Zauberhaften, weil diese Wirklichkeiten unbestimmbar und unbeherrschbar scheinen. Und das wirkt förmlich sehr real!

Wenige Informationen über den spanischen Surrealisten Óscar Domínguez sind online verfügbar. Immerhin hat eine Londoner Galerie eine Kurzbiografie angelegt, in der auch auch das Zauberwort decalcomanía vorkommt.

Alles Banane!? – Zu Aleš Štegers Roman “Neverend”

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Die Lektüre eines E-Books hat einen großen Vorteil: Die Häufigkeit jedes einzelnen Wortes lässt sich genau mit der Suchfunktion ermitteln. 117mal kommt das Wort „Banane“ im Roman Neverend des slowenischen Schriftstellers Aleš Šteger vor. Es verknüpft kunstvoll drei Erzählwelten: die persönliche, die soziopolitische und die historiografische Textwelt.

Die tagebuchführende Erzählerin – der Roman ist auf vier Monate in einer nicht näher bestimmten Zukunft angelegt – kommentiert die Wahl und die Machenschaften des Politikers Platano in Slowenien, der mit seinem sprechenden Namen eine Banane verkörpert (auf Spanisch ist die Banane ein „plátano“). Zum anderen arbeitet sie an einem Romanprojekt, in dem der Naturforscher Giovanni Antonio Scopoli (1723-1788) zusammen mit seinem Korrespondenzpartner Carl von Linné eine wichtige Rolle spielt. Zentral für die Kohärenz von Neverend ist die Szene, als Scopoli vor einem als Paradiesbaum bezeichneten Bananenbaum (lat.:  Musa paradisiaca bzw. Musa sapientum) in einem zerstörten Gewächshaus des niederländischen Pflanzensammlers George Clifford auf dessen Gut Hartekamp steht und davor zurückschreckt, in dieser verwüsteten Szenerie den Baum weiter zu untersuchen.  Sinnbildlich steht diese Szene für das Unabgeschlosse, das sich im Romantitel wiederfindet.

Auf einer dritten Ebene erhält die Tagebuchschreiberin kurze Erzählungen von drei Gefängnisinsassen, die sie in ihrem Job als Anleiterin zum kreativen Schreiben betreut. Diese Texte beziehen sich auf das reale Kriegsgeschehen im Ex-Jugoslawien. Sie verarbeiten poetisch die feindseligen Handlungen, die Tod und Vernichtung mit sich brachten. Auf einer vierten Ebene kommt im Tagebuch genregemäß auch die intime Gefühlswelt der Erzählerin vor, so dass das Geschriebene keine Trennung von Fiktivem und wahrhaft Erlebtem kennt.

Das Cover des Romans stellt zwei Bananen in den Mittelpunkt. In einem zu kleinen Behältnis sind sie auf einen Nagel gespießt, so dass man an eine lächerliche Art der Aufbewahrung denken könnte:

Neverend
Cover des Romans Neverend von Aleš Šteger, erschienen in der Übersetzung 2022 im Wallstein Verlag (Das Original erschien bereits 2017.)

Die Bananen stehen im Text aufgrund für einen Handelskrieg zwischen der EU und dem Rest der Welt und zugleich für einen hohen Wert, ohne dass sie per se übermäßig werthaltig wären: Der erste Tagebucheintrag vom 02.09. enthält bereits erläuternde Gedanken:

Kafka bringt Bananen mit. Keine Ahnung, woher er sie hat. Vor zwei Monaten sind sie aus den Regalen der Supermärkte verschwunden. […] Weniger wichtig dabei ist, dass Bananen und zahlreiche andere Artikel zu Objekten des Begehrens geworden sind, deren Wert auf dem Schwarzmarkt schwindelerregend gestiegen ist. Viel wichtiger dagegen ist das Bestärken des unsichtbaren Gefühls, dass jeder von uns in die Geiselrolle eines größeren Systems versetzt wird. Wie eine Seifenblase zerplatzt so nebenbei die angebliche persönliche Freiheit.

Eine Geisel ist ja eine Person, die in Unfreiheit lebt. Es ist eine Art gefühlte Gefangenschaft, aus der man in der Wirklichkeit nicht entkommen kann.

