Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Kategorie: AufgeDreht. Seite 1 von 3

Hörbares, mit oder ohne Sprache, auf Tonträger gebannt, in den Bann ziehend, verzaubernd unwiderstehlich beim wiederholten Hören.

Mischbatterie  Jazz – Über eine „Episode“ von Manfred Schmitz

Beitrag oben halten

Es gibt Fragen, die sich einfach nicht beantworten lassen, aber trotzdem sinnvoll artikuliert werden können. Zum Beispiel: Wer spielte wo in den 1980er Jahren einige der 22 Stücke, die der an der Weimarer Musikhochschule lehrende Klavierpädagoge Manfred Schmitz (1939 – 2014) im Deutschen Verlag für Musik Leipzig um 1984 unter dem Titel Romantisches Intermezzo veröffentlichte?

Etwas irreführend ist der Titel schon, denn in engerem Sinne ist nur ein Stück als solches bezeichnet. Der Singular verweist in der Welt der Musik auf ein kurzes Zwischenspiel; außerhalb der Musik könnte man bei einem Intermezzo auch von einem Zwischenfall sprechen, der Heiterkeit auf sich gezogen hätte.

Für eine Stückesammlung klingt es jedoch überzeugend: Denn der Geist der Kompositionen (u.a. ist ein Lullaby, eine Berceuse und eine Barcarole enthalten) speist sich aus romantischen Vorstellungen, Ideen, Gedanken etc.; und bei einem Intermezzo kann man ja auch an den Zeitraum denken, in dem das eine oder andere Stück vorgetragen wird.

Ein Stück aus der Sammlung, das ich neulich vorspielen durfte, heißt Episode, was sich ebenfalls als Zwischenspiel bezeichnen lässt. Insofern erfüllt es ganz und gar den Gedanken eines Intermezzos. Faszinierend ist, wie Manfred Schmitz besonders in diesem kurzen Stück dem Klavierschüler die Klangwelt des Jazz näherzubringen wusste. Anschaulich mag dies durch das Notenbild erscheinen:

Auszug aus "Episode", aus: "Romantisches Intermezzo" von Manfred Schmitz
Takte 9 – 21 des Stücks Episode, aus: Romantisches Intermezzo (22 Stücke für Klavier), Deutscher Verlag für Musik Komponist: Manfred Schmitz

Mir geht es um letzten sechs Takte des Stücks. Heutzutage sind die darin enthaltenen Akkorde kein großes Kino mehr; man würde sie leicht überhören, weil wir in der Öffentlichkeit mit ihnen vertraut sind. Doch in einem Land wie der DDR, wo die immer stärker Jazzszene toleriert wurde, doch auch mit Hindernissen zu kämpfen hatte, müssen diese Klänge außergewöhnlich wahrgenommen worden sein, gerade wenn man die Klangwelt eines Klaviers näher kennenlernen wollte. Jeder Akkord in diesen sechs Takten ist von solcher Schönheit, dass man jeden einzelnen wiederholt anschlagen und sich dabei ein Stimmungsbild ausmalen könnte. Auf mich wirken die Harmonien, die unklaren Charakters sind, in ihrer Zusammen-stellung verzaubernd, auch weil sie nicht abstrakt oder verkopft aufgenommen werden. Die Spielanweisung dolce zeigt, dass man die Töne gleichzeitig laut und möglichst zart anschlagen soll. Zusammen mit dem geforderten Tempo rubato (88 Viertel-Schläge pro Minute) bedeutet dies ein gewisses Auskosten der Töne, also eine gewisse Verlängerung leicht akzentuierter Viertelnoten aus interpretatorischen Gründen, wobei dann zum Ausgleich einzelne weitere Noten auch verkürzt gespielt werden sollten, um das Tempo insgesamt nicht zu verschleppen.

Auch hier passt wiederum der Intermezzo-Gedanke, da es auf das Dazwischen der Akkorde ankommt. Mein Jazzklavier-Lehrer sprach kurzerhand von „zwischengeschlechtlichen“ Akkorden, eben weil sie nicht glasklar einer Harmonie zugeordnet werden können und zwei Harmonien (eine in der linken und eine in der rechten Hand) verknüpft werden. Der erste Akkord in Takt 16 verbindet einen G-Dur-Septakkord mit einem A-Moll-Septakkord. Und wenn Dur und Moll zeitgleich aufeinanderprallen, dann vermischt sich die Klangpalette so sehr, dass man in einer Art Gefühls-Zwischenraum verharrt, in der die Unklarheit zum Ausdruck kommt. Gleichsam wie in einer Episode, die merkwürdig ohne eindeutiges Fazit, also ohne: „Lange Rede  – kurzer Sinn!“ in Erinnerung bleibt.

Manfred Schmitz muss ein sehr interessanter Klavierpädagoge gewesen sein. Wenn ich das Romantische Intermezzo Anfang der 90er Jahre erhalten hätte, dann hätte ich wohl noch länger Klavier geübt. Und ich hätte gelernt, dass jazzige Elemente auch Teil eines romantischen Musik-Universums sein können und eine Trennung zwischen Jazz und Klassik wenig Sinn ergibt.

In diesem Sinne ist Romantisches Intermezzo eine wunderbare Entdeckungsreise für das Gehör, während sich gewisse technische Fähigkeiten nebenbei entwickeln lassen. Pädagogisch äußerst reizvoll, auch noch im 21. Jahrhundert!

Hintergrundinformationen zur DDR-Jazzszene gibt es auf einer mdr-Seite. Bei Breitkopf und Härtel kann man die Stückesammlung bestellen. Eine Interpretation der Episode von Juliane Steinwachs-Zeil gibt es hier. You-Tube-Video Näheres zu Manfred Schmitz gibt es in der Neuen Musikzeitung.

Unwägbare Melancholie – Gedanken zu zwei Songs über eine hohe Regen-wahrscheinlichkeit

Beitrag oben halten

Auf der Rückfahrt von einem sonnigen Winterspaziergang im Erzgebirge hörte ich im Autoradio das Lied Regenwahrscheinlichkeit 100% von Michel van Dyke, der schon fast 40 Jahre im Musikgeschäft tätig ist. Als Teenager kam er aus den Niederlanden nach Deutschland, wo er sich dann auch niederließ. Von ihm hatte ich noch etwas gehörteindeutig ein Versäumnis.  Sein Album Bossa Nova, bereits 2005 veröffentlicht, verrät das Genre dieses Liedes, das vom Text her nicht besonders leicht verständlich ist:

„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen muss“ als letzte Liedzeile bleibt neben dem Titel im Kopf. Die Melancholie des Liedes kann nur eine alles andere als romantische Stimmung widerspiegeln: „seltsam vertraut“, „irgendwie diffus“ sind Zuschreibungen, die eindeutig Ambivalenz ausdrücken.  Nähe und Distanz halten sich die Waage.  Immerhin hat die Liebesbeziehung, von der die Rede ist, eine tiefe Krise überstanden. Ob sie ein gutes Ende nehmen wird, bleibt natürlich offen. Die 100% drücken definitiv eine gewisse Sicherheit aus, was die Prognose anbetrifft. Mit anderen Worten: Vollkommen uneindeutig ist die Stimmung nicht.

