Unruhe und klassische Musik passen eigentlich nicht zusammen. Klassik Radio wirbt deswegen mit dem Slogan „Bleiben Sie entspannt“. Insofern steht das Prélude Opus 67 Nr. 2 von Alexander Skriabin (1871-1915) dort sicher auf keiner Musikliste, denn Ausgeglichenheit, Ruhe und fühlbare Melodik sind hier fehl am Platze. Die Spielanweisung „inquiet“ bringt es auf den Punkt:
Anfangstakte von Alexander Skriabins Prélude Opus 67, Nr. 2 (aus der Schott-Ausgabe, 1988)
Das Stück ist von 1912 / 13 und fällt damit in eine Zeit, die eher von Aufbruchstimmung, aber teils auch von düsteren Tönen (Stichwort: fin de siècle) bestimmt ist. Manch einer hat gesagt, dass das 19. Jahrhundert bis 1914 dauerte, also bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs. Leider ist Alexander Skriabin viel zu früh gestorben, so dass er kein Spätwerk hinterlassen konnte. Sein Frühwerk ist sicher noch romantisch geprägt, doch davon konnte Anfang des 20. Jahrhunderts keine Rede mehr sein. Was ihn auszeichnete, war die ungewöhnliche Begabung, zu Tönen bestimmte Farben zu sehen. Dieses synästhetische Klangerlebnis lässt seine Klavierkompositionen schillernd erscheinen; der mit seit Jahren liebgewonnene Band mit seinen Klavierstücken (aus dem Schott-Verlag) zeigt schon von den Notenbildern her, wie innovativ er komponiert hat.
Ich habe das Prélude so eingeübt, dass ich es zwar nicht „presto“, jedoch immer noch „allegro“ spielen kann. Warum fasziniert es mich so? Ich denke beim Spielen nicht an Farben (scheinbar bin ich kein Synästhet!), sondern an ein dynamisches, quasi vitalisierendes Auf und Ab, dass in einer YouTube-Aufnahme von Steven Malinowski sehr schön mit Farbquadraten visualisiert wurde. Allein eine zweidimensionale Darstellung von sich ändernden Tonhöhen steigert den Höreindruck. Hier ist das Klavierspiel wie ein komplexer Treppengang quasi in der imaginierten Bewegung erlebbar. Skriabin hätte wahrscheinlich auch Computer-Technik eingesetzt, zumindest hätte er solche wahrhaftigen Klang-Bilder gerne angeschaut.
Vom Ton-Material her denke ich oft an Jazz-Akkorde, weil gerade in der rechten Hand die Akkorde „schräg“ klingen. Der Rhythmus ist zu gleichmäßig, als dass man ans Wippen, geschweige denn ans Tanzen denken würde. Die linke Hand ist auch eben keine Rhythmus-Maschine, sondern erfüllt unablässig die ständig wechselnde Aufwärts-Abwärts-Bewegung in Triolen. Auf eine „Auf-Ab“-Triole (natürlich kein Fachbegriff!) folgt eine Ab-Auf-Triole; in einem Takt gibt es davon bis kurz vor dem Ende je zwei. Nur die letzten zwei Schlusstakte lassen die unruhige, unstete Bewegung hinter sich; der Schlussakkord hört sich wie ein großes Fragezeichen an, das wie sich ein Zwischenfazit anhört und in ein neues Stück übergehen könnte. Bei knapp 100 Sekunden Spieldauer in meinem „nur“ schnellen Tempo hat die linke Hand fast 400 Töne angeschlagen, was für das Publikum bei der Tonfolge alles andere als leicht konsumierbar ist. Man kann allerdings in der rechten Hand eine Art Melodie ausmachen, die jedoch sehr vage bleibt. Ab welchen Tonfolgen kann eine Melodie eigentlich als solche herausgehört werden? Klar ist, dass hier kein Beat hineinkomponiert ist, an dem man sich akustisch festhalten könnte. Es ist eher eine unruhige Suchbewegung, die in der rechten Hand dank der Akkorde eine gewisse Tiefenstruktur und in der linken Hand eine horizontale Dynamik als Vorwärtsbewegung erhält. Dieses kurze Stück hat für mich auch nach mehr als 100 Jahren etwas Zeitloses an sich; könnte man es vom Klang her nicht auch als Nachkriegswerk einordnen?
Für seine sinfonische Dichtung Prométhée. Le Poète du Feu ließ Skriabin ein visionäres Farbenklavier entwickeln, das es leider nie zur Marktreife geschafft hat. Für eine Vorführung eines solchen Lichtklaviers reichte es ebenfalls nur selten, wohl auch wegen der technisch schwierigen Umsetzbarkeit. Heutzutage sind Lichtshows an der Tagesordnung; und natürlich braucht man für Lichteffekte auf und an der Bühne keine Tasten. Und doch wäre es interessant zu sehen, wie Töne mit zugeordneten Farben wirken. Ich werde bei der nächsten Gelegenheit noch mehr darauf achten, wie Klangfarben im wahrsten Sinne des Wortes untermalt werden…
Das vollständige Notenbild des Préludes ist auch in einer Datei im pdf-Format zugänglich.
Mit etwa 36 Kilometern ist die Kammloipe einer der längsten Ski-Langlaufrouten in Deutschland. Normalerweise braucht man 2 Tage für die Strecke, doch selbstverständlich lässt sich das Unterfangen auch in wenigen Stunden absolvieren. Zwischen Schöneck im Vogtland und Johanngeorgenstadt im westlichen Erzgebirge verläuft die Loipe teils direkt an der tschechischen Grenze entlang. Die Vogtlandbahn bietet mit dem Haltepunkt Schöneck-Ferienpark eine nahezu ideale Anreisemöglichkeit von Zwickau und Plauen ganz nah am Loipenbeginn; und die Erzgebirgsbahn fährt von Johanngeorgenstadt in einer guten Stunde nach Zwickau zurück. Hier befindet sich das Loipenende oberhalb der Stadt, so dass man knapp zwei Kilometer bis zum Bus (Nr. 346, Halt am Platz des Bergmannes) in Richtung (Grenz-)Bahnhof laufen muss. Doch nach einer Langlauftour tun ein paar Schritte zu Fuß nur gut. Auf etwa der Hälfte der Gesamtstrecke ist die Haltestelle Mühlleiten-Kammweg ein geeignetes (Etappen-)Ziel, um in einer guten halben Stunde mit dem Bus (Nr. 20) zum Bahnhof Auerbach (unterer Bahnhof) oder in der Gegenrichtung in ca. 15 Minuten nach Klingenthal zu kommen. Von beiden Orten fährt die Vogtlandbahn wieder nach Plauen und nach Zwickau, wo Umsteigemöglichkeiten nach Hof bzw. Dresden bestehen. Es sei darauf hingewiesen, dass diese wichtige Busverbindung am Wochenende nur im 2-Stunden-Takt verkehrt!