Kafka ist Literaturlehrer und zugleich Geliebter der Ich-Erzählerin. Die namentliche Anspielung an den großen Schriftsteller steht auch für die Absurdität der äußeren Verhältnisse, in denen Schreibprozesse im Roman stattfinden.

Im Roman wird die Frucht der Bananen in einen Sinnzusammenhang gebracht, in dem das etablierte Wort Bananenrepublik für einen autoritären, korrupten Staat nur unzureichend hineinpasst. Vielmehr ist das Populistische, Unreflektierte, das allein auf Emotionen setzt, entscheidend:

„Über Nacht wurden Bananen zum Synonym aller Unzufriedenheit, sie sind die Metapher für alles, was die Menschen vermissen.“ Der gewählte Präsident Platano „verspricht das Ende der Versprechungen, es soll nur noch Taten geben“,  unter anderem auch wieder die Bananenbeschaffung.

Wie kann man diese Absurdität, die gewiss zusammen mit dem Handlungsort Gefängnis etwas Kafkaeskes hat, mit der Vergangenheit zusammenführen, die vor allem die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen ist? Die kurzen Erzählungen der Insassen sind womöglich der einzige Ausweg aus dem Abgeriegelten, da nur der Erzählstoff Fluchtmöglichkeiten bietet. Panfi, einer der drei schreibenden Gefangenen, meint dazu: „Wir sind nicht der Freiheit beraubt, sondern der Einsamkeit, und das ist schrecklich[.]“.

Fiil, der zweite Gefangene, holt noch mehr aus:

Selbst die Menschen, die sich in sogenannter Freiheit befinden, leben im Knast, jedoch in einem weniger sichtbaren. Was wir Freiheit nennen, ist lediglich eine vergrößerte Einzelzelle. Wir Häftlinge müssen uns damit abfinden, dass wir eingesperrt sind. Das verleiht uns eine Kraft, die die Menschen draußen nicht haben. Als Häftling schreibe ich, um durch meine Worte aus dem Knast zu entwischen, die einzige Form von Freiheit zu erfahren, die mir keiner nehmen kann. Mein Körper ist hier, meine  Gedanken aber sind frei. In unserem Fall ist klar, was wir tun, wenn wir schreiben. Ich verstehe jedoch nicht, warum du schreibst. Du bist frei, in Wirklichkeit ist der Knast aber überall für dich.

In der Tat ist Scopolis Leben für die Ich-Erzählerin eine Zuflucht aus ihrem Dasein, in dem Tod und Leben scheinbar sich die Waage halten. Ihr Roman wird jedoch „ein Manuskript im Tagebuch bleiben müssen, mit Korrekturen und Anmerkungen vollgekritzelt, eine hässliche, unlesbare Schrift, die nur ich entziffern kann“. Der Autorin fehlt es zuletzt an grundlegenden Ressourcen wie Strom und Papier. Ihr Roman bleibt im Tagebuch eingeschlossen. Die aggressive soziale Stimmung zwingt sie dazu, ohne Hab und Gut schließlich aus ihrer unsicher gewordenen Wohnung in die Garage ihrer Nachbarin Paula zu ziehen. Im Grunde ist dieser neue Wohnort mit einer Gefängniszelle vergleichbar. Die scheinbare Freiheit entpuppt sich als Gefangenschaft im Hier und Jetzt. Die Geschichten der Häftlinge könnten hingegen aus ihrer Sicht in der „Literaturbeilage“ einer Zeitschrift erscheinen und damit sich aus einem bestimmten Kontext befreien.

Der letzte Tagebucheintrag vom 31.12. klingt düster: „Ich wohne unter den Toten, dem Anschein nach lebendig.“ Das einzige, was hilft, ist das fehlende Lebensende, das Neverend: „Es gibt kein Ende, und das beruhigt.“

Den exzellenten Roman gibt es direkt (auch als E-Book) beim Wallstein Verlag zu bestellen. Die langen Zitate stehen auf den Seiten 5 und 213. Weitere Informationen (auch zum Autoren) bietet ein weiterer informativer Blogartikel.

Versuchsmodell – Modellversuch  – Einige Gedanken zum Film “Europa” von Lars von Trier

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Jeder Essay ist buchstäblich auch ein Versuch (wert). Und warum nicht gleich von einem Modellversuch sprechen, wenn eine Welt (re)konstruiert wird? Gerade im Medium Film liegt es nahe, eine Welt auch als Modell darzustellen, gerade wenn die Erzählabsicht nicht ausschließlich auf realen Fakten und Bezügen beruht.