Das vom Grafikdesigner mit dem Künstlernamen geboren thielsch gestaltete Album (ab den späten 90er Jahren bekannt unter dem Namen Walter Welke; davor unter Walter Thielsch) kann man jedenfalls ironisch betrachten, da auf dem Cover nichts auf Regenwahrscheinlichkeit hinweist. Auch hier halten sich das Artifizielle und das Natürliche die Waage: Das Motiv zog mich sofort in den Bann, auch weil das auf den ersten Blick außergewöhnliche Landschaftsmotiv, das ein bürgerlich eingerichtetes Wohnzimmer als Ausblick zu bieten hat, als starker Kontrast zum Interieur wirkt.  

Michel van Dyke: Bossa Nova
Albumcover von “Bossa Nova”, gestaltet von geboren thielsch; Interpret: Michel van Dyke

Es wird explizit auf der Internetseite des 2011 verstorbenen Grafikers auf den „Sound  der Sechziger“ verwiesen, der kreativ neu aufgesetzt wird. Man hat den Eindruck, dass hier ein digitales Hörerlebnis nicht ausreicht, sondern die Hardware, also das Album als Produkt zum besseren Einhören einfach dazugehört.  Ganz ohne (mentale) Bilder kommt diese feinfühlige Musik jedenfalls nicht aus.

Bei Bossa Nova als seit den 1960er Jahren verbreitetem brasilianischen Tanz, gekoppelt mit einem deutschsprachigen Text, empfiehlt sich ein genaueres Zuhören. Der 4/4 Takt (oder handelt es sich um eine andere Taktart?) wirkt schleppend, dazu dieser sperrige Titel, den man ansonsten nur von Wettervorhersagen kennt, mit der Betonung auf den Silben „re“, „schein“, „Hun“ und „zent“.

Zum Vergleich hat die mit Jan Josef Liefers liierte Schauspielerin und Sängerin Anna Loos 2023 einen Disko-Fox-Song mit dem Titel Regenwahrscheinlichkeit in ihrem Album Das Leben ist schön veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Loos van Dykes Song kennt, da dieser mit ihrem Ehemann zusammengearbeitet hat. Der Song ist recht konventionell komponiert, wobei der Inhalt ebenfalls auf den dunklen Kontext der Liebesbeziehung abzielt, dessen Botschaft im Refrain recht klar ist:

Wir haben uns verlaufen / Sind nass bis auf die Haut / An all den dunklen Tagen / Wächst die Regenwahrscheinlichkeit.

Selbst wenn dunkle Wolken aufziehen/ und uns das Wasser bis zum Hals steht / Dann soll es so sein /Es geht schon wieder vorbei / mit der Regenwahrscheinlichkeit.

Die erlebte und gefühlte Distanz zueinander soll überwunden und schließlich die „Wolkenwand“ durchbrochen werden. Die letzte Refrainzeile kann mich jedoch nicht überzeugen: Warum und wie sollte eine Regenwahrscheinlichkeit vorbei gehen? Wie kann ein Phänomen auf 0% gedrückt werden?

Allgemein freut es mich, dass Regenwahrscheinlichkeit als Begriff im Zeitalter von häufig abgerufenen Wetterradardaten Hitpotenzial hat. Oft ist auch die Wetterküche unvorhersehbar; und Regen kann nicht per se als negativ interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne in naher Zukunft wieder scheinen wird, liegt jedenfalls auch bei 100%.

Übrigens lohnt sich auch der Song Neu in dieser Stadt aus van Dykes Album. Hier wird mit einem eingängig komponierten Soundteppich die Melancholie auch ohne Präsenz des Textes vergegenwärtigt. Das Album ist in geringen Stückzahlen gebraucht auf verschiedenen Plattformen erhältlich, z.B. auf rebuy.

„Ich – König“  – Zu einem besonderen Klaviergespräch

Beitrag oben halten

Das Sächsische Mozartfest bietet keinesfalls nur einen Fokus auf die Wiener Klassik, also auf das späte 18. Jahrhundert. Es wagt auch einen Blick über den ästhetischen Tellerrand hinaus. Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass der Jazzkomponist Stephan König nicht nur auf diesem Fest musizieren, sondern auch den Mozartpreis 2024 von der Sächsischen Mozart-Gesellschaft) bekommen würde.

Stephan König ist wohl nur eingeweihten Jazzenthusiasten ein Begriff. Als ich 2021 in einem großen Leipziger Notenladen unweit des Gewandhauses den Band 12 Préludes. Jazzinspirierte Klangbilder entdeckte, war mir bewusst, dass sie für mich, der ich in meinen Jugendjahren kaum mit dem Jazz in Berührung kam, eine große Herausforderung bieten würden. Ohne meinen Lehrer Thomas Unger am Zwickauer Robert-Schumann-Konservatorium eine allzu schwere Hürde. Die Stücke sind durch eine ungeheure Klangvielfalt gekennzeichnet; zumindest klingen einzelne Takte immer wieder anders, je nach eigener Stimmung. Sie zeigen Königs Anspruch, Komposition und Improvisation miteinander zu verbinden, ebenso wie verschiedene Genres der Klaviermusik. Um puristischen Jazz handelt es sich also nicht.

Ein Klaviergespräch wie Anfang Mai verbindet Musik und eine gewisse Neugier auf Hintergrundinformationen über eine Komposition bzw. einen Komponisten.  Die Halle der Villa Esche, am Rande des Chemnitzer Stadtzentrums, 1903 für den Textilunternehmer Rudolf Esche fertiggestellt und nach mehrjähriger Renovierung  um die Jahrtausendwende als Veranstaltungs- und Tagungsort konzipiert, eignet sich hervorragend für ein solches Gespräch, das eine Ausprägung von Salonkultur ist.  Gut möglich, dass der Architekt Henry van de Velde auch schon an diese Möglichkeit gedacht hatte. Weniger intim als in einem beengten Wohnzimmerkonzert können die Klänge sich leicht in die oberen Etagen verflüchtigen. Für Gesang und Instrumentalmusik ergeben sich hier sicher besondere akustische Phänomene.

Die MDR-Radiomoderatorin Julia Hemmerling leitete souverän und unterhaltsam das Gespräch. Die Fragen führten angenehm in ein Universum hinein, das eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Die Stimmung ist, wie wir wissen, vom Gebäude abhängig, und damit auch die Harmoniefolge: Die Villa-Esche sei für den A-Dur-Dreiklang prädestiniert, wenn man König Glauben schenkt. Faszinierend. Der Laie kann hier keine Erklärung verlangen, genauso wenig wie bei Farbstimmungen. Es gelten hier nicht die Gesetze der Logik, sondern allein die Gefühle, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind.   

Man kann jedoch das Ephemere der Musik begreifen, denn genauso schnell wie sie entsteht, verschwindet sie auch. Im Moment des Klangs gebe es laut König eine Spannung, die auch den „Aspekt des Loslassens“ impliziert, also eine Entspannung.

Im zweiten Gesprächsteil erzählte Stephan König von seinem Studium an der Leipziger Hochschule für Musik, wo er laut Homepage als „Diplom-Dirigent, Diplom-Pianist und Diplom-Komponist“ abschloss, und von seinem Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee kurz vor und während der Wendezeit. Widerstände gegen seine Art des Musizierens spürte er während des Studiums, gerade weil er an der Hochschule öfters statt der vorgesehenen Stücke improvisierte. Gerettet habe ihn in der Kaserne der Zugang zu einem Klavier in einem Dachzimmer, wohin er sich nachts geschlichen habe.

In seinen Improvisationen baute er an dem Abend jeweils einen der drei Sätze des 23. Klavierkonzerts (in A-Dur) von W.A. Mozart ein. Ein kühnes Unterfangen, das mich an das Schumannfest 2023 erinnerte, auf dem Johanna Summer während ihres Solo-Konzerts Kompositionen von Robert Schumann in ihr Werk einflochte.

