Wilde Alpentouren ist ein kleiner Reiseveranstalter, der vom Namen her sicher doppeldeutig gesehen werden kann. Jochen Wilde ist der Gründer und lässt mit seinem Nachnamen auch auf die Entdeckung des Wilden, Unberührbaren hoffen.
Meinem Bruder und mir wurde nach einer wegen zu weniger Anmeldungen stornierten Allgäu-Tour die zum gleichen Termin stattfindende 4-Tages-Tour „Märchenhaftes Alpsteinmassiv“ Ende August empfohlen. Das Stichwort Appenzeller Land ließ mich sofort innerlich „ja“ zu diesem Unterfangen sagen; meinem Bruder war diese zum Wandern äußerst attraktive Gegend auch mehr als recht.
3 Hüttenübernachtungen in einer 10er-Gruppe, das war und ist ein maßgeschneidertes Angebot, um den Niederungen des Alltags zu entkommen. Dank des traumhaften Wetters konnte diese Erwartung voll und ganz erfüllt werden. Andrea, unsere Bergführerin, meisterte ihre Aufgabe souverän, obwohl sie kurzfristig einspringen musste und die Region bislang kaum kennt. Da überdies die Tour zum ersten Mal angeboten wurde, fehlten sowohl den Teilnehmern als auch den Organisatoren einige Erfahrungswerte, die hier nur anklingen und von mehreren Stimmen weiter zusammengetragen werden könnten.
Kurz umrissen ist die Route mit den folgenden Stationen: Wildhaus – Terwil-Alm –Zwinglipasshütte (Tag 1) – Chreialpfirst – Mutschenpass – Mutschen (optional) – Saxer Lücke – Berggasthaus Staubern – Furgglenalp – Gasthaus Bollenwees (Tag 2) – Wildalmpass – Rotpasshütte – Säntis – Tierwis (Tag 3) – Gamplüt – Wildhaus (Tag 4).
Auf den bewährten Kartenportalen kann die Route eindeutig nachvollzogen und natürlich auch angepasst werden. Im Internet verfügbare Bilder, zum Beispiel im Outdoor-Magazin, geben bereits einen Eindruck über die unglaubliche Schönheit dieser (hoch-)alpinen Welt.
Ich konzentriere mich nun auf vier Gedanken, die ich auch noch in vielen Jahren als erinnerungswürdig einstufe und die anders als ein klassischer Wanderbericht womöglich seltener in anderen Quellen nachzulesen sind.
Gedanke vom 1. Tag: Ehrenamt
Die Zwinglipasshütte wird von der Toggenburger Sektion des Schweizer Alpinclubs bewirtschaftet und gehört dieser auch. Das bedeutet, dass nur dank vieler Ehrenamtlicher der Hüttenbetrieb aufrecht erhalten werden kann. Hier kommen also Eigentum und Ehrenamt zusammen: Man merkt anhand der freundlichen Grußworte, der exzellenten Bewirtung und weiterer Erläuterungen zum Hüttenbetrieb, dass viel Herzblut in der Zwinglipasshütte gegenwärtig ist. Das imponiert mir, weil sofort ein familiärer Ton vorherrscht und das Willkommen groß geschrieben wird. Dabei ist der Betrieb mühsam: Die Transportseilbahn führt nur bis auf 1800 m; die letzten 200 Höhenmeter müssen also mit großem Marschgepäck zurückgelegt werden. In dieser Saison hat wegen der hohen Buchungszahlen zusätzlich ein Helikopter ausgeholfen, was natürlich sehr teuer ist.
Gedanke vom 2. Tag: Bilderbuchlandschaft
Kein Wunder, dass wir auf den aussichtsreichen Wegen besonders am Wochenende sehr vielen Wanderern begegnen. Wir hören einige gängige Sprachen; Tourismus in der Schweiz ist eindeutig international ausgerichtet, auch weil man in fast alle Regionen schnell und unkompliziert kommt. Vom Züricher Flughafen braucht man selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur knappe zwei Stunden, um eine Wanderung ins Alpsteinmassiv zu unternehmen.