Diese etwas drögen Informationen helfen bei der Planung, und doch würden die wenigsten ohne Auto anreisen. Wenn man nach dem Sport müde in der Kälte und so gut wie k.o. noch auf Fahrpläne achten muss, ist das kein Zuckerschlecken. 2019 befuhr ich im Januar den ca. 18 km langen Abschnitt Schöneck-Aschberg (etwa zwei Kilometer hinter Mühlleiten gibt es eine kurze Anschlussloipe zum Aschberg, dessen Gipfel auf tschechischer Seite liegt) und im Februar den Abschnitt Mühlleiten-Johanngeorgenstadt. Gut, dass ich mich zuvor gründlich auf den spärlichen Nahverkehr in der Region (gerade am Wochenende) eingestellt hatte. Ich weiß noch genau, dass der Fußweg hinunter vom Aschberg (dort oben gibt es eine Jugendherberge!) zur Bushaltestelle in der Ortsmitte (die Linie 30 bietet Anschluss zum Bahnhof Klingenthal) leicht verwegen war, denn der Höhenunterschied war beträchtlich, und wenn man den Bus nicht erreicht, hat man (fast) Pech gehabt. Um Wegstrecke zu sparen, spurte ich mich zunächst querfeldein auf Skiern hinunter, und den letzten Kilometer zu Fuß musste ich auf der schlecht geräumten Aschbergstraße bis zur Haltestelle recht zügig hinablaufen, um den Bus noch zu erwischen. Sonst hätte ich zwei Stunden warten müssen! Immerhin hätte ich eine Gaststätte aufsuchen können, was im Winter 2020/21 unmöglich ist. Wenn gastronomische Einrichtungen geschlossen sind, ist das Warten bei Minustemperaturen alles andere als eine gesunde Alternative. 2019 ließen mich jedenfalls Bus und Zug nicht hängen.
Es zeigt sich, dass eine sportliche Unternehmung schon an der Wohnungstür anfängt und auch erst dort aufhört. Die Kammloipe selbst verdankt ihre Länge auch der Topographie, die eigentlich über dem Kamm kaum tiefere Einschnitte kennt. Nur kurz hinter dem Abzweig zum Aschberg gibt es in beiden Richtungen eine kurze steile Passage hinab bzw. hinauf. Ansonsten sind die Steigungen mäßig, doch teils auch recht zäh. Immerhin steigt die Loipe von ca. 700 m bei Schöneck auf mehr als 900 m ca. 10 km vor Johanngeorgenstadt an, ohne danach wieder bedeutend an Höhe zu verlieren. So ist es natürlich leichter, von Osten nach Westen zu fahren….
Viele Waldabschnitte geben der Loipe nicht unbedingt einen malerischen Charakter, doch man kommt – gerade wenn nicht allzu viel Betrieb herrscht – auf seine Kosten. Einen halben Tag auf der Loipe zu verbringen reicht aus, um einem begeisterten Langläufer Erfüllung zu schenken. Unbedingt mitnehmen sollte man den einzigen richtigen Ausblick vom Schneckenstein aus, der von Schöneck aus nach ca. zehn Kilometern erreicht wird und von der Loipe aus nicht zu übersehen ist. Mit Skiern kommt man recht leicht hinauf; Der Fernblick reicht weit bis nach Tschechien. Die folgenden Einblicke sind jedoch eher erzgebirgstypisch:
Kammloipe bei Mühlleiten (Blick Richtung Westen)Kammloipe bei Mühlleiten im Erzgebirge (Blick Richtung Osten)
Anfang der 90er Jahre wurde die Kammloipe dank einer privaten Initiative ins Leben gerufen. Es ist bemerkenswert, wie leidenschaftlich einige wenige Enthusiasten über all die Jahre hinweg die Loipe am Leben halten. Während im Winter 2019/20 Schneemangel herrschte, war 2020/21 die Kammloipe lange offiziell nur für Einheimische (Stichwort: 15km-Radius) geöffnet. Ein Langläufer aus Carlsfeld berichtete mir im Februar 2021, dass die Loipe in diesem Winter nur dank des Engagements eines erzgebirgischen Landtagsabgeordneten überhaupt gespurt wurde. Und ganz nebenbei wurden die eigentlich auf der Strecke unsichtbaren Landkreisgrenzen wieder relevant, als die vermaledeite Covid-19-Inzidenzzahl im Spätwinter im Vogtlandkreis deutlich über 200 betrug und somit dieser Loipenabschnitt auch für Bewohner des Erzgebirgskreises tabu war. Ich als Zwickauer Bürger musste darauf achten, dass ich bei der Anfahrt (diesmal mit dem Auto) elegant am Vogtlandkreis vorbeifuhr, da es laut sächsischem Sozialministerium keine „Transitfestlegungen in den Landkreisen“ gebe, wie ich den mdr-Nachrichten entnahm. Noch immer frage ich mich, ob ich überhaupt an jenem 24.02. bei Carlsfeld im Westerzgebirge auf der Loipe fahren durfte, da ein weiterer Passus besagte, das sportliche Aktivitäten für Bewohner aus Landkreisen mit relativ niedrigen Inzidenzen nur ohne „touristische Ziele und Zwecke“ möglich seien. Nun, am Parkscheinautomat in Carlsfeld flatterte der Hinweis, man solle sein Vorhaben „überdenken“, die Loipe als Nicht-Einheimischer zu befahren. Strenggenommen ist die Kammloipe ein touristisches Angebot, doch Langlauf ohne Loipe schließt sich praktisch aus, wenn man nicht auf unerwartete Hindernisse stoßen möchte. Ein gesunder Sportsgeist braucht die Tour, ohne dass Tourismus daraus werden muss! Auch der mdr drückte sich auf seiner bereits erwähnten Nachrichtenseite am 19.02. unklar zum “Kamm” aus:
Langläufer aus Nordsachsen, Mittelsachsen oder Meißen könnten im Erzgebirge Ski fahren. Aber Achtung: Wenn sie die Kammloipe bis zum Vogtland fahren, dort wurde der Bewegungsradius nicht gelockert. Nur Einheimische aus der nahen Umgebung dürfen den Kamm nutzen.
Zu viel Nachsinnen führt hier garantiert nicht weiter! Bald werden Auslegungen von derlei Einschränkungen der Vergangenheit angehören. Ich freue mich schon darauf, einmal die Kammloipe unbeschwert nicht allein zu befahren, sondern mit einem Gefährten oder einer Gefährtin. Wenn die äußeren Bedingungen passen, wird es garantiert ein wunderschöner Tag. Oder werden gleich zwei daraus? Und wie wäre es mit einem abendlichen wärmespendenden Thermenbesuch?
Die Homepage kammloipe.de hält alle wesentlichen Informationen vor.
Kann ein Teddybär Menschenrechte stärken? Wie viele Menschenrechte stecken in Ihrem Laptop?
Das sind Fragen, die Mitte Februar 2021 unkommentiert bei der Vorstellung des geplanten Lieferkettengesetzes großformatig nach längeren Verhandlungen zwischen drei Ministerien (zuständig für Arbeit und Soziales, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie für Wirtschaft und Energie) ins Fernsehbild rückten.
Vorstellung des geplanten Lieferkettengesetzes von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, zusammen mit dem Bundesentwicklungshilfeminister und dem Bundeswirtschaftsminister (Screenshot aus dem Video, das unter dem unten angegebenen Link 1 abrufbar ist)
Hinter einer Ja/Nein-Frage und einer W(ie viele)-Frage macht man sich normalerweise wenig Gedanken, doch hier bin ich mir sicher, dass der PR-Bereich der Bundesregierung viel Aufwand getrieben hat. Wenn eine Gesetzesnovelle vorgestellt wird, ist das normalerweise etwas für Rechtsexperten, denn bis zur Verabschiedung des Gesetzes liegt ja noch ein gewisser Weg, der meist nur bei umstrittenen Gesetzesvorhaben mit der medialen Öffentlichkeit stärker geteilt wird. Ansonsten würden Bürgerinnen und Bürger einzelne neue Gesetze ohne weiteres benennen können. In meinem Kopf tauchen nur ganz wenige Gesetzesbezeichnungen der letzten Jahre auf; doch das Lieferkettengesetz hat es dorthin geschafft, bevor es überhaupt verabschiedet wurde. Ich bin mir sicher, dass der Laptop und der Teddy – eine Teedose kredenzt ein weiteres Plakat – in Verbindung mit den Fragen meine Aufmerksamkeit erweckt hat und nicht nur mein allgemeines Interesse für Themen der Nachhaltigkeit und der globalen Wirtschaftsbeziehungen. Die Fragen sind zwar sprachlich einfach, doch die Antwort ist alles anderes als simpel: Wenn wir Spielzeug oder technische Geräte kaufen, haben wir so gut wie keine Kenntnisse darüber, ob Menschenrechte bei der Produktion eine Rolle spielen oder nicht. Hingegen sind Qualitätsaspekte des Produktes im Spiel. Also ist der produzierende Mensch weniger wichtig als ein gut funktionierendes Gerät bzw. ein lang haltendes Stofftier? Offensichtlich schon. Der Appell auf den Plakaten lautet:
Stärken Sie Menschenrechte, indem Sie bei Ihrem Kauf auf menschenwürdige Produktionsbedingungen achten.