Im Programmheft ist die Rede davon, dass Stephan Königs Klangwelten einen  „Perspektivwechsel des Hörens, somit des Denkens und Empfindens“ ermöglicht. Im Moment des Live-Erlebnisses wird diese eher plakative Formulierung plastisch. Sicherlich werde ich im Laufe des Jahres einen weiteren Ort mit neuen König-Momenten aufsuchen. Und dann werde ich auch wieder anders hören, denken und empfinden. Und womöglich etwas besser improvisieren können….

Drei Préludes von Stephan König können auf seiner Homepage angehört werden. Die Einspielung kann im Online-Musikalienhandel erworben werden, die dazugehörigen Noten über stretta-music.

In die Tiefe der Sprach-Maschine – Über den halbautomatischen Zugang zu einem spanischen Popsong

Beitrag oben halten

Deep-L ist mittlerweile zu einem recht bewährten Werkzeug geworden, mit dem sich nicht nur gut übersetzen, sondern auch zusammenfassen lässt. Das Potenzial ist gewaltig.

Als ich im Studium Spanisch lernte, kam die poetische Kraft der Sprache eindeutig zu kurz. Doch als ich Ende August auf Deutschlandfunk Kultur den ruhigen Popsong Ámbar – zu deutsch: bernsteinfarben – von Calavera hörte, dachte ich mir, wie schön es wäre, nicht nur einige Brocken im Audioradio aufzuschnappen, sondern auch den ganzen Liedtext zu durchdringen. Außerdem hilft es, wenn man dank der kostenlosen Version von Deep-L eine schnelle Übersetzung ins Deutsche erhält (und dazu auch kurze Zusammenfassung des Liedtextes). Zweimal – am 04.09. und am 28.09. – bemühte ich das Tool: Während die beiden gelieferten Übersetzungen so gut wie übereinstimmen, sind die Zusammenfassungen komplett verschieden. Als mögliches Unterrichtsthema wäre es nun sinnvoll, diese beiden Version miteinander zu vergleichen. Während der erste Versuch sehr stark am Liedtext klebt, ist der zweite deutlich freier und vor allem auch abstrakter formuliert, so dass hier das Interpretatorische stärker hervorkommt. Genau das ist ja wichtig, um sich von dem Modus des Beschreibens zu lösen und Bedeutungen herauszufiltern, ohne dabei besondere Ausdrücke aus dem Blick zu verlieren:

Am 04.09. hieß es:

Der Text handelt von einer Person, die von einem Zug springt und sich plötzlich alleine fühlt. Sie sehnt sich nach der Anwesenheit einer anderen Person und vermisst deren Fußabdrücke. (…) Sie braucht diese Person mehr als andere und wenn diese nicht in ihrer Nähe ist, verliert sie sich immer wieder in der Stadt.

Am 28.09. las es sich ganz anders:

Der Text handelt von einem Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit in einer Stadt. Die Protagonistin erinnert sich an eine vergangene Beziehung und sehnt sich nach der Anwesenheit der Person. (…) Die Stadt symbolisiert dabei ihre eigene innere Leere. (…) Dieses Verlieren in der Stadt symbolisiert auch das Verlieren von sich selbst und einer Identität ohne die besagte Person.

Das klingt deutlich überzeugender, wenngleich es voreilig ist, die Stadt als Symbol zu sehen.  In ihr ist die Einsamkeit zu beobachten, doch wird  sie nicht beschreibend  einbezogen. Im Refrain heißt es:

Sigo perdiéndome en la ciudad

Si ya no tengo a dónde ir

Te necesito más que a los demás

Sigo perdiéndome en la ciudad

Si no te tengo junto a mí

Es que prefiero recordarte así

Como una luz en la oscuridad

Die deutsche Übersetzung gibt den Text fehlerfrei wieder:

Ich verliere mich immer wieder in der Stadt

Wenn ich nirgendwo anders hingehen kann

Ich brauche dich mehr als die anderen

Verliere ich mich immer wieder in der Stadt

Wenn ich dich nicht neben mir habe

Ich würde mich lieber so an dich erinnern

Wie ein Licht in der Dunkelheit

Diese gute Übersetzungsleistung reicht jedoch nicht aus, um gänzlich richtige Schlüsse daraus zu ziehen. Beziehungsverlust führt letztlich oft zu Einsamkeit, doch was kann in diesem Kontext die Stadt dafür?

Die erste Strophe mag als Beispiel dafür dienen, wie im Original eine bestimmte Verlust-Stimmung einer geliebten Person beschrieben wird:

Bajé de un salto

De tu tren en marcha

Rodé sobre la escarcha en el asfalto

Sentí tu falta

Y ahora me asaltas

Y ya no queda ni rastro de tus huellas descalzas

Im Deutschen wird dies auf Deep-L folgendermaßen (nach einem groben wiederholten grammatischen Fehler in den September-Versionen) am 05.10. übersetzt:

Ich sprang hinunter von deinem fahrenden Zug

Ich rollte über den Frost auf dem Asphalt

Ich fühlte deine Abwesenheit und jetzt überfällst du mich

Und es gibt keine Spur mehr von deinen barfußigen Fußabdrücken

„Barfußige Fußabdrücke“ klingt mit insgesamt acht Silben wenig elegant; „rollen“ wäre besser freier mit „schlittern“ oder „sich treiben“ übersetzt, wodurch die kreisende Vorstellung des Ausgangsverbs verloren geht. „Escarcha“ ist mehr der (funkelnde) Raureif als bloßer Frost. Gänzlich falsch wurde das Verb „asaltas“ (Infinitiv: asaltar) am 04.09. und am 28.09. im Imperativ als eine Art Aufforderung mit „überfallen“ übersetzt. Warum eigentlich? Es handelt sich ja um den Indikativ, was in der Oktober-Übersetzung (endlich!) grammatisch richtig gestellt wurde.  Auf Deutsch lässt sich das nur ungut wiedergeben; man könnte hier vielleicht mit „Nun komme ich nicht von dir los“ übersetzen.  Im Spanischen dürfte die Verknüpfung des Springens, nämlich des Absprungs mit „bajé de un salto“ (Zeile 1 – Infinitiv: bajar de un salto) und des mentalen Aufspringens mit „asaltas“ (Zeile 5 – Infinitiv: asaltar) möglich sein, wenn man sich jeweils einen (Beziehungs-)Zug dazudenkt. Von einem fahrenden Zug zu springen lässt sich als Trennung ohne eindeutiges Motiv verstehen; nun ist die physische Abwesenheit und die gedankliche Anwesenheit des Gegenübers stark ausgeprägt: Inhaltlich kann es ja demnach beim Aufspringen nur um ein mentales Belagern, nicht um ein Überfallen gehen (Stichwort: Spurenlosigkeit).  Hier merkt man, wie schwierig es für die KI immer noch ist, die richtige Bedeutung des Verbs aus dem besungenen Kontext  herauszulesen.

Kurz noch zum Musikalischen: Dieser Song ist raffiniert psychedelisch komponiert. Besonders gelungen finde ich die harmonischen Wechsel auf den Endsilben „tí“, „ir“ und „mí“, der nach meinem Eindruck einen Ton-Sprung wiedergibt, der den Original-Text  gut illustriert.  So passt der Titel „bernsteinfarben“ sehr gut, der sich zumindest im Songvideo auf ein blinkendes Ampellicht bezieht. Wer nun glaubt, dass dieses Licht im Reich der Poesie verbleibt, irrt: Auf der Homepage der Stadt Mainz wird sogar für den Einsatz dieser Farbe für Beleuchtungszwecke geworben: „Sogenannte Amber-LED-Leuchten strahlen langwelliges, bernsteinfarbenes Licht ab und haben sich als sehr umweltfreundlich erwiesen.“ Bezogen auf Calveras Song poetischer formuliert: Ámbar ist im wahrsten Sinne ein Glanzlicht!