Der Begriff Bilderbuchlandschaft trifft einfach zu: Gerade das Panorama zwischen der Saxer Lücke und dem Gasthaus Staubern bleibt den ganzen Nachmittag in seinen perspektivischen Veränderungen äußerst reizvoll. Nicht nur felsiges Terrain steht uns vor Augen: In den Talböden schimmert das Wasser von drei Seen mitten im satten Grün. Ein Sprung in den Fählensee direkt am Berggasthaus Bollenwees ist an heißen Tagen mehr als nur eine Erfrischung! Ein wunderschönes Foto, auf dem dieser See zu sehen ist, ersetzt hier weitere wortreiche Schilderungen:
Gedanke vom 3. Tag: Eine Seilbahnstütze als sonderbarer Ausstiegsort
Der dritte Tag bot eindeutig die abenteuerlichste, schwierigste und längste Route. Gerade der Übergang von der Rotpasshütte zum Säntis sollte nur von schwindelfreien Bergwanderern begangen werden. Einige drahtseilversicherte und damit ausgesetzte Passagen sind dabei; bei viel Gegenverkehr und schwerem Gepäck wie in unserem Fall ist der Weg natürlich schon beschwerlicher.
Der Säntis-Gipfel ist nahezu komplett bebaut – er stellt sich mit seinem Observatorium in den Dienst der Wissenschaft. Auch ein großes Gasthaus ist selbstverständlich dort. Das Zusammenspiel von Natur und Technik ist in der felsigen Kulisse bizarr, weil es so unwirtlich dort oben ist: Rekordniederschläge und sehr viel Schnee (laut Statistik etwa 10 Meter pro Saison) erschweren dort jeglichen Betrieb.
Die moderne Luftseilbahn hinunter zur Schwägalp ist auch eine technologische Höchstleistung. Wir nehmen sie ein Stück, genauer gesagt bis zur Sütze 2, da wir nicht in Tierwis unser Abendessen verpassen wollen und der Abstieg mindestens genauso hart sein dürfte wie der Aufstieg von der Rotpasshütte.
Diese Stütze als Station zu betrachten ist schon sehr gewagt. Von der Seilbahn führt wie bei einem Aussichtsturm eine Treppe hinunter, mitten ins felsige Gelände. Dass wir für diese kurze Fahrt pro Person 20 Franken zahlen mussten, empört uns. Wer wie jener Seilbahnwärter zum Geldverdienen seinen Job macht, knöpft einfach das Geld ab und kommt mit keinem Wort unserem Argwohn entgegen. Eine Ermäßigung – auf schweizerdeutsch: Halbtax (ich verstehe irrtümlicherweise „halbtags“) – können wir auch nicht vorzeigen; einen Gruppentarif scheint es nicht zu geben, so dass wir uns geschröpft vorkommen. Zum Glück hilft uns der Transfer zeitlich, so dass wir das Berggasthaus Tierwis rechtzeitig zum Abendessen erreichen. In der Dämmerung richten sich viele Handykameras auf gleich zwei Steinböcke, die direkt an der Unterkunft stehen. Wie sie wohl nur so ein Zutrauen entwickeln konnten?
Gedanke vom 4. Tag: Eine gute Laune der Natur
Am Tag des Abstiegs hinunter ins Tal gingen wir wie tags zuvor anfangs durch eine felsige Kalksteinlandschaft. Umso bemerkenswerter war es, dass wir immer wieder einige Wildblumen sahen, von denen der blühende Schnittlauch vielleicht am beeindruckendsten war, weil er in diesen Höhen nicht oft anzutreffen ist. Andrea meinte, dass sie ihn nie zuvor auf alpinen Wanderungen gesehen hat.
Der Wiedereintritt in Wiesen und Wälder bedeutet, dass wir uns wieder in zivileren Gefilden befinden. Feld- und Forstwege sind trotz des Schotters angenehm zu laufen; kurz nach 13 Uhr sind wir zurück in Wildhaus, wo sich unsere Wege wieder trennen. Erst abends sollte es vor Ort wieder nass werden. Mit einigen Tagen Abstand lässt sich sagen: Die märchenhafte Wandertour habe sicher nicht nur ich als wahrhaftiges Abenteuer erlebt!
Die Tour ist auf der Internetseite von Wilde Alpentouren etappenweise beschrieben. Vielen Dank an Annalena Müller für die Erlaubnis, zwei Fotos aus ihrer digitalen Fotosammlung verwenden zu dürfen!