Ich bin gespannt, ob man sich der kundenseitigen Verantwortung wird stellen können. Dafür müssen ja beim Kauf ausreichend Informationen vorhanden sein. Ob das Gesetz erfolgreich dazu Händler und Produzenten wird zwingen können, nachdem der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (2016-2020) als breit angelegte Initiative tendenziell nur ein gut gemeinter, jedoch nicht verbindlicher Plan gewesen ist? Ich stelle mir vor, wie Kunden in Zukunft auch auf Etikettenschwindel achten müssen, denn wohl wird es um vertrauenswürdige Labels gehen, die eine Garantie dafür abgeben sollen, dass menschenwürdig produziert wurde. Einige Fair-Trade-Labels wie der staatlich anerkannte Grüne Kopf sind ja auch schon etabliert, nicht nur bei Lebensmitteln. Klarheit zu der wachsenden Anzahl von Labels schafft inzwischen auch eine ständig aktualisierte Webseite.
Wenn man den ministeriellen Verlautbarungen Glauben schenkt, dann leisten 25 Millionen Menschen auch für nach Deutschland importierte Produkte Zwangsarbeit; darin sind 75 Millionen Kinder (jünger als 12 Jahre) nicht inbegriffen, die unter das Stichwort „Kinderarbeit“ fallen. Diese Zahlen bleiben abstrakt; deswegen ist eine Verdinglichung zur Vermittlung genau richtig. Es wird kaum möglich sein, sämtliche Lieferketten „dahinter“ zu untersuchen und zu überwachen, in denen mittelbare Zulieferer vertreten sind. Diese sind nach dem eigenen Geschäftsfeld und den unmittelbaren Zulieferern auf einer dritten Stufe anzusetzen, wenn es um menschenwürdige Arbeitsbedingungen geht. Der Bundesarbeitsminister ist sich dessen bewusst, wenn er in einem „Arbeitsgespräch“-Podcast sagt:
Das Bemühen zählt beim Lieferkettengesetz, nicht der Erfolg, das ist der juristische Unterschied.
Der Aspekt der Nachhaltigkeit ist hier zentral; er bezieht sich auf den Produktions-faktor Arbeit, hinter dem ein zu würdigender Mensch steht. Grundsatz ist der erste Satz des Grundgesetzes, der eben nicht nur im Inland Anwendung finden soll. In einer globalisierten Welt ist die Würde des Menschen nur dann glaubwürdig unangetastet, wenn Handelsvorteile nicht auf Kosten von humanitären Missständen gehen.
Empfehlenswert ist die Vorstellung des Lieferkettengesetzes (Link 1) und der erwähnte Gesprächspodcast mit dem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und dem Unternehmer und Koch Ole Plogstedt, zu dem auch eine Druckfassung vorliegt. Hintergrundinformationen zu den Plakaten werden auch gegeben, wozu auch ein Wissenstest gehört. Sämtliche „Arbeitsgespräche“ mit dem Bundesarbeitsministerium sind hier aufgeführt.
Als im Sommer 2020 in der ARD-Mediathek eine „Werkschau“ der Filme von Wim Wenders angeboten wurde, bediente ich mich gerne aus der großen Auswahl. Den längsten und auch teuersten Wenders-Film Bis ans Ende der Welt habe ich mir erst im Spätherbst in der „Director’s Cut“-Version angeschaut. Sie ist sage und schreibe 287 Minuten lang und nicht wie in der Kinoversion nur 179 Minuten. Bei ca. 24 Millionen Dollar Produktionskosten und Filmszenen aus vier Kontinenten hätte der Film leicht Kult werden können. Doch an den Kinokassen floppte das Riesen-Epos. Es mag auch an der äußerst komplexen, vielschichtigen Handlung liegen, die manchen Zuschauer überfordern mag. Die französische Hauptdarstellerin Solveig Dommartin, die bereits im deutlich bekannteren Wenders-Film Der Himmel über Berlin mitgewirkt hatte und während der Drehzeit mit dem Regisseur liiert war (und am Drehbuch mitschrieb), hätte durch diesen Film zum Mythos werden können. Als sie 2007 mit nur 46 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, gab es nur vereinzelte kurze Nachrufe. Die Kategorie „Stars und Sternchen“ ist hier fehl am Platze, da sie leider ab Mitte der 90er Jahre keine nennenswerten Filmauftritte mehr hatte.
Wenders hat in der Zeitschrift Revolver (Ausgabe 4, 1999) von einem „Reisefilm“ gesprochen. Dieser Begriff ist gut gewählt, denn der gängigere Begriff „Road Movie“ würde zu diesem Epos eben nicht passen, da in diesem Film die Straße und das Auto nur anfänglich – wie auf dem Lozère-Plateau – im Fokus stehen:
Die Hauptfigur Claire Tourneur möchte ihrem Freund Eugene Fitzpatrick entkommen. Jedoch wird die filmische Geschichte, die in Venedig, an einem vor allem aufgrund von Drogenexzessen berauschenden Ort beginnt und im Weltraum endet, von jenem Fitzpatrick erzählt. So verfolgt er in seiner Rolle als Schriftsteller stets die Handlung und reist dabei seiner Ex-Freundin nach. Die Liebesgeschichte mit dem Australier Sam Farber, der den Decknamen Trevor McPhee trägt und international als angeblicher „Opal-Dieb“ und „Spion“ gesucht wird, ist alles anderes als hinreißend, weil es sich eher um eine Liebesprojektion von Claire handelt. Doch die erzählerische Konstruktion ist kongenial: Beide Männer verfolgen (neben anderen Männern) auf intime Art und Weise das Leben von Claire Tourneur: Der eine von Beginn an als Roman-Erzähler, der andere als Bilder-Erforscher ; beide verbindet, dass sie als handelnde Personen im Film präsent sind und ihre Rollen wie auch bei den anderen Reisenden im Film nicht klar abgesteckt sind.
Da der Film 1991 herauskam, aber im Jahr 1999 vor dem Hintergrund eines apokalyptischen nuklearen Angriffs spielt, sind Science-Fiction-Elemente zahlreich, vor allem elektronische Geräte, die tatsächlich um die Jahrtausendwende mehr und mehr auf den Markt kamen. Ein Zuschauer von 1991 hat es wohl noch als wundersam empfunden, wenn Claire in ihrem Rover P5, der nur bis 1973 hergestellt wurde, über ein grafisches Navigationssystem verfügt, das sie direkt anspricht. Als sie von der Piazzale Roma in Venedig zurück nach Frankreich losfährt, sagt ihr die Computerstimme:
Guten Tag, Claire. Ihr Auto-Computer ist online. Sämtliche Fahrfunktionen werden überprüft. Aktivieren Sie die elektronische Landkarte und geben Sie das gewünschte Fahrziel ein.