Das Lied kann hier (in Verknüpfung mit einem Musikvideo) nachgehört und der Songtext nachgelesen werden.

Beethovens Chorfantasie in neuem Text-Gewand

Beitrag oben halten

Mit einem gewissen Augenzwinkern könnte man es als Jahrhundertereignis bezeichnen, dass die Chorfantasie von Ludwig von Beethoven 2020 eine neue, längere (acht statt sechs Strophen!) Textfassung erhielt. Und das von niemand geringerem als von Prof. Norbert Lammert, dem langjährigen Bundestagspräsidenten. Das ungewöhnliche Werk für Chor, Orchester und Klavier (Opus 80) hätte im Beethoven-Jahr 2020 mit dieser Fassung in der Essener Philharmonie Premiere gehabt; aufgrund der Pandemie wurde sie am 10. Juni 2023 innerhalb eines festlichen, gattungsübergreifenden und deshalb aus der Reihe fallenden Rahmens aufgeführt. Nur durch diese mehrjährige Verspätung kam ich in den Live-Genuss, da mein Vater seinen 75. Geburtstag mit diesem Beethoven-Abend krönte. Übrigens hatte eine Kammermusik-Version (für Chor und Klavier zu vier Händen) am 3. Oktober 2020 Premiere; selbstverständlich am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Lammert leitet.

Prof. Lammert äußert sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung er verweist auf seiner Homepage auf seinen Artikel zu dem ungewöhnlichen Arbeitsauftrag. Er erinnerte dabei daran, dass Beethoven „Rahmen aufgebrochen hat, ohne sie zu zerstören“. Die Chorfantasie und die Weiterentwicklung in eine Sinfonie, nämlich der Neunten, erwähnt Lammert als Beispiel für eben jenen aufgebrochenen Rahmen. Der Melodiekern der Vertonung von Schillers An die Freude findet sich nämlich schon in der außergewöhnlichen Chorfantasie.

Den ersten Text steuerte ebenfalls ein politisch Tätiger bei, nämlich der Dichter und „Geheime Staats- und Konferenzrat“ Christoph Kuffner (1780-1846) im Jahre 1808. Der „Dichter und Kulturminister“ der Deutschen Demokratischen Republik, Johannes Becher (1891-1958), textete 1951 die zweite Version. Also auch zumindest im weiteren Sinne ein Politiker.  Was liegt näher, die drei Textversionen der Chorfantasie miteinander zu vergleichen? Vorarbeit wurde schon geleistet: In der Zeitschrift Musik und Kirche werden in der sechsten Ausgabe des Jahres 2021 die drei Versionen gegenübergestellt. Der Autor Stephan Eisel betont in seinem Aufsatz (Titel: „‚vielleicht einen anderen Text’. Drei Texte für Beethovens Chorfantasie“) , dass der Frieden in allen drei Versionen thematisiert werde. Weitere inhaltliche Angaben macht er aber so gut wie nicht.

Kuffners Text wurde schon zu seinen Lebzeiten eher als mäßig beschrieben. In seiner dritten Strophe heißt es:

 Wenn der Töne Zauber walten

 Und des Wortes Weihe spricht

 Muss sich Herrliches gestalten

Nacht und Stürme werden Licht.

Wenn das keine Ode an die Kunst ist? Der Begriff ‚Schönheitssinn’ in der zweiten Liedzeile wird hier noch einmal in einer Überhöhung künstlerischer Gestaltung vor Augen geführt. Becher verändert nicht viel in seiner Version, doch eindeutig wird die Kunst in Zusammenhang mit einer friedfertigen, freiheitsliebenden Menschheit gebracht :

Wo sich Völker frei entfalten

Und des Friedens Stimme spricht

Muss sich Herrliches gestalten

Nacht und Träume werden Licht.  

Vor der künstlerischen Gestaltungsmacht ist also Frieden die Vorbedingung; die politische Dimension wird bereits deutlich spürbar. Bei Norbert Lammert wird der hohe Wert des Friedens innerhalb Europas Gesellschaften nun vollends in den Vordergrund gestellt, wenn wir in der fünften Strophe hören:

Traut dem Frieden, Europäer

Schätzt und schützt ihn allezeit

Glaubt den Aufgeklärten eher,

Als den Gegnern weit und breit.

Die Kunst wird in der dritten Version nicht noch einmal neu besungen – an ihrem hohen Wert gibt es keinen Zweifel. Doch wir haben gelernt, dass das Schätzen und Schützen von Werten, also auch dem Frieden, einer gewissen Anstrengung bedarf. Diese beiden wichtigen Verben, die phonetisch nur ein Umlaut unterscheidet, kann man in der Chorfantasie deutlich heraushören. Die Botschaft beinhaltet auch, dass es auf der Welt noch zu viele Friedensgegner gibt.

Die Vorstellung des Aufgeklärt-Seins bezieht sich hier weniger auf das Jahrhundert der Aufklärung, sondern mehr auf das Verständnis von Frieden und dessen Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander, das sich im europäischen Geist als Friedensethik ausformulieren lässt.

Lammert sprach im Sommer 2017 vor dem serbischen Parlament und erläuterte dabei, inwieweit ein Demokratieverständnis konstitutiv (also wie eine Verfassung) diesen europäischen Geist prägt:

Aus der Diktaturerfahrung und der Wahrnehmung einer entsetzlichen historischen Schuld, die wir auch und gerade gegenüber unseren europäischen Nachbarn eingegangen sind, ist ein neues Verständnis von Demokratie und Verfassung gewachsen, auch ein neues Verständnis vom notwendigen Umgang von Demokraten miteinander: ein anderes Verständnis von der notwendigen Balance zwischen Konkurrenz und Konsens, zwischen Konflikt und Kompromiss, zwischen Interessen und Überzeugungen. […]

Europa ist nicht nur ein großes Versprechen, es ist auch eine große wechselseitige Verpflichtung und nur mit der Erfüllung dieser freiwillig eingegangenen Verpflichtungen lässt sich das große Versprechen einlösen.

Ich persönlich höre nach Lammerts Text die Chorfantaise und ebenso Beethovens 9. Sinfonie anders als vorher. „Freude schöner Götterfunken“ klingt poetisch-erhaben, doch kann ich mich mit diesem Text nicht vollkommen identifizieren. Euphorie mag sich für mich bei diesen Worten und Klängen nicht einstellen. Ich finde es zugänglicher, Elemente der (problematischen) Wirklichkeit in einen Gesangstext aufzunehmen. Denn so werden Herausforderungen akzentuiert und nicht nur ferne, unerreichbare Höhen, die nur im Augenblick einen Klang-Rausch erzeugen können. Lammerts Worte dringen tiefer ein, auch wenn andere meinen könnten, dass bei ihm ästhetisch-klangvolles Vokabular ein wenig zu kurz kommt. Das mag sein, doch das haben Kuffner, Becher und natürlich auch Schiller in seiner Ode An die Freude schon geleistet. Die Appellfunktion ist nun stärker denn je; und das ist der Ruf des Augenblicks. Der Konzertsaal ist die eine Bühne, das europäische Parlament die andere Wirkungsstätte. Und wenn ich beide Orte zusammen denke, so erscheint mir die Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version mit eigenständiger Akzentsetzung wie eine musikalische Klammer, die es auch nach Brüssel zur Aufführung schaffen sollte. Vielleicht hört dann der eine oder andere EU-Parlamentarier zu; natürlich sollte die Textversion auch in alle im Parlament vertretenen Sprachen übertragen werden. Ob dann noch jemand an die Vokabel „feuertrunken“ (das Reimwort zu Götterfunken) denkt?

