Straßennamen können banal oder auch sehr klangvoll sein. Wer einmal durch Regensburg spaziert, der trifft möglicherweise auf die Weißen-Lilien-Straße und die Schwarze-Bären-Straße. Es gibt auch Straßen, die außerhalb geschlossener Ortschaften klingende Namen besitzen: Man denke nur an die Romantische Straße oder an die Deutsche Alleenstraße, die für touristische Zwecke geschaffen wurden.
Ganz und gar untouristisch ist die Seidenstraße, die genauso wie die mit milliardenschweren Investitionen aus China seit 2013 geprägte „Neue Seidenstraße“ auch auf keiner Landkarte eingezeichnet ist, sondern vielmehr interkontinentale Handelsbeziehungen mit Kooperationspartnern auf dem See- und dem Landweg beschreibt. Von der Antike bis ins Mittelalter entwickelte sich die Seidenstraße, ohne dass diese unvorstellbaren Distanzen motorisiert oder über Telekommunikation überbrückt werden konnten. Auf der Route wurden auch immaterielle Güter „gehandelt“: Gewiss fanden über die Seidenstraße, die natürlich über mehrere Routen führte, auch Technik- und Religionsaustausch statt. Übrigens stammt der Begriff Seidenstraße aus den 1870er Jahren vom deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen.
Neben Wohlstandsgewinnen steht die Seidenstraße nicht nur in früheren Zeiten für Gefahren und Kapriolen. Über lokale Zwischenhändler wurde Wohlstand entlang der Straße mitunter auch hart erkauft bzw. erkämpft. Auch wenn es einen zusammenhängenden Schienenstrang über Tausende von Kilometer (mit verschiedenen Spurbreiten) gibt, so wird kein zollfreier Raum durchquert. Welche Formalitäten an den Grenzen wohl jeweils zu erledigen sind? Wir können uns dies kaum vorstellen, weil es so entrückt scheint. Fahren manche Güterzüge wirklich durchgängig z.B. von der 4-Millionen-Einwohner-Stadt Xi’an in der Provinz Shaanxi (wo die Seidenstraße inoffiziell beginnt bzw. endet) bis an die Nordsee? Angeblich – folgt man Rainer Link in einem Deutschlandfunk-Bericht, ist der „Jade-Weser-Port direkt mit der chinesischen Provinz Anhui verbunden“. Welcher logistischer Aufwand wohl dahinter stecken mag? Es geht ja nicht um bloß um einen Transfer von A nach B. Die Transitländer wollen mitverdienen, wenn durch sie schon der Korridor führt.
Im September hörte ich mit großer Aufmerksamkeit das Klavierkonzert Silk Road („Seidenstraße “) von Fazil Say in der Interpretation von Annika Treutler und den Clara-Schumann-Philharmonikern unter dem Dirigenten Leo Siberski. Treutler stellte sich trotz einer Fingerverletzung geradezu heldinnenhaft dem anspruchsvollen Werk. Es ist kaum zu glauben, dass Fay das Konzert bereits in den 90er Jahren als Abschlussarbeit an der Berliner Universität der Künste komponierte (Uraufführung 1996 in Boston).
Das Geschepper, Geklirre und Geraschel des präparierten Flügels bringt dem Hörer bisweilen Tonwelten nah, die auch den teils präsenten reinen Klang abblenden. Man kann sich dies gut mit Streulicht vorstellen, das eben nicht klar aufscheint. Der Ton wirkt teils auch arg zerstreut, was gut zu einer musikalischen Verflechtung von unterschiedlichen Klangwelten passt. Einen tiefen Cis-Ton, der über die ganze Konzertlänge hinweg der Kontrabassist anstreicht, ist kaum vernehmbar. Damit werde laut dem Komponisten der Erdenklang vertont. Die vier Sätze bilden größere Regionen auf der Seidenstraße ab: Tibet („White dove, black clouds“), Indien („Hindu Dances“), Mesopotamien („Massacre“) und Anatolien ( „Earth Ballad “). Say sprach 2011 vor einem Konzert davon, „Klänge von ethnischen Instrumenten“ mit Hilfe von „Mikrotönen“ und „Effekten“ imitieren zu wollen. Ein leicht hörbarer Effekt ist auch der plätschernde Regen, den die Saiteninstrumente im Finalsatz quasi akustisch produzieren. Heute würde er es eigenen Worten zufolge mit mehr authentischen Instrumenten orchestrieren.
Wenn ich mir das Konzert noch einmal anhöre, so entsteht automatisch die Vorstellung von spannungsgeladenen filmischen Szenen, ohne dass ich an spezielle Bilder denken muss. Der Wiedererkennungswert des Konzerts ist von den ersten Takten an sehr hoch; dabei erreicht mich das mulmige Gefühl, dass mir die Geografien und die Kulturen entlang der Seidenstraße höchst unvertraut sind. Reale Erlebnisbilder tauchen also vor meinen Augen nicht auf. Deswegen führt das Hörerlebnis von Silk Road zu keinen Erinnerungsschüben, sondern nur zum Staunen über unvertraute, im wahrsten Sinne des Wortes befremdliche Töne. Die Textur des Klanges kommt zum Vorschein: schließlich geht es ja um die Seidenstraße und nicht um Seidenglanz.
Hier hört man Fazil Say 2011 in Kiel über Silk Road kurz sprechen, bevor er den Solistenpart übernimmt. Leider ist nicht das ganze Konzert mitgeschnitten. Vollständig lässt es sich ohne Bild mit Muhai Tang als Dirigent und dem Orquestra da Camara Gulbenkian auf einer CD-Produktion aus dem Jahr 2003 anhören.