Der folgende Roadtrip führt Claire nicht direkt zurück nach Paris, sondern in die menschenleere Region Lozère, wo sie nach einem glimpflich ausgegangenen, aber spektakulären Unfall auf zwei Bankräuber trifft, die leichtsinnig die Karambolage zu verschulden hatten. Diese nimmt sie in ihrem noch fahrtüchtigen Wagen mit in eine Unterkunft und handelt als Belohnung 30% der von ihnen erbeuteten Geldsumme aus, die aus verschiedenen Währungen besteht. Da die Tasche mit dem vielen Geld einen Ortungssender hat, wird Claire von den beiden weiter indirekt verfolgt. In einem verwahrlosten Einkaufszentrum in Saint Etienne stößt sie während der Autoreparatur dann auf Trevor McPhee an einer öffentlichen Bildschirmtelefonie-Station. Sie nimmt ihn mit nach Paris, ohne Kontaktadressen auszutauschen. Durch Zufall sieht sie ihn wieder an einer Telefonstation im Büroviertel La Défense, wo sie die Adresse Mangerstraße 26 in Berlin (die reale Adresse ist eine Potsdamer Villa) aufschnappt. Sie sucht ihn dort auf. Zur weiteren Unterstützung beim Aufspüren von Sam kommt der schräge Detektiv Philipp Winter (firmierend unter „Missing Persons GmbH“) zum Einsatz, der seinerseits ein Auge auf Claire wirft. So nimmt ein weiterer Mann an einer unwiderstehlichen Welt-Reise teil….. Die Geschichte kann und soll jetzt nicht weitererzählt werden. Sie lohnt sich auf jeden Fall, in Gänze angeschaut zu werden.
Wenders sagte im bereits erwähnten Interview:
Für mich fangen Filme mit einem Ort an. Für die meisten meiner Filme gab es einen Ort, bevor es eine Geschichte gab.
Dieser Gedanke fasziniert mich, gerade auch weil Ort und (Zeit)-Geschichte in gewissen Augenblicken verschmelzen. „Storytelling“ basiert auf Zeit und auf gewissen Begebenheiten: Eine ganz wichtige kann der Umweg sein, den Claire am Anfang des Films auf der Autofahrt von Venedig nach Paris macht. Denn sie lässt nicht die atomare Bedrohung, sondern ein Verkehrstau ungeduldig werden, dem sie von der verstopften Autobahn über einen Waldweg entkommt. Nur deswegen führte die angezeigte Route sie folgenreich über das Lozère-Plateau.
Als besonderer filmischer Ort ist das Hotel Adlon in Berlin geradezu visionär, wo Claire Trevor McPhee / Sam Farber privat treffen wollte, dabei jedoch versetzt wird. (Das Bild zeigt die erschöpfte Claire in der Hotellobby). Vielleicht hat Wenders damals daran gedacht, dass es wiederaufgebaut werden würde (Neueröffnung im originalgetreuen Gewand 1997). Verständlicherweise wählte er im Film eine futuristische Kulisse, die zusammen mit der historisch-realen Kulisse vom heutigen Zuschauer abgeglichen werden kann. Das gilt auch für vieles andere im Film: Was war damals im Film Fiktion, was heute Wirklichkeit ist? Allein mit dieser Frage ist dieses filmische Dokument ein wertvolles Stück Kunst(geschichte), das es unbedingt (wieder) zu entdecken gilt.
Lesenswert ist das erwähnte Interview in der Zeitschrift Revolver; darüber hinaus eines mit Schülerinnen und Schülern des Lycée Français de Berlin aus dem Jahre 2010. Wissenschaftlich setzt sich unter anderem Andreas Jacke mit dem Film auseinander: „Apocalypse – not now“ , erschienen auf den Seiten 149-162 in: Blade Runner, Matrix und Avatare (Springer 2013, hg. von Parfen Laszig.) Das Buch ist auch als E-Book erhältlich. Seit 2012 gibt es die Wim-Wenders-Stiftung, die zu jedem Wenders-Film Informationen bereithält und ggf. bereitstellt (wie dankenswerterweise die beiden Bilder). Der Film ist über die Arthaus-Webseite leicht erhältlich.
Die Kulturgeschichte der Ampel ist noch nicht geschrieben worden. Ob dieses Unterfangen sich lohnen würde? Wenn man bedenkt, dass Ampel etymologisch von ‚Ampulle’ kommt und wir jede ‚Pulle’ als ein Gefäß umschreiben können, dann zeichnet sich womöglich eine spannende Spurensuche ab.
Im anglophonen Sprachraum regeln den Straßenverkehr ‚traffic lights’, also Lichter, in frankophonen Ländern sind es die ‚feux ’, also die Feuer, die aufleuchten. Insofern ist der offizielle Begriff Lichtzeichenanlage für eine Ampel einfach nur zu sperrig, doch die Kombination aus ‚Licht’ und ‚Zeichen’ trifft ja genau zu, wenn wir von ‚rot ’, ‚gelb’ und ‚grün’ sprechen.
Eigentlich ist das rote Signal, wenn man an die Eisenbahn denkt, ebenfalls nur eine Aufforderung, anzuhalten bzw. nicht weiterzufahren. Und doch liegt es nahe, eine Signalfarbe, also ein gut sichtbares Zeichen, bei bestimmtem Einsatz mit einer Warnfunktion zu verbinden. So frage ich mich, ob wirklich erst seit dem Jahr 2020 in Deutschland und Österreich von einer Warnampel die Rede ist. Ich stelle mir zugleich die große Schwierigkeit eines Dolmetschers vor, den Begriff adäquat zu übersetzen. Er leuchtet nämlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht sofort ein, denn eine Verkehrsampel als Zusammenschaltung von Signalfarben soll nicht allgemein warnen, sondern ein komplexes System besser regeln. Eine grün zeigende Ampel hat nicht das Geringste mit Gefahr zu tun, wohl aber dann, wenn die Ampel auf gelb und dann auf rot springt. Dieses Springen ist ja auch eine sprachliche Dynamisierung eines Farbwechsels, was sicher daran liegt, dass die Ampelfarben meist senkrecht angeordnet sind und das Springen nur mit einer gewissen Sprunghöhe vorstellbar ist.
Zum Glück ist den meisten klar, warum der Begriff der Warnampel 2020 geprägt wurde. Der dazugehörige Diskurs, nämlich die Bekämpfung einer Pandemie, wird in nicht allzu weiter Ferne sicher in Abschlussarbeiten skizziert. Bisweilen sind die Befürworter und die Skeptiker in einem Gremium vertreten: Der eine (Ministerpräsident von Bayern) wollte diese Warnampel unbedingt, die andere (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) wollte sie anfangs eher nicht, weil eine grün leuchtende Ampel nämlich keine Gefahr induziere, sondern eine „falsche Sicherheit“. Deswegen gibt es bei der rheinland-pfälzischen Version bis zum heutigen Tage überhaupt kein Grün bei den Warnstufen. Das Grün wurde hier durch vollkommen neutrales Weiß ausgetauscht. Außerdem sind die drei Ampel-Farben in den Augen vieler Entscheidungsträger nicht ausreichend, wenn man pandemische Warnhinweise bedenkt. Wird nicht ‚violett’ als die warnende Farbe schlechthin gesehen? Im Herbst 2020 hatten auch aus diesem Grund deutsche Bundesländer jeweils ein eigenes Ampelsystem zur Pandemiebekämpfung, was bisher nicht vereinheitlicht wurde. Berlin hat immer noch drei klassische „Leuchten“ und drei weitere sekundäre Ampeln, die den „Indikator für die Reproduktionsrate“, den „Indikator Neuinfektionen je 100000 Einwohner und den „Indikator Bettenbelegung der Intensivstationen” zusammenfassen. Hessen hat zusammen mit Orange und Dunkelrot fünf Farben, allerdings nur die Inzidenz, also die Fallzahlen, als Indikator.