Ein Mitschnitt der Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version findet sich online noch nicht. Deswegen kommt hier ein Mitschnitt mit der Kuffner’schen Textversion aus dem Jahr 2014 (Solist: Frank Dupree). Und hier noch einmal das ungewöhnliche Programm mit dem Titel Ewig uns in der Essener Philharmonie am 10.06.23, bei dem auch Frank Dupree mitwirkte.  

Klangmalerei – Über Johanna Summers Album “Schumann Kaleidoskop”

Beitrag oben halten

Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache hatte um das Jahr 2000 herum das Wort ‚verjazzen’ Hochkonjunktur. Ohne dieser Angabe nun näher nachzugehen lässt sich sagen, dass man auch schon vor dem Beginn des 21. Jahrhunderts klassische Kompositionen gern neu arrangierte und dabei Jazzakkorde und -kadenzen eingesetzt wurden. Man denke an das Tonmaterial von Johann Sebastian Bach, das sich hierfür hervorragend eignet.

Schumann Kaleidoskop
Johanna Summer: Schumann Kaleidoskop. Act Music, 2020.

Man wird wohl schwerlich eine seriösere Auseinandersetzung mit dem Original finden als bei Johanna Summer, die Mitte der Neunziger Jahre in Plauen geboren wurde. Dass ihr Album Schumann Kaleidoskop bei Act Music herauskommen ist, zeigt bereits die hervorragende Qualität. Der Slogan des Labels „In the Spirit of Jazz“ lässt sich bei Summer in jedem Takt heraushören, wenngleich ich die Live-Performance beim Schumann-Fest in Zwickau noch deutlich eindrucksvoller fand als die CD-Aufnahme. Das hat womöglich zwei  nicht-objektivierbare Gründe:

Faktor Intensität: Die Kombination von zwei Schumann-Stücken pro Track  bzw. pro Programmelement erstreckt sich im Live-Konzert auf ca. 20 Minuten, während sie auf der CD nur etwa halb so lang ist. Diese zeitliche Dehnung ist natürlich flexibel, weil es sich ja um Improvisationen handelt und jedes Mal dabei etwas anderes herauskommt. Eine Studioaufnahme bringt ein anderes Ergebnis hervor als ein Konzert. Und möglicherweise spräche gegen einen Konzert-Mitschnitt, dass man sich auf Tonträgern lieber kürzere Einheiten anhört. Auf jeden Fall ist es auffällig, wie stark der Höreindruck variiert, obwohl doch das Konzept gleich ist. Genau zehn Minuten dauert der erste Track, der Original-Klänge der Stücke Glückes genug aus den Kinderszenen (op. 15) und Erster Verlust aus dem Album für die Jugend (opus 68) von Robert Schumann beinhaltet.  Ich finde, dass ein Kaleidoskop eine schillernde Betrachtung impliziert, dessen Facettenreichtum idealerweise in einem längeren Konzertstück in Erscheinung tritt. Und da wirken 20 Minuten einfach intensiver, da der Zuhörer quasi über Klangmalerei einen umfangreicheren Hörkosmos betritt. Es scheint unmöglich (auch wenn es nicht der Fall ist), diesen Kosmos auf bedruckten Notenblättern zu bannen, da sich bei der Auseinandersetzung mit Tonmaterial hier keine lineare Darstellung aufdrängt. Es kommt einem wie eine Tiefenbohrung quer durch Tonschichten bzw. Klangschichten vor.

Faktor Präsenz: Der etwa 90-minütige Auftritt auf der Hauptbühne beim Schumann-Fest, ganz in der Nähe des Schwanenteichs, brachte die Klangmalerei besonders einmalig zur Geltung: Einerseits die technische Komponente der geschickt gestaffelten Akkorde, die über die (womöglich nicht ganz perfekt eingestellten) Verstärker teilweise schroff ins Publikum schallten, andererseits die gefühlvollen Modulationen, die auch von den in nahen Baumwipfeln sitzenden Vögeln akustisch ergänzt wurden. Auf der großen Wiese waren die Stuhlreihen eher locker besetzt;  sehr beliebt schienen hingegen hingegen die einzelnen überdimensionalen Lounge-Kissen zu sein. Doch hier fehlte mir die erforderliche Aufmerksamkeit für die Künstlerin, so dass ich mich im Laufe des Konzerts in die vorderste Reihe vorarbeitete. Johanna Summers Musik wirkte auf mich wie ein Sog, ohne berauschend zu sein. Dies merkte ich von Anfang an, als mich vom nahen Roller-Parkplatz kommend die Klänge mich an den Konzertort quasi hinführten. Mehr denn je spürte ich, dass die körperliche Präsenz das Abstrakte des Jazz nahbarer macht. Gerade die Takte, die Schumann pur wiedergaben, hörte ich zusammen mit der jazzmusikalischen Verarbeitung  im wahrsten Sinne des Wortes besinnlicher als in einem klassischen Kammerkonzert, wo das traditionelle Genre (Kammermusik) erwartbarere Klänge hervorbringt.

Ohne großes Nachdenken kann ich nun diesen besonderen Musikabend mit einem Epilog abrunden. Als ich mich am Schwanenteich stärkte, kam ich ins Gespräch mit einer jungen Familie. Wohl war dafür ausschlaggebend, dass ich mich sehr dem Wasser nährte: „Überlebenskünstler“ schallte es mir entgegen. Ich traute meinen Ohren nicht, da ich noch im Unterricht einige Tage zuvor über den schönen Ausdruck ‚Lebenskünstler’ gesprochen hatte. Ich dachte an eine Wortspielerei, doch nein, dem ist nicht so: Im Internet ist das Wort angekommen: „Person, die alle Probleme und Widrigkeiten erfolgreich übersteht.“

Was soll mir diese Botschaft sagen? Ich finde sie nicht besonders originell, doch wenn man mit dem Begriff spielt, kommt Über-Lebenskünstler dabei heraus. Und hier merke ich, dass mir hier die Jazzmusik helfen kann. Aus ihr spricht nicht nur musikalische Könnerschaft, sondern auch Lebenskunst. Ich wage einmal folgende These: Jeder, dem Jazzmusik zusagt – die Klangmalerei von Johanna Summer ist dafür ein hervorragendes Beispiel – ist ein Lebenskünstler.

Bei Act Music sind als CD und als Vinyl LP zwei Alben von Johanna Summer erhältlich: Schumann Kaleidoskop und Resonanzen. Johanna ist auch an weiteren Alben als ‚Sideman’ beteiligt. Tourtermine gibt es u.a auf ihrer Homepage.

Parforce-Walzer und Parforce-Jazz:  Über zwei Lieder namens „Vesoul“

Beitrag oben halten

Es muss 2005 gewesen sein, als ich auf dem Weg von Annecy in Hochsavoyen nach Essen an Vesoul vorbeifuhr. Dieser ostfranzösische Ort an den südwestlichen Ausläufern der Vogesen ist mir seitdem vom Namen her ein Begriff. Ohne dass ich je im Ort gewesen bin, klingt Vesoul weich und versonnen. Ob der berühmte Chansonnier Jacques Brel auch, als er in den 1960er Jahren seine berühmte Chanson Vesoul schrieb, an diesen Klang dachte? Gelebt hat er dort nie, allenfalls übernachtet.