Lars von Trier hat in seinen Filmen gerne das Modellhafte herangezogen, besonders in Dogville (2003). Als ich mich mit seinem Eisenbahn-Film Europa befasste, wurde es mir deswegen bewusst, weil die Modelleisenbahn als Filmmotiv diese Wahrnehmung geradezu aufdrängt.

Und da der Protagonist ein deutsch-amerikanischer Schlafwagenschaffner namens Leopold Kessler ist, erhält die Nacht im Medium Film eine übergeordnete Bedeutung. Die Kritik, allen voran der großartige, recht früh verstorbene Filmrezensent Michael Althen hat die Methode der Hypnose als filmisches Motiv vorangestellt. Durch sie wird der Film als Versuchsmodell noch plastischer, da in Bildern das Modellhafte in einer spezifischen Versuchsanordnung dargestellt wird, die unsere Wahrnehmung von Welt zumindest herausfordert, ähnlich wie in einem Trance-Zustand.

Während in der Adventszeit zumindest vom Evangelium Wachsamkeit eingefordert wird, zieht in der Heiligen Nacht auch die Ruhe und der Schlaf ein (man denke hier an das Lied Stille Nacht, heilige Nacht). Vielleicht findet mancher die wahre Stille der Nacht erst in einem mittels Hypnose manipulierten Bewusstsein?  Schlaf und Trance werden sicher auch dank  medizinischer Therapiemöglichkeiten in Zukunft sicher etwas stärker thematisiert.

Kessler lernt Deutschland kurz nach der Stunde Null kennen, unter anderem auch den zwielichtigen Unternehmer Hartmann als Chef der Eisenbahngesellschaft Zentropa und seine Tochter Katharina, mit der er ein Verhältnis eingeht. Hartmanns Rolle im Krieg kommentiert Katharina kurz nach seinem Freitod, im Grunde eine Kapitulation vor seiner auf sich genommenen Schuld, folgendermaßen:

Für Vater war Transport ein heiliges Wort. Für ihn war das Wichtigste, dass die Räder weiterrollten. […] In seinen Augen war ganz Deutschland wie eine Modelleisenbahn, die immer rundherum fuhr, und rund und rundherum. Und er redete sich ein, seine Waggons wären genauso leer wie seine Spielzeugzüge.

Der folgende Screenshot zeigt eine zerstörte Modelleisenbahn-Landschaft, bei deren Anblick man zwangsläufig an reale Kriegszerstörungen denken muss:

Modelleisenbahn-Landschaft in "Europa" von Lars von Trier
Zerstörte Modelleisenbahn-Landschaft. Screenshot aus: Europa (1991), Regie: Lars von Trier, 54’2”

Da ein Modell getroffen wurde, lässt sich hier jedoch auch an die zerstörerische Ideologie des Totalitarismus denken: Ein Modell bietet jedem Betrachter eine Totale, die sich in der Wirklichkeit eben nicht so leicht ergibt. Es liegt eine Gesamtschau vor, die in ihrer Gestaltung eine romantisierende Prägung erhält. Deutschland als Heimat der Modelleisenbahn: Spielzeugzüge lassen viele Kinder und natürlich auch Erwachsene fahren. In vielen Bahnhöfen der Deutschen Bahn betreut bis zum heutigen Tag die Wimmelbahn GmbH kleine Modelleisenbahnen, die gegen Münzeinwurf fahrbereit sind (vgl. Artikel „Der letzte Bahnchef“ von Raoul Löbbert vom 29.10.23 in Die Zeit).

Zur Wahrheit gehört auch, dass ohne das engmaschige Eisenbahnnetz in den 1940er Jahren längst nicht so viele Menschen in den Tod hätten geschickt werden können.  Anknüpfend an diese Erkenntnis verwandelt sich das Modellhafte, das im herkömmlichen Wortsinn Vor-Bild-Charakter für die Darstellung einer fingierten, gelungenen Wirklichkeit hat, in Europa in etwas Albtraumhaftes, das an eine misslungene Hypnose denken lässt.