Immerhin hat die EU international anerkannte Kriterien eingeführt, wobei keine (Warn-)Lichter im Englischen wiedergegeben werden, sondern einfach nur bestimmte Wertgrößen bestimmten Farben zugeordnet werden. An Farbenblinde wird auch gedacht: Beim „combined indicator“ (auch die Quote von Positivgetesteten wird einbezogen, nicht nur die absolute Anzahl) werden neben den klassischen Farben grün, orange und rot in einer separaten Karte alternativ Blau-/Grautöne eingesetzt. Wer gerne Karten und studiert und sich auf die komplexe Datenlage einlässt, wird die eine oder andere Entdeckung machen. Allerdings werden hier 14 Tage und nicht 7 Tage als Betrachtungszeitraum gewählt. Insgeheim muss also etwas (um-)gerechnet werden.
In Tschechien ist man übrigens im doppelten Sinne auf den Hund gekommen. Denn das dortige Warnsystem („Protiepidemický systém“), kurz PES, lässt einen an keine Ampel, sondern an einen Vierbeiner denken, denn die Abkürzung heißt im Tschechischen zugleich „Hund“. Und deswegen verwundert es nicht, dass auf der offiziellen Seite des tschechischen Gesundheitsministeriums die Warnstufen auch mit bildlichen Hundemotiven angereichert sind. Sie warnen so deutlich, dass Erklärungen fast entbehrlich sind: Ein (Wach-)Hund signalisiert keine absolute Sicherheit, höchstens eine Entspannungsphase, wenn die Zunge raushängt; und sein Sensorium ist zu scharf eingestellt, als dass er in der geringsten Warnstufe nicht aufmerksam genug wäre:
Das Covid-Warnsystem in Tschechien ist auf den Hund gekommen
Angesichts der vielen Ampel-System-Unterschiede in der föderalen Bundesrepublik Deutschland ist diese Farbskala mit bildlicher Schärfe eine klare Ansage. In der deutlich kleineren Bundesrepublik Österreich ist die Ampel übrigens schon seit dem Herbst landesweit in Anwendung, sie zeigt aktuelle überall dauerrot an, während in Tschechien der Hund zur Zeit im Gesamtüberblick violett-bissig dreinschaut.
Und noch etwas Brandaktuelles: Just in dieser Woche leuchtete eine Signalfarbe mit gravierenden Folgen falsch auf. Die F.A.Z. meldete am 27.01.21, dass aufgrund einer „Datenpanne“ die Lombardei ab dem 17.01.21 „als rote Zone eingestuft“ worden sei, obwohl sie hier mit den korrekten Werten gleich zwei Stufen besser hätte da stehen müssen, nämlich als gelbe Zone. Schadenersatzsummen von bis zu 600 Millionen Euro könne dies zur Folge haben. Denn nicht nur hätten hier wie in einer orangenen Zone (wie aktuell im Großteil Italiens) Geschäfte öffnen dürfen, sondern auch die Gastronomie. Stattdessen durfte keiner in dieser Region ohne triftigen Grund vor die Tür treten. Es kommt noch ärger: Am gleichen Tag gab es einen Rücktritt zu vermelden, nämlich den des italienischen Ministerpräsidenten! Das tut weh: Falsche Signale im doppelten Sinne werden hier ausgesandt. Eine italo-schweizerische Beobachterin hat in einem Blog-Artikel bereits beschrieben, dass in Italien Anfang 2021 „Farbnuancen“ eingeführt wurden, so dass beispielsweise von „verstärktem Gelb“ gesprochen werde könne. So kräftig wurde selten von offizieller Seite im „Farbtopf“ gerührt! In Italien scheint ein zentrales Warnsystem regionale Ausdifferenzierungen zuzulassen, während in Deutschland aktuell (fast) alles daran gesetzt wird, verschiedene Warnampel-Systeme nur dann einzusetzen, wenn die größten Gefahren gebannt sind. Die Debatte um dieses hochkomplexe Thema wird zurecht kontrovers (weiter-)geführt.
Und es gibt noch eine Pointe zu Warnhinweisen: Neulich verweis ein lieber Freund auf das Unterfangen des ehemaligen Tübinger Professors Jürgen Wertheimer, der ein begeisterter Forscher zum Kassandra-Mythos ist, ohne vermutlich einen direkten Draht zu Kassandra-Rufen zu haben. Wertheimer durfte Kontakt zum Bundesverteidigungsministerium aufnehmen, wo er das Sensorium der Warnrufe jener mythologischen Figur erklären durfte. Er hatte die Idee, „eine literarische Konflikt-Map für Krisenregionen“ einzuführen, die „narrative Erschütterungen in der Literatur auf diese Weise politische Eskalationen vorhersagt“, wie Benedikt Herber Anfang des Jahres in der Zeit schrieb. Also ergibt sich daraus eine Art Seismografie, die eben auch Gesundheitskrisen wie die derzeitige Pandemie erfasst. Es geht um „Prognostik“ und damit auch um „Maßnahmenketten“. Weder Wirtschafts-, noch Finanzkrisen und erst recht keine Flüchtlingskrisen machen vor Ländergrenzen Halt; und es ist fraglich, ob kommende Krisen auch dank literarischer Erzeugnisse besser prognostiziert werden können. Natürlich lässt sich ohne stichfeste Indikatoren keine Skala errichten, doch wird sich zeigen, wie man in Zukunft mit subtilen Signalen Unheil heraufziehen sehen und womöglich schnell(er) eindämmen kann. Kassandra misst nicht, sie wittert etwas. Folglich ist jede Warnfunktion nur dann sinnvoll, wenn frühzeitig gewisse Zeichen der Zeit erkannt werden; und nicht erst, wenn operativ gehandelt werden muss. Am besten wäre es, wenn es unabhängig von grün noch gelb, von rot und violett als Warnstufen ausreichend Wachsamkeit gäbe. Die sollte bekanntlich auch dann gegeben sein, wenn alles in geregelten Bahnen zu laufen scheint. Es ist nun mal so: Der Mensch ist stets mal niedrigeren, mal höheren Gefahrenstufen ausgesetzt, ohne dass klar wäre, welche Stufe genau wann betreten wird.
Der zitierte Artikel aus der Zeit (Ausgabe 2, 2021, Seite 45) ist als „Arbeitsprobe“ von Benedikt Herber hier nachzulesen.
Ein „Frischling“ in der Probezeit namens Christian (Franz Rogowski), eine erfahrene Kollegin (Sandra Hüller) aus der Süßwarenabteilung namens Marion und ein Vorgesetzter namens Bruno (Peter Kurth) – diese Konstellation in einem Großmarkt könnte gewöhnlicher kaum sein und ist dennoch brillant inszeniert. Thomas Stubers FilmIn den Gängen, der auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer basiert, wird mir als cineastisches Kammerspiel noch lange in Erinnerung bleiben. Die schnöden Arbeitsgänge werden im wahrsten Sinne des Wortes beleuchtet. Der Regisseur spricht in einem Interview mit dem Filmwissenschaftler Ronald Ehlert-Klein von einem „humanistischen Film“. Licht wird maßgeblich zum Erzählfaktor, was die folgenden Einstellungen bildhaft zeigen, in denen der Mensch – hier Christian – mit dem Erlernen von Arbeitsgängen, seinen Reflexionen und der Einsamkeit vorgeführt wird und die von teils vorsichtigen, teils dreisten Annäherungen an Marion unterbrochen werden. Der unbedingte Wunsch nach Kontaktaufnahme durchbricht jegliche menschliche Kälte. Selbst in den einsamsten Stunden wird das Dunkel durch künstliche Lichtquellen geflutet, die jedoch kaum menschliche Wärme symbolisieren können. Licht und Dunkel gehören zu Brunos Arbeitsleben unmittelbar dazu.