Nun, es gibt heute eine Place Jacques Brel und ein Collège Jacques Brel in Vesoul. So viel Andenken muss sein. Im Lied werden Orts- und Städtenamen kaskadenartig genannt, wobei an erster Stelle nicht Vesoul vorkommt, sondern das kleine unweit von Paris liegende Örtchen Vierzon; danach folgen Honfleur und – welch Überraschung – Hamburg!   Der Sänger ist denkbar schlecht darauf zu sprechen (und deswegen singt er auch mit einer gehörigen Portion Rage), dass sein Gegenüber die Orte und Städte zu sehen bekommt, das es auch sehen will, während er leer ausgeht. Das „Akkordeon“-Gedudel in Paris ist ihm ebenso verhasst. Dem Du gelingt es ebenso, einst geliebte Orte wie Vesoul wieder zu verlassen, als es von ihnen genug hat.  Und manchmal werden insgesamt gewisse Vorhaben (wahrscheinlich vom Du im Lied) zunichte gemacht, was einen bitteren Unterton erhält:

J’ai voulu voir ta sœur et j’ai vu le Mont Valerién (…)

Maintenent j’confonds ta sœur et le Mont Valérien (…)

J’ai voulu voir ta sœur et on a vu ta mère (…)

T’as plus aimé ta mère, on a quitté ta sœur

Ich habe nachgeschlagen, um eine wichtige Wissenslücke zu schließen: Der Mont Valérien, am westlichen Stadtrand von Paris gelegen, ist ein wichtiger Gedenkort für den Deutsch-Französischen Krieg und eine Opferstätte seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass dieser eher anonyme Ort im Lied Verwechslungspotenzial mit der Schwester  enthält, ist genauso zynisch wie die Feststellung, dass man dieser nun den Rücken gekehrt habe, weil das Du nicht mehr seine Mutter lieb habe. Diese im Lied provokant wiedergeholt vorgetragenen Hinwendungen und nachfolgend Abwendungen werden hier auf Verwandte (und wohl auch Bekannte) übertragen. Eine gewisse Hortense ist nun auch nach gewissen Erzählungen beim Sänger-Ich unten durch, so dass er nicht mehr zu ihr ins Département Cantal fahren möchte: „De ce que je sais d’Hortense, je n’irai plus dans le Cantal.“ Diesen Stunk in einen Walzertakt zu verpacken, um die beiden kreiselnden Lebensreisen zweier Bezugspersonen zu veranschaulichen, ist große Chanson-Kunst.

Dass Ende der 1990er Jahre die Formation Queen Bee (mit Edda Schnittgard und Ina Müller als Frontfrau) eine deutschsprachige Vesoul-Version veröffentlichte und dabei abgesehen vom Titel-Ort keine weiteren Bezeichnungen übernahm, bedeutet bereits eine intensive Auseinandersetzung mit der Vorlage und gleichzeitig musikalisch eine Neu-Interpretation. Queen Bee verwandelt die Walzer-Klänge in kantige, doch bewusst meist monotone Jazz-Akkorde.

Der Text hinterfragt sich scheinbar selbst:  „Du wolltest nach Vesoul / wo bitte liegt Vesoul?“ Auch die 2. Person in der Anrede wird manchmal zur 3. Person: „Sie“ bzw. „ihr“:

Du wolltest nach Bordeaux,

wir fuhren nach Bordeaux,

Bordeaux war ihr zu dumm,

wir kehrten wieder um,

ich wollte nach Cádiz,

wir fuhren nach Paris.

Weiter geht es nach Luzern (Reim auf Bern, wo es nicht hingeht), nach Lausanne (Reimvers „und dann weiter nach Cannes“) und auch nach Saas-Fee (Reim: „sie wollte in den Schnee“); des weiteren bilden weitere Reimpaare erreichte Ziele (Bahrain und Lichtenstein, Beirut und der Zuckerhut, der Niagara-Fall und Portugal, sowie Luxemburg, Lourdes und Klagenfurt und nicht zuletzt Bukarest, Brest und Budapest.) Das Sängerin-Ich würde gern mal nach Bonn und Heilbronn, Turin und Wien, in den Ural und nach Wuppertal (die Stadt, wo sie immerhin schon einmal waren!) schweifen und „bei Sylt im Watt“ und im „Kattegat“ verweilen.

Überall mag das Sängerin-Ich hinfahren, „nur nicht nach Berlin“, wo sie eingehe. Hier zeigt sich die merkwürdige Bedeutung dieses Verbs, das ja eigentlich mit ‚gehen’ einen räumlichen Bezug hat. Stets kann das ‚sie’ in der dritten Person sich durchsetzen, auch „weil sie so drauf besteht“. Deswegen geht es schließlich doch nach Berlin, dorthin, wo die „verdammte Musik“ und das „verfluchte Programm“ mit dem „ganzen Tamtam“ zu finden sei. Hier befreit sich die Begleitmusik ironischerweise vorübergehend aus der Monotonie.

Die deutsche Version gibt der Chanson kabarettistische Züge. Anders als bei Brel ist keine Verbitterung herauszuhören, sondern die Inszenierung von maximaler Gereiztheit. Bei den bereisten Städten und Plätzen gibt es eigentlich auch nichts zu beklagen. Insofern steht der Humor hier an erster Stelle. Die Reime verknüpfen Reiseziele, die nicht zwangsläufig zusammengedacht werden, so dass hier die Klang-Kunst der sich reimenden Destinationen im Vordergrund steht. Man könnte diskutieren, inwiefern Brels Chanson hier parodiert wird. Beide Liedkompositionen könnten jedenfalls gewisse Parforce-Ritte ganz ohne Pferdeeinsatz nicht origineller besingen!

Eine sehr lesenswerte Kurzbiografie zu Jacques Brel, der aus dem Großraum Brüssel stammt und in Französisch-Polynesien begraben ist, findet sich hier. Die Chanson lässt sich hier in deutscher Übersetzung nachlesen. Zu einem Vergleich lädt der Original-Text ein.

Originelle Kopie – Über „Cavaliere d’argento“ der Crucchi Gang

Beitrag oben halten

Als sich Anfang der 1980er Jahre die Neue Deutsche Welle aufbaute, stand eine gewisse Leichtigkeit an erster Stelle. Die deutsche Sprache, weder leicht zu erlernen noch leicht im Umgang angesichts vieler tiefenscharfer, schwer oder unmöglich zu übersetzender Termini, konnte in musikalisch abgespeckter Termini brillieren, auch wenn dabei keine musikalischen Glanzleistungen herauskamen.

Joachim Witts Hit „Goldener Reiter“ aus dem Jahr 1980 (Single-Auskopplung 1981) ist sicher kein Glanzstück, doch irgendwie bleibt das Lied, das vage von einem von der Bahn abgekommenen Leben „am Rande der Stadt“ handelt, im Gedächtnis hängen – mir zumindest. Mehr als 40 Jahre später ist nun eine italienische Kopie entstanden, deren Titel Cavaliere d’argento den Reiter versilbert. Der Grund liegt ganz einfach darin, dass die Anzahl der Silben des deutschen Adjektivs mit denen im Worte „argento“ übereinstimmen. Musik hat Vorgang gegenüber treuer Übersetzerkunst. Insgesamt wirkt die Kopie viel geschmeidiger als das Original, was nicht nur am so schönen Klang des Italienischen liegt.