„Äußerst unsicher, obs die Welt überhaupt noch gibt, wenn es draußen schwarz ist.“ Diesen Satz aus Albrecht Selges Eisenbahnroman Fliegen (erschienen 2019 im Rowohlt Verlag) könnte man für den ganzen Film Europa heranziehen. Das Zeitlose der Nacht wird hier in Bilder getaucht, die zusammen mit der exzellenten Filmmusik einen Zuschauer auch noch in den Schlaf begleiten können….

Der Film Europa, der bis Ende 2023 in der Arte-Mediathek verfügbar ist, ist der letzte Teil der Europa-Trilogie von Lars von Trier. Zu allen drei Filmen bietet der wissenschaftliche Beitrag von Dietmar Kammerer mit dem Titel „Traum-Reisen, Traum Geschichten“, erschienen 2009 im Sammelband Das Kino träumt. Projektion, Imagination, Vision sehr interessante Einsichten. Das längere Zitat findet sich am Anfang der 71. Filmminute.

Klangfarben – Über eine „Komposition“ von Adolf Hölzel

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Während das sinfonische Werk von Alexander Skrjabin auf synästhetische Weise Farben hervorscheinen lässt, tauchen aus den Gemälden von Adolf Hölzel Klänge auf. Diese sonderbare sinnliche Wahrnehmung mag auf die meisten Zuhörer bzw. Betrachter nicht zutreffen, doch Künstler ziehen ihre Schaffenskraft aus Ressourcen, die sich nicht vollends nachvollziehen lassen. Schon deswegen ist Kunst auch als Mysterium zu werten.

Der Titel Komposition (Anbetung) eines Gemäldes aus den 1920er Jahren zeigt bereits, dass sich die Nähe zur Musik aufdrängt. Das Werk war in einer Ausstellung der Sammlung Felix und Herlinde Peltzer-Stiftung im Altenburger Schloss zum ersten Mal in der Nähe des Ortes zu sehen, wo es als Dauerleihgabe beheimatet sein wird: 2021 wurde nämlich eine Kooperationsvereinbarung mit der besagten Stiftung und dem 2027 nach mehrjähriger Renovierung wiedereröffnenden Lindenau-Museum geschlossen, das somit um einen Schatz reicher wird.

Es fasziniert mich, wie ein Motiv, nämlich die Anbetung des jungen Jesus Christus, subtil in eine Art Farbenkosmos eingearbeitet wurde, ohne dass es einem unaufmerksamen Auge auffallen würde. Das Anbetungsmotiv kommt überdies in Hölzels Werk mehrfach vor, so dass man es leicht für eine spezifische vergleichende Forschung heranziehen könnte:

Adolf Hölzel: Komposition
Adolf Hölzel: Komposition (Anbetung), Pastell auf Papier, um 1925. Leihgabe aus der Sammlung Felix und Herlinde Peltzer. Foto: Lindenau-Museum Altenburg

In einem Aufsatz von Karin von Maur mit dem einschlägigen Titel „Hölzel und die Musik“ erfahren wir, dass der 1853 im mährischen Olmütz (Olomouc) geborene Hölzel schon vor dem Aufkommen des Expressionismus „an der Stuttgarter Akademie seit 1906 schwerpunktmäßig auf ein intensives Studium der Farben, ihrer Kontraste und der Wechselwirkungen“ Wert legte. Farbtafeln setzten an Farbenlehren des beginnenden 19. Jahrhunderts an, deren bekanntester Vertreter wohl Johann Wolfgang von Goethe war. Hölzel sprach 1919 auf einem Vortrag auf dem Ersten Deutschen Farbentag von einem „Toncharakter“ und  der Möglichkeit, ihn von einer „Tonart“ in eine andere zu „modulieren“ und dabei verschiedene „Klangfarben“ zu erzeugen. Hierbei muss es ein Vorteil gewesen sein, dass Hölzel seit seiner Kindheit regelmäßig Geige spielte und sich auch mit dem Kontrapunkt nach Johann Sebastian Bach vertraut machte. Dass Hölzel in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs Glasfenster im „Konferenz- und Festsaal der Keksfabrik Bahlsen in Hannover“ gestalten durfte (teils im Original erhalten, teils reproduziert), zeigt die hohe Wertschätzung, die dem Künstler in der Öffentlichkeit zuteil wurde.  Bei der künstlerischen Ausgestaltung  ist vom Künstler selbst ein Verweis auf Atonalität als ein Merkmal moderner Musik enthalten. Das  1916 fertiggestellte Ölgemälde Fuge (über ein Auferstehungsthema) enthält laut von Maur eine „markante Modulation“, die das Hell-Leuchtende einer Dur-Tonart und das Kühl-Dunkle einer Moll-Tonart zuweist: „Das Bildfeld wird so in zwei Farbzonen geteilt, die mit einem Tonart-Wechsel von ‚durverwandten’ nach ‚mollverwandten’ Tönen einhergeht.“ Es komme laut Hölzel also nicht auf den Gegenstand an, wenn es um das Harmonische geht.

Über das vorliegende Pastellbild Komposition (Anbetung) habe ich wenig Informationen gefunden, wohl auch deswegen, weil das Bild bisher nun im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum für die Öffentlichkeit zu sehen war.

Man könnte meinen, dass man bei der Betrachtung in ein Farbenklangbad aus kalten und warmen Tönen eintaucht. Dabei strukturieren gleichermaßen Linien und Flächenformen das Bild. Recht schnell bemerkte ich jedoch, dass das Unterscheidungsprinzip Linie-Fläche hier nicht aufgeht: Am rechten Bildrand lässt sich schön untersuchen, wo genau sich eine Linie und wo eine Fläche wahrnehmen lässt. Die Zuordnung fiel zumindest mir schwer, was wohl daran liegt, dass das Gemälde teilweise keine eindeutig bestimmbaren geometrischen Formen enthält. Ebenso wird mir bewusst, dass die Betrachter die Anbetenden und den Angebeteten nicht eindeutig von der Umgebung abgrenzen können. Das Objekthafte fehlt und kann nur imaginär mitgedacht werden. Genau das macht ja die Bildkomposition aus: Es gibt keine Hierarchien, weder ein Zentrum noch eine Peripherie. Nur aus unserem visuellen Erfahrungswissen können wir uns das geneigte Haupt im wahrsten Sinne des Wortes einbilden. Es wird ganz sicher vom Bilderfahrungsschatz des Betrachters abhängen, ob, und wenn ja, wie stark eine Anbetungsszene imaginiert wird. Zweifelsohne hätten viele Betrachter – mich eingeschlossen – ohne den Titel keine Anbetung wahrgenommen. Nun, ein wacher Blick mag die Grundfarben Rot-Blau-Gelb in relativ mittiger Position ausmachen, die in ihrer Anordnung die Interpretation mit dem Inhalt vorgebeugter Oberkörper plausibel erscheinen lässt. Nicht nur mein Auge, so vermute ich, wird wohl zu dieser Farbkonstellation hingeführt, ohne dass es eines längeren Suchvorgangs bedürfte. Und schließlich öffnet sich das ganze Werk hin zu diesem Anbetungsmotiv, da es in manchen ähnlichen Formen, in denen sich unabhängig von der Farbwahl ein geneigter Kopf erkennen lässt, angedeutet wird. So erfüllt sich auch der Titel Komposition: Das Werk ist quasi durchwirkt von einem zentralen Konzept, das Bildgestaltung und -inhalt miteinander verknüpft.

Ein langes Künstlerleben ging erst 1934 in Stuttgart zu Ende. So erlebte Adolf Hölzel viele Stilrichtungen, ohne dass er einer bestimmten Epoche zugeschrieben würde. Das macht sein Werk besonders spannend. Eine große (Wieder-) Entdeckung seines eher vernachlässigten Werks steht wohl noch aus. Ganz klar: Der alte Goethe hat diesen Farbrausch nie zu sehen bekommen. Dass wir diese Komposition(en) entdecken können, ist unser großes Privileg!

Herzlichen Dank an das Lindenau-Museum Altenburg, insbesondere an Frau Anna Lutz, und an die Felix und Herlinde Peltzer-Stiftung für die Abbildungsgenehmigung! Ebenso sei Vincent Rudolf, ehemaliger Mitarbeiter des Suermondt-Ludwig-Museums für seine bibliografischen Auskünfte gedankt. Die Zitate aus dem Aufsatz von Karin von Maur finden sich auf den Seiten 130ff. im Sammelband Vision Farbe. Adolf Hölzel und die Moderne, herausgegeben 2015 von Christoph Wagner und Gerhard Leistner im Wilhelm Fink Verlag.

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