Es gehört schon eine gewisse Kunstfertigkeit dazu, die Antike motivisch mit dem 21. Jahrhundert zu verbinden. Nicola Rost hat mit ihrer Formation Laing in ihrem gewitzt-unterkühlt vorgetragenen Song „Herr Amor“ diese Brücke geschlagen, indem sie den Liebespfeil des Gottes Amor einer Liebesfirma – man könnte auch an eine kommerzielle Partnervermittlungsagentur denken – andichtet.
Im Grunde fußt der Liedtext auf einer Kündigung, die das lyrische Ich
(wohl eine Dame) an den Geschäftsführer Herrn Amor schreibt. Ein Mitarbeiter, so der Vorwurf, habe ihren Freund mit seinem Pfeil angeschossen, so dass er nun „schwer verliebt“ sei. Doch der Pfeil traf nur ihn, nicht aber das Ich, das zwar „unverletzt“, aber auch unzufrieden mit der Dienstleistung von Herrn Amors Firma ist. Der Freund könnte nämlich ihr Partner werden, denn „eigentlich würd er ganz gut passen“. Doch den Liebespfeil einfach nur auf den Mann zu schießen hat Schmerzen und das Bedürfnis nach Heilung zur Folge.
Das Vokabular des Lieds parodiert in gewisser Weise bürokratische Umgangsformen zwischen einem Antragssteller und einem Antragsempfänger. Ein „Führungszeugnis“ liegt dem „Antrag“ an einen telefonisch nicht erreichbaren „Zuständige(n)“ in „Druckbuchstaben“ bei, der zum Ziel hat, den „Anbieter“ zu wechseln, da zumindest ein „Mitarbeiter“ von Herrn Amor fehlenden „Sachverstand“ aufweise. Dass man eine „Notfallnummer“ wählen kann, um zur „Entliebesabteilung“ zu geraden, zeigt schön, wie ambivalent hier das Konzept Liebe behandelt wird. Das Schwer-Verliebt-Sein als Notfall zu betrachten istschon an sich starker Tobak, gerade wenn der Schmerz eher noch verstärkt wird, wenn das Gegenüber nicht leidet. Im Grunde wird hier ein Unternehmenszweck gründlich gegen den Strich gebürstet, weil er sich wahrlich als Schadenverursacher entpuppt und nicht als Nutzenstifter. In der Wirklichkeit gäbe es hierzu sicherlich einige spannende Analogien zu ziehen.
Mehrdeutigkeit im Lied ist etwas Wunderbares, gerade wenn man bedenkt, dass in der Wirklichkeit Liebesbeziehungen über eine Vermittlungsagentur zu Anfang asymmetrisch gebildet werden. Individuell werden Personen vorgeschlagen, mit denen man Kontakt aufnehmen soll. Es ist daher selten, dass zum gleichen Zeitpunkt die Kontaktaufnahme auch von der jeweils anderen Person kommen könnte. Die Vorstellung, dass es gut passen könnte, basiert oftmals also erst einmal auf einer individuellen Wahrnehmung, so dass der häufig romantisierte coup de foudre wie bei einem realen Zusammentreffen im Grunde meist nicht vorliegen kann. Es ist selten, dass es beim ersten Zusammentreffen auf beiden Seiten „funkt“, wie es so schön heißt. Hohe Matching-Punkte in Bezug auf eine andere Person zu vergeben hat eben nichts mit einem Köcher voller Liebespfeile zu tun, die ja ihre Wirkung gezielt erreichen sollen. Schließlich wünscht man sich nichts mehr als Passgenauigkeit bei der zu gelingenden Partnersuche, nicht nur im Hinblick auf den möglichen Partner bzw. die Partnerin, sondern auch in gewissem Maße von der Vermittlungsagentur, die ja aufgrund von „Matching-Punkten“ in die Auswahl eingreift und damit gegen Bezahlung entscheidenden Einfluss ausübt. „Fehler“ bei der Berechnung sind natürlich nicht ausgeschlossen, nicht nur in der Firma von Herrn Amor.
Natürlich wird nicht jeder bei diesem Song an das Thema Partnervermittlung denken. Man könnte auch auf den Gedanken kommen, dass im Song das Dienstleistungsunternehmen Liebe nur „produziert“ und damit erst verfügbar macht. Diese gruselige Vorstellung führt mich zu folgender Frage: Inwiefern kann eine Person Liebe spüren, ohne von einem im wahrsten Sinne des Wortes liebeswürdigen Menschen in Beschlag genommen zu werden? Wir erinnern Szenen, in den wir uns verliebt haben, doch unser Leben fängt mit der Kindesliebe an, deren wertvollste Augenblicke im Vergessen liegen.
Rust tritt teils solo, sondern mit der Formation Laing auf, die Gesang mit Tanz verbindet. Der Song „Herr Amor“ kann hier angehört werden; ein Interview aus dem Jahre 2015 mit der aus Mannheim stammenden und in Berlin lebenden Sängerin findet sich online im Tagesspiegel. Hörenswert ist auch ein Podiumsgespräch mit Nicola Rost und Jovanka von Wilsdorf zum Thema Songwriting aus dem Jahre 2019. Das dazugehörige Album Paradies Naiv aus dem Jahre 2013 gibt es unter anderem beim Label Universal zu kaufen, auf der Homepage von Laing gibt es (noch wenig) Informationen zu weiteren Auftritten.