Beim Duschen geht dieser Gedanke Bruno melancholisch durch den Kopf, als er seine ersten Arbeitstage im Großmarkt Revue passieren lässt: „Es gab kein Tageslicht in den Gängen, und wenn ich den Markt verließ, war es draußen schon dunkel.“ Seine Sehnsucht nach Zweisamkeit ist ihm ins Gesicht geschrieben:
Allein in der Badewanne
Das Alleinsein ist auch im Nachtexpress nach Schichtende eindrucksvoll inszeniert. Verlassene Parkplätze und Haltestelle sind im Grunde seelenlose Transit-Orte; doch auch hier schwingt der innere Friede mit, der eben keine Verzweiflung über die Härte des Lebens zulässt:
Einsame Heimfahrt vom Großmarkt
Der Faktor Logistik steht in einem Großmarkt an erster Stelle. Dazu gehört auch das Manövrieren eines Hubwagens zum Transport von Euro-Paletten, was der dritte Screenshot zeigt. Währenddessen erklingt Johann Sebastian Bachs berühmte Air, was der Szene einen unaufgeregten, getragenen und leicht schwermütigen Eindruck verleiht:
Üben in den Gängen (für den Staplerführerschein)
Eindrücklich wird der Gabelstapler als wichtigstes Fahrzeug im Großmarkt in vielen weiteren Szenen mit all seinen Tücken vorgeführt. Ähnlich wie in einer Fahrschule ist ebenfalls Theorieunterricht für den Staplerführerschein angesagt. Lakonisch-frotzelnd doziert der Ausbilder über physikalisch-technische Eigenheiten des Gabelstaplers:
Der Gabelstapler, oder das Flurförderzeug, wie es korrekt heißt, ist eine sichere Arbeitsmaschine, Komma, wenn wir ein paar einfache Grundregeln beachten: Gabel mit b, Stapler mit p, sag’ ich nur. Was für’n Autofahrer die Straßenverkehrsordnung ist, das ist für uns die berufsgenossenschaftliche Vorschrift, kurz die BGV, da habe ich hier zufällig mal ein Exemplar dabei. Da steht zum Beispiel: „Die Mitführung einer weiteren Person im Gabelstapler ist strengstens verboten.“ Warum wohl? [Schweigen]. Sie führt zu unkalkulierbaren Risiken für das Leben der mitgeführten Person. Wer lesen kann ist klar im Vorteil. Kommen wir zum Hebelgesetz 1 und 2, Physik achte Klasse, Freunde. Keiner? [Pause] Das kennt ihr aus dem Kindergarten. Das beste Beispiel ist die Wippe. Wenn de mit’m dicken Kind wippst, biste ganz schnell oben, kommste nicht mehr runter. Was machste? Was machste, he? Stell dir mal vor: Wippst mit’m dicken Kind, biste oben, kommst nicht mehr runter. Wie kommste runter? [Pause] He? He? Kippel mal. Ist erlaubt. [Christian kippelt mit seinem Stuhl.] Sehr gut. So. Was macht er? Er verlagert seinen Schwerpunkt nach hinten. [Ausbilder drückt ihn leicht wieder am Rücken nach vorn.] Er verlängert den Lastarm. Wie der Gabelstapler.
Am Ende des Films wird Christian nach bestandener Probezeit und Staplerscheinprüfung befördert, wenngleich der Freitod von Bruno den Aufstieg trübt. Die Doppeldeutigkeit von Beförderung im beruflichen und im logistischen Sinne erhält hier eine besondere Geltung: Verbotenerweise führt er bei seiner Gabelstablerfahrt seine Kollegin Marion mit und befördert damit auch wortwörtlich eine von ihm geliebte Person.
Marion und Christian bemerken dabei, wie entrückend und betörend solch ein technisches Gefährt in besonderen Augenblicken wirken kann. Dieser Dialog ist ein grandioses und zugleich stilles Finale, nach dem kein Wort mehr artikuliert werden muss.
Christian: Hab mal gehört, dass das verboten ist.
Marion: Hab mal gehört, du bist befördert worden. [Pause, während sie weiterfahren] Halt mal kurz an. So, fahr die Gabel mal ganz hoch.
Christian: Wieso?
Marion: Mach mal bitte. Das hat Bruno mir vor Jahren mal gezeigt, ich weiß nicht, ich find‘s schön. [Christian fährt die Gabel hoch.] Lass sie wieder runter, ganz langsam. [Christian fährt die Gabel wieder runter.]
Christian: Und jetzt?
Marion: Du musst still sein, ganz still. Das Rauschen. Hörst du, wie das Meer.
Christian: Jetzt hör ich’s. [Beide schauen weiterhin zur sich langsam nach unten bewegenden Gabel nach oben; hörbares Meeresrauschen.]
Christian [als Erzähler während des Meeresrauschens]: Sie hatte recht. Warum war mir das nie vorher aufgefallen? Es klang tatsächlich wie das Rauschen am Meer.
Die Screenshots sind im Film in ihrer Reihenfolge zu folgenden Zeitangaben zu sehen: 15:25, 23:02 und 14:23; die längeren Zitate sind an folgenden Stellen zu hören: 33:02 – 34:42 und 1:52:42 -1:54:55. Bis zum 10.02.21 ist der Film noch in der Arte-Mediathek zu sehen. Ein ausführliches Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung enthält das erwähnte Interview mit Thomas Stuber. Mehr (hochauflösende) Bilder zum Film und das Filmplakat gibt es bei der Filmverleihfirma Zorro Film.
Wer schon einmal eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreiben musste, weiß, wie wichtig prägnante Fragestellungen sind. Nicht immer geht es dabei um Lösungsansätze, da längst nicht jede Frage eine klassische Aufgabenstellung beinhaltet.
Als ich neulich aus Interesse die im Herbst 2019 mit einer Rüge versehende Dissertation der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey überflog, kam mir schnell in den Sinn, dass ein Unterfangen namens Promotionsschrift fragwürdig sein kann, wenn praktische Lösungsansätze mit wissenschaftlichen Lösungsansätzen kombiniert werden. Es sind zwei unterschiedlich geartete Sphären, die sogar wie zwei Billardkugeln kollidieren können. Ich denke vor allem an die (Diskurs-) Felder Politik und Politikwissenschaft. (Tages-)Politik kommt im Grunde ohne Politikwissenschaft aus, wenngleich eine Trennschärfe nicht immer möglich sind. Es steht außer Frage, dass Politikgestalterinnen und -gestalter wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen sollen, wie es in der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist. Doch ist es realistisch anzunehmen, dass Giffeys politikwissenschaftliche Dissertation auch in der politischen Gestaltungsarbeit berücksichtigt wird?
Diese Fragestellung ist keinesfalls hypothetisch, versucht die Arbeit doch, europapolitische „Beteiligungsinstrumente“ der Europäischen Kommission auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die lokalpolitische Akzeptanz in Berlin-Neukölln zu prüfen. Die Prüfung dieser Instrumente ist als ein Eignungstest zu verstehen, der für drei verschiedene „Eignungsdimensionen“ jeweils drei weitere „Bewertungsindikatoren“ vorsieht. Einen Überblick dazu gibt die Tabelle, die am Ende von Giffeys Arbeit dargestellt ist und quasi einen Überblick über die Analyseergebnisse bietet:
Aus: Franziska Giffey: Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft, 2009, S.197 (Abrufbar unter: https://refubium.fu-berlin.de/)
Die dreistufige Bewertungsskala zeigt an, ob die skizzierten Instrumente sich mehr oder weniger für bestimmte lokal zivilgesellschaftliche Maßnahmen vor Ort bzw. an der Basis, wie es in der Politik oft heißt, eignen. Der wissenschaftliche Leser kann schon an diesem Tableau erkennen, dass die sechste Kategorie, nämlich multiplikatorenbasierte Beteiligungsinstrumente, am besten abschneidet.