Francesco Wilking von der Band Die höchste Eisenbahn hat sich letztes Jahr zusammen mit der Crucchi Gang an diese Cover-Version gewagt. Das neue Gewand hat nun Italo-Pop-Charakter, wobei der dumpfe Gesang von Joachim Witt im Original mit einer neuen Klangfarbe übertönt wird. Felix Hooss sprach im September 2020 in Anbetracht des Debütalbums in der Sonntagszeitung der FAZ von einer „Lockerungsübung“, ohne vergessen zu erwähnen, dass Crucchi eine „hässliche Bezeichnung für Deutsche“ sind. Es lässt sich erahnen: Die Gang hat auch auch andere bekannte deutschsprachige Lieder ins Italienische übertragen, zum Beispiel „Bitte gib mir nur ein Wort“ von Wir sind Helden.

Das Video zu Cavaliere d’argento erinnert mich an ein Bühnenbild, das während des Songs auf- und abgebaut wird. Es zeichnet sich durch einen symmetrischen Aufbau aus, in dem bloß zwei Hände aktiv tätig sind. Die Bild-Konstante sind vier Leitern (im Originallied ist die Leiter als Reimwort auf Reiter unverzichtbar), die scheinbar mit dem Bühnenboden bzw.  der  Bühnenwand verwachsen sind, wodurch das Mehrdimensionale des Raums besonders zum Vorschein tritt. Der italienische Text gleitet darüber bzw. daneben in verschiedenen Richtungen hinweg. Diese Anordnung passt zum Begriff „tangenziale“ für „Ausfallstraße“, der ja auch das Geometrische mit dem Begriff „Tangente“ impliziert. In der italienischen Version taucht die Leiter mit „poi caddi giù“  („dann fiel er ab“) übrigens gar nicht auf.

„Manicomio“ entspricht im Original der „Nervenanstalt“,  „allarmi di sicurezza“ den „Sicherheitsnotsignalen“ und „micidiale schizofrenia“  der „lebensbedrohlichen Schizophrenie“, so dass hier recht nah übersetzt wurde. Die feminine Endung in „impazzita“ („verrückt“) ist sicher absichtlich gewählt, um mit der unpersönlichen Du-Anrede auch weibliche Personen einzubeziehen, da sonst „cavaliere“  ausschließlich männlich als „figlio della città“, also als „Kind dieser Stadt“ gezeichnet würde. Die Übersetzung ist hier auch positiver gestimmt, da es heißt, dass einem dort geholfen wird, falls man nicht schon verrückt geworden ist: „E se non sei già impazzita / lì certo qualcuno t’aiuterà.“  Joachim Witt nutzt den Komparativ „verrückter“ im Gedanken an eine Verschlimmerung: „Gehn Dir die Nerven durch / Wirst du noch verrückter gemacht.“

Die hinzukommenden zahlreichen floralen Elemente und ein Paar Damenschuhe – sicher eine Anspielung auf die Damenträume des Sängers im Originalvideo – ranken sich an die Leitern und werden dann im letzten Viertel des Liedes wieder entfernt, so dass wiederum das Ausgangsbild wiederhergestellt wird. Zwischen Bühnenauf- und -abbau wird zwischenzeitlich ein Vorhang zu- und aufgezogen, als von „vere cause de la malattia“ die Rede ist. Hier setzt das Lied auch kurz aus – es wirkt wie ein musikalisches Fragezeichen, um zu verdeutlichen, dass die wahren „Ursachen“ der Krankheit nicht bekämpft werden können (im Original wird das Wort „Krankheit ausgespart).

Cavaliere d'argento - Bild zum Text
Standbild aus dem Musikvideo zu Cavaliere d’argento von der Crucchi Gang (2’41”)

Die Blumen wirken wie eine Hommage an den silbernen Reiter, der  von der Lebensleiter gefallen ist. Das Lied heitert zusammen mit dem Video eindeutig auf, so dass der  düstere Text weniger Gewicht erhält. Das passt gut zu dem Gedanken, dass Musik auch befreiend und sogar heilsam wirken kann. Es tut gut, dass man sich von der Abbildung der besungenen Wirklichkeit entfernt und stattdessen eine artifizielle Bühnenwelt durch einen Vorhang geschlossen und wieder geöffnet wird. Statik und Dynamik erhalten zusammen mit der Symmetrie eindeutig Orientierung, was gerade dann von Bedeutung ist, wenn man von der Bahn abgekommen ist.

Bestellen kann man verschiedene Tonträger (Label: Vertigo Berlin) der Formation hier.

Angriffslustig: Zu einem höchst kurzweiligen Klaviertrio

Ich musste mir einen Ruck geben, von Zwickau zu einem Kammerkonzert nach Bayreuth zu fahren. Auch wenn dies dank der guten Autobahnverbindung  in ca. 75 Minuten zu bewältigen ist, so klingt es merkwürdig, für einen Konzertabend von Westsachsen nach Oberfranken den Weg auf sich zu nehmen. Bis in die 1990er Jahre, also bis zur Fertigstellung der Elstertalbrücke der A72, muss dieser Weg auch noch nach der Wiedervereinigung zäh gewesen sein – und bis zum heutigen Tag hat man so gut wie keine Chance, angemessen mit der Bahn in den späten Abendstunden diesen Weg zurückzulegen. Die Gefahr des Strandens in Hof ist nicht gerade niedrig. 

Doch weil ich unbedingt einmal den renovierten Veranstaltungsort „Das Zentrum“ wiedersehen wollte, den ich im Festspielsommer 2004 so oft als Praktikant des Festival Junger Künstlers aufsuchte, hatte ich einen Grund mehr, mich nach der Arbeit ins Auto zu setzen. Dass während der Konzertpause von zwei Konzertbesucherinnen abfällig über diesen, etwas spröden Ort gesprochen wurde, konnte und wollte ich nicht hinnehmen, denn ein Jugendkulturzentrum sollte kein prachtvoller Ort sein. Es steht für neuartige Formate zur Verfügung, was das Publikum  auch anzuerkennen wusste:  Das schöne Wort „extravagant“ schnappte ich als Kommentar zum Programm auf. Der Ort schafft letztlich den Rahmen für dieses positive Urteil!    

Mich reizte besonders ein hervorragend zusammengestelltes Konzertprogramm, das als „Trios des femmes“ betitelt war. Die Kulturfreunde Bayreuth luden dazu Ende November 2022 das junge Trio Lilium (Silvia Rozas Ramallai, Flöte; Max Vogler, Oboe; Knut Hanßen, Klavier) ein. Ausschließlich wurden Werke von Komponistinnen aufgeführt, von denen ich zuvor nur Clara Schumann und Lili Boulanger zuordnen konnte. Vor allem reizte mich das zuletzt gespielte Trio der aus London stammenden Madeleine Dring (1923-1977), das anders als die zuvor gespielten Trios von Germaine Tailleferre und Mélanie Hélène Bonis für die Originalbesetzung Flöte, Oboe und Klavier komponiert worden war.