Ohne weiter ins Detail zu gehen, frage ich mich, ob hier der Faktor Vergleichbarkeit zwischen mehreren Instrumenten gegeben ist. Lassen sich rein mediale, nämlich die printbasierten, audiobasierten und webbasierten Instrumente mit denen vergleichen, wo Personen mit oder ohne Unterstützung leibhaftig in Aktion treten? Liegt es nicht nahe, wie das Wort „Multiplikator“ bereits anzeigt, dass hier beabsichtigte Wirkungen wie in einem Resonanzraum verstärkt werden? Die Autorin stützt sich vorwiegend auf Aussagen vor Ort, was bedeutet, dass hier auch Statements politischer Akteure einfließen. Das ist für eine Feldstudie natürlich ein probates Mittel, doch wie valide ist eine wissenschaftliche Untersuchung in diesem Kontext?
Ich lasse die Fragen bewusst offen, weil ich hier keine abschließende Bewertung abgeben kann und dies auch nicht möchte. Eine von der FU Berlin erteilte Rüge – ein wahrlich bizarres Vorgehen – beweist, dass die Autorin ihren eigenen Eignungstest eigentlich nicht bestanden hat. Und so leidet auch der Eignungstest europapolitischer Maßnahmen. Diese beiden Eignungstests lassen sich eben nicht feinsäuberlich trennen.
Nach einem Jahr, wo es spätestens ab dem Frühjahr täglich um Tests und Testungen ging, bei denen das Ergebnis neben dem gewöhnlichen Ergebnis „positiv“ und „ negativ“ auch mal in der Schwebe hing, sehen wir womöglich in Zukunft noch eindringlicher, wie sensibel auch die Interpretation von Testergebnissen vorgenommen werden muss. Natürlich geht es in der Dissertation der Bundesministerin weniger um Tests im herkömmlichen Sinne als um Bewertungen von Maßnahmen in Bezug auf bestimmte erfüllbare Indikatoren, die als Kriterien fungieren. Die vorgelegte Arbeit ist quasi der Test-Kit. Wenn er etwas taugen sollte (dies wäre zuvorderst in der Politikwissenschaft zu diskutieren) würden die abgeleiteten Empfehlungen womöglich nicht nur in Berlin-Neukölln Schule machen. Ich bin jedoch weiterhin skeptisch, ob der Test-Kit gut genug dafür ist, lasse mich aber gern eines Besseren überzeugen.
Ich wünsche der Autorin, wie es in Absageschreiben so schön formell heißt, jedenfalls alles Gute für ihren weiteren Lebensweg, und das meine ich bewusst nicht lapidar. Nächstes Jahr steht ja die Wahl zur Regierenden Bürgermeisterin in Berlin an. Das sollte für Franziska Giffey ausgemachte Sache sein! Eine Dissertation ist für dieses Amt jedenfalls keine Voraussetzung. Schließlich würde ich mir wünschen, wenn europapolitische Akteure in Zukunft wirklich als Multiplikatoren aktiv(er) werden, damit das Bauwerk Europa auch transparenter wird. Es braucht neben genügend Fördertöpfen Mittler, die überparteilich den Geist Europas wie einen Luftstoß in lokale Gefilde bringen. Nach einem reise- und begegnungsarmen Jahr 2020 ist das wichtiger denn je!
TÜV –
Technischer Überwachungsverein – diese Abkürzung ist auch denjenigen vertraut,
die (noch) gar kein Kraftfahrzeug besitzen. Alle zwei,
spätestens alle drei Jahre steht ein TÜV-Termin an, denn immer noch lässt sich
ein Motor mitsamt der Karosserie nicht selber überwachen. Es bedarf eines
Ingenieurs, der die Technik überwacht.
Wie sieht es mit dem Smart Home aus, das nach dem Smart Phone schlau genug ist, sich selbst und zugleich den Nutzer zu überwachen? Während im Deutschen das Verb ‚wachen’ seit Jahrhunderten positiv konnotiert ist – man denke nur an die Nachtwache oder den Wachhund – , ist die Überwachung ein zweischneidiges Schwert. Eine Videoüberwachung mag den einen oder anderen Kriminalfall lösen, doch ist vielen unwohl, wenn wir auf Schritt und Tritt überwacht werden, gerade wenn ein Smartphone die Aufgabe einer Videokamera mehr als gut ersetzen kann. Hier ist ganz klar: Anders als beim TÜV überwacht das Gerät den Menschen und zeigt ihm im wahrsten Sinne des Wortes mögliche Fehltritte an. Theoretische Überlegungen zu diesem Thema wurden bereits genug angestellt – die Interaktion von Mensch und Maschine wird uns sicherlich die nächsten Jahrzehnte über begleiten.
Romanesk hat sich der Architekturkritiker und F.A.Z.-Redakteur Niklas Maak dem Phänomen Smart City gewidmet, was im Grunde das Weiterdenken von Smart Home ist, denn schließlich geht es darum, auch Häuser untereinander zu vernetzen, in dem der aufschlussreiche Datenfluss nirgendwo auf die eigenen vier Wände begrenzt wird:
In der autogerechten Stadt ging es darum, dass die Leute in Ruhe gelassen werden, in ihren Schlafburgen, auf dem Weg zur Arbeit, wohingegen es in der smartphonegerechten Start darum ging, dass alles mit allem in Kommunikation trat und der Bewohner, was man als Versprechen oder als Drohung lesen könnte, nie mehr allein war, sondern ständig Daten abgenommen bekam wie ein Patient in der Notaufnahme Blut und dass dieses neue Blut alle Informationen enthielt, die man brauchte, um die Körper und die Gefühle und die Begierden und die Ängste des Smartstadtbewohners nach Belieben zu steuern. Eine Wand bedeutete nichts mehr, sie war kein Schutz mehr und nur noch notwendig, um an ihr Sensoren anzubringen. Die Datenvampire hatten ganze Arbeit geleistet.
Der Roman Technophoria, aus dem dieses Zitat stammt, beschreibt dystopisch das Austesten und damit auch das reale Simulieren von Elementen einer Smart City. Maaks Figuren bleiben ähnlich wie beschriebene Welten, die sich um den Globus spannen, seltsam blass. Turek, die Hauptfigur, ist ein Cheflobbyist einer Private Equity Firma, die Smart Cities testen und bauen lässt. Er findet im (Arbeits-)Leben keinen Halt und wird wohl absichtlich diffus gezeichnet; jedenfalls kann ich mir diese Figur kaum bildhaft vorstellen.
Niklas Maak scheut dabei nicht davor zurück, Kalamitäten zu schildern, die einer bissigen Tragikomödie gleichkommen. Als Leser scheint die literarische Welt schockgefroren zu sein; menschliche Wärme ist selbst in noblen Anwesen ein Fremdwort; selbst der Anblick von Frisuren erinnert daran, dass darin „eine unsichtbare Elektrizität zu fließen schien“. Überwachung per Videokamera ist omnipräsent. Immerhin kann man die Kamera noch mit Rasiercreme einschäumen und sie blind stellen, wie es Tureks Freundin Aura im angemieteten Ferienhaus in Portugal bewerkstelligt. Die menschliche (Er-)Schaffenskraft bleibt seltsam forciert, weil Geräte und nicht der Mensch selbst Entscheidungen erzwingen, so dass die Willensfreiheit kaum noch gegeben ist. Diese Grauzone resümiert Maak eindrucksvoll, als von einem Test-Roboter in der Verkleidung einer Androidin die Rede ist. Menschenähnliche Wesen erhalten in einem eigenen Kapitel namens „Roboter“ eine schaurige Bühne. Er legt dem japanischen Ingenieur, den Turek im fernen Osaka besucht, folgende Worte in den Mund:
Weißt du – ein Roboter ist nichts anderes als ein lebendigerer Spiegel, der uns zeigt, was wir wollen und wer wir sind. Es gibt etwas in unserem Gehirn, das aktiv wird, wenn man Trauer oder Freude bei anderen Menschen beobachtet, was es uns erlaubt, sich in jemand anderen hineinzuversetzen. Schon jetzt können Roboter von ihren Fehlern lernen. Bald werden sie in der Lage sein, auch ihre Programme zu hinterfragen, und Fehler der Programmierer zu korrigieren, ohne dass man sie dazu aufforderte. Und dann haben wir es mit einer neuen Natur zu tun.
In der Tat: Ein Roboter lässt tief blicken, umso mehr, wenn er hat ein gewisses Fehlerbewusstsein aufweist. Er hätte dann eine Einsicht, so wie wir auch Spiegel verwenden, um in unser Innerstes hineinzusehen. Wenn die Forschung es schaffen sollte, Nachdenken und Reflektieren vom menschlichen Gehirn abzukoppeln, wäre unser Geist entzaubert. Dann wären neue Geister aus der Taufe gehoben. Doch noch ist es (längst) nicht soweit: Solange der TÜV noch ansteht, überwacht sich die Technik noch nicht selbst. Solange wir mit dem Phänomen Risiko leben müssen, hat der Mensch paradoxerweise noch sein Leben in gewissem Maße unter Kontrolle. Ohne Risiko scheint er jedoch die Autonomie über seinen Lebensweg entscheidend zu verlieren. Wollen wir sie aufgeben, um von autonomen Technikgeistern geführt zu werden?
Andreas Altmanns Lyrik ist seit vielen Jahren im Leipziger poetenladen Verlag gut aufgehoben. Daneben ist der poetenladen ein bemerkenswertes Literaturportal und -label, das sich nicht nur der Lyrik widmet. 2009 traf ich Altmann in Berlin, nachdem ich aus Zufall auf der mehrsprachigen Webseite lyrikline.org auf einige Gedichte aus seiner Feder gestoßen war. Mit ihnen hatte ich sogar ein Ausstellungsprojekt zusammen mit passenden Fotografien von ehemaligen Industrielandschaften geplant, das ich jedoch schließlich verwarf.
Im Nachhinein lohnt es sich, das Internet nach Rezensionen zu durchforsten, die zu eigenen, früheren und nun wieder aufgerufenen Gedankengängen passen. Schließlich geht es ja auch um das Anknüpfen von Gedankensplittern, gerade wenn von Lyrik die Rede ist. Die Äußerungen von zwei weiteren Altmann-Interpreten zeigen mir nämlich, dass die wahrhaftigen Sprachbilder – ob sie nun gemalt oder fotografiert sind – für Altmanns Gedichten gerade auch wegen der leuchtenden Farben prädestiniert sind. Denn im Grunde zeichnen die Texte ihre eigenen Bilder:
Die Gedichte von Andreas Altmann sind grün. Diese Farbe legt sich um eine Sprache, die leise und sanft sich bewegt. Mitunter, wenn die Sanftheit in eine umfassendere Ganzheit gelangt, wechselt die Farbe.
So steht es in einem Blog mit dem schönen Namen literaturleuchtet. Und auf der Literaturplattform Fixpoetry heißt es:
Wer einen Gedichtband von Andreas Altmann aufblättert, betritt eine Gemäldegalerie. (…) Die Dinge sind häufig belebt, als ginge ein animistischer Geist durch alles und würde es miteinander verbinden. Dann sinken die Dinge wieder zurück in eine bedächtige Distanz zum Betrachter, dem es unterdessen mehr und mehr vorkommt, als verblassten die Rahmen um diese Gemäldeskizzen, so daß die Gedichte ins unbegrenzte Offene ausfasern.
Im 2018 erschienen der Band Weg zwischen wechselnden Feldern, dessen Cover das Visuelle in der Schrift mehr als verdeutlicht und dabei zugleich eine konkrete Spur als Weg einzeichnet:
Andreas Altmann: Weg zwischen wechselnden Feldern (poetenladen, 2018)
Die dahingleitende Erinnerung an untergegangene Zeiten, die mehr oder weniger leidvoll für den engeren Familienkreis des lyrischen Ichs gewesen sein muss – sie strahlt im Band oft auf und wird gewissermaßen mit Worten bebildert. Das Gedicht naturfarben wählte ich stellvertretend aus, weil es all die Attribute enthält, die Altmanns Lyrik in einem fokussierten Wort-Kosmos verwebt: Farb(losigkeit)en, (un)belebte Natur, (Frei-)Räume, (An-)Blicke, (Zwie)Licht(er), (Jahres-)Zeiten, (Schrift-)Zeichen :
naturfarben
licht hat die säle geflutet, der regen
moos und flechten in den beton gepflanzt.
hier wachsen die bäume nicht in den himmel.
zeichen aus einer anderen zeit faulen auf
den mauern. stühle, seit jahren unberührt,
häufen sich vor dem gebäude über den tischen.
das freie hat ihnen zugesetzt. die natur holt sich
ihre farben zurück. im schnee erzählen sie
den augen ihre blinden geschichten. sie sehen
das licht in den worten aufscheinen. der raum
spielt für sich selbst theater steht an der wand
mit den aufgeklappten sitzen. und vor den
flügeln der tür hat sich herbstlaub gesammelt,
verrät jeden gang, der an sich selbst vergeht.
Eindrücklich und auch eindringlich beschreibt Altmann einen aufgegebenen (Kunst-)Raum, der mit der Kraft der Worte neu erstrahlt. Kaum ein Foto könnte diese Intensität zeigen. Mit unserer Vorstellungskraft können wir uns ausmalen, wie so ein Raum aussehen könnte; das Sichtbare allein wäre nicht ausreichend. Denn neben „sehen“ und „aufscheinen“ sind auch „erzählen“, „faulen“, „unberührt“, „Gang“ und „spielen“ präsent. Es sind Worte, die wir nur mit Hilfe unserer gesamten Sinneswahrnehmung durchdringen können. Uns ist Flutlicht vertraut, aber nicht Licht, das Säle geflutet hat, uns setzt Stress und Streit zu, aber gewöhnlich nicht das Freie. Ein an sich selbst vergehender Gang, verraten durch das Herbstlaub, hat etwas wunderbar Geheimnisvolles, das sich nicht auflösen lässt. „Gang“ und „vergehen“ besitzen bereits eine schillernde Bedeutungsvielfalt, dazu erscheint mit diesen beiden Worten die „Vergangenheit“ im Kontext des Gedichts wie ein Wort-Gespenst.
Allgemein ist uns Zeile für Zeile jedes einzelne Wortes vertraut, aber nicht das gebildete Satzgefüge. Gerade dieses Abrufen von Erfahrungsschätzen im Zusammenspiel mit einer Neubegegnung von buchstäblich nachspürbaren Ausdruckskombinationen macht nicht nur dieses Gedicht von Andreas Altmann zu einem Hochgenuss von Lektüre – schließlich werden alle Sinne angesprochen.
Der Besuch im Sächsischen Eisenbahnmuseum in Chemnitz-Hilbersdorf war angesichts der Landesausstellung „Boom“ nur eine Frage der Zeit. Nun, im November 2020, während der erneuten Zwangspause im Kulturbetrieb, ist es mehr als nur eine erfreuliche Perspektive, dass in den nächsten Jahren die Stadt Chemnitz aufgrund des Status als Kulturhauptstadt 2025 einen weiteren Schub erhalten wird – darauf ist so gut wie Verlass.
An einem ehemaligen riesigen Güterbahnhof ist dieses Museum gut aufgehoben. Wir hatten Glück, dass wir ohne Anmeldung auch eine 150-minütige Führung durchs Museum mitmachen konnten, dank der Just-in-time-Ankunft um 14 Uhr am dritten Oktobersonntag. Man sollte schon