Zu Beginn  des Neuen Jahres könnte keine Spielanweisung besser passen als „with attack, but not too heavily“. Sie steht am Anfang des Trios aus dem bewegten Jahre 1968. Dieses strahlende C-Dur-Harmonie ist zusammen mit dem ausgeklügelten Rhythmus unverwechselbar. Das Notenbild zeigt die vielen Taktwechsel, die mich an einen Schwank erinnern, wobei im Wort ja auch das Schwankende, Wechselhafte steckt. Humor, Witz und Freude lassen sich kaum besser instrumentieren:

Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 1 – 10.
Trio von Madeleine Dring
Madeleine Dring: Trio für Flöte, Oboe und Klavier, Josef Weinberger Verlag, 1970, Takt 11-22.

Was mich beeindruckt, ist die lebensnahe Charekteristik dieser Musik, die sich auch im schlichten zweiten Satz, der Ohrwurmpotenzial hat, und dem teils anmutigen („gracioso“), teils virtuosen („brillante“) dritten Satz zu hören ist. Sonst hätte auch nicht die Intendanz der Bielefelder Philharmoniker ein kleines (Appetizer-) Video mit dem schönen Titel Der Klang der Stadt gedreht , in dem der erste Satz von Drings Trio vom Trio Tastenwind interpretiert wird, wobei hier die Oboe durch die Klarinette ersetzt wurde.

Im Programmheft, das das Trio Lilium ausdrücklich vor dem Konzert als gut recherchiert lobte, steht zu Madeleine Dring:

Dring strebte danach, in ihren Kompositionen Neuheiten und überraschende Momente zu präsentieren in der Hoffnung, dass ihre Musik einerseits ein klein wenig schockierend wirkte, andererseits aber den Hörer auch zum Schmunzeln brachte.

Der Pianist Knut Hanßen vergaß nicht zu erwähnen, dass Drings Ehemann ein Oboist gewesen ist, was sich sicher förderlich für die Komposition auswirkte. Darüber hinaus steckt in dieser Musik so viel Bühnenreifes, dass es nicht verwundert, wenn ich lese, dass Dring „Musik für Revuen, für Theaterstücke und für Fernsehproduktionen von Bühnenstücken“ schrieb. Mit diesem Schaffen ist es nicht leicht, bekannt zu werden, weil es sicherlich keine großen, opulenten Werke sind. Das ist bei vielen Komponisten nicht anders – nur die wenigsten werden wirklich bekannt.  Umso wichtiger, sich regelmäßig Kompositionen zu widmen, die einem womöglich nur einmal im Leben live begegnen. Dem Trio Lilium bin ich genauso dankbar wie den Kulturfreunden Bayreuth.

Das Konzertprogramm findet sich hier. Die Noten des Trios lassen sich über die Seiten der Pianistin Caecilia Boschman finden. Auf Youtube gibt es eine gute Aufnahme mit Jeanne Baxtresser (Flöte), Joseph Robinson (Oboe), und Pedja Muzijevic (Klavier).

Kleinkunst – ganz groß: Über das Lied „Güterzug“ von Sebastian Krämer

Es könnte eine Szene aus einem film noir sein, wie ich sie kurz nach 22 Uhr am Karfreitag 2022 erlebt habe: Kurz vor meinem Ziel in Berlin musste ich auf der Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Köpenick und Kaulsdorf in einem Waldgebiet (in der Nähe des S-Bahnhofs Wuhlheide) einen Güterzug abwarten, der in einem quälend langsamen Tempo den Bahnübergang passierte. Und bei den im wahrsten Sinne des Wortes ungezählten Güterwaggons dachte ich mir, dass hier noch eine veritable Geduldsprobe auf mich wartete.

Der Liedermacher Sebastian Krämer hat das „Telefonlied“  eingeführt, und wahrscheinlich wird man ihn nicht dabei kopieren.  Mit der einen Hand Klavier spielen und mit der anderen Hand telefonieren,  das ist natürlich dämlich, doch es passt genau in sein „Güterzug“-Lied hinein. Es  ist eine Realsatire genau auf das, was ich erlebt habe, nur mit dem Unterscheid, dass ich in Berlin unterwegs war und der Interpret in seiner Heimat Vlotho an der Weser. Auch wenn Krämer im Mitschnitt behauptet, real vor der Schranke nicht zum Smartphone gegriffen zu haben, so ist es ein plausibler  Gedanke, während des Passieren-Lassens eines nicht aufhörenden Güterzugs live die Außenwelt über die Verspätung zu informieren. Auch das Filmische kommt zur Geltung. Erst ist es im Lied nur die Situation, die filmische Züge (Stichwort: Güterzug als störendes, womöglich retardierendes Motiv in der Handlung) trägt, dann werden die Waggons zur Projektionsfläche für filmische Bilder und damit zum Motiv:

Der Zug ist ein Kino, das mir einen Kurzfilm zeigt.

Auf den Planen der Wagen sind Bilder

zu einem Film angehäuft,

der hier mir vor mir als Spot

und gütiger Gott

in ‘ner Endlosschleife läuft.

Auch der Film zeigt ‘nen Güterzug und einen Mann.

Es hat was von Schlingensief:

Der Mann springt in den Zug;

Das ist nicht gerad’ sehr klug.

Denn Blut spritzt aufs Objektiv.

Doch stets wenn der Kurzfilm vorbei ist

entsteht eine Lücke im Lauf;

‘ne Sekunde lang

prangt nur Schienenstrang

Und der Zug hört für kurze Zeit auf.

(…)

Ich glaube, dass das meine Chance ist:

Ich schaff’ mir den Rhythmus drauf.

Es ist alles nur Timing,

ich springe mich frei,

bis dann Schatz, ich leg jetzt auf.

Als das Sänger-Ich auflegt, ist neben dem Lied, das in der Klavierstimme hämmernd den Güterzug nachahmt und die Singstimme einen  gehetzten Tonfall anschlägt (auch das ist authentisch) – auch das Leben vorbei.  Der Pianist fällt buchstäblich vom Hocker, als er sich frei springt! Hier könnte man an einen Filmriss denken.  Diese Horrorvorstellung gehört zum film noir, sonst wären Genreerwartungen nicht erfüllt.

Das Fiktive in das Reale so einzuarbeiten, dass ein Güterzug geradezu surreale Züge erhält, lohnt eine nähere Untersuchung. Einen Kurzfilm als Endlosschleife vor sich zu sehen – besser lässt sich die in die Länge gezogene Wartezeit mitsamt der Ungeduld des Wartenden nicht bebildern. Die Filmlücke ist gleichsam eine Zeitlücke, die zur vermeintlichen Befreiung dient. Doch ein Ausbruch aus dem Lauf der Zeit, den der Zuglauf materialisiert, ist unmöglich. Auch wenn das Sänger-Ich Timing und Rhythmus plant, bleibt es buchstäblich auf der Strecke. Im Französischen ist übrigens „train“ mit „(Lebens-)Tempo“ und gleichsam als Doppel-Gespann (also „train-train“) mit Alltagstrott
gleichbedeutend , was ja auch ein gewisses Tempo suggeriert. Und da wären wir wieder bei der Musik. Ganz klar zeigt sich: In ihrer Vielschichtigkeit erschafft die Kleinkunst von Sebastian Krämer in kürzester Zeit großes Kino!

Dass der Westfale Sebastian Krämer im Vereinsheim Schwabing (der Mitschnitt vom Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2021 ist leider nicht mehr verfügbar) auftreten durfte, ist für einen „Preißn“ natürlich Ehre genug. Im „Feierabend TV“ gibt es ab 1 h 40 Min. etwas kürzere Alternative: Die knapp vier Minuten sind wirklich kurzweiliges Kabarett! Seine Tourneedaten lassen sich auf seiner Homepage einsehen.

Seite 1 von 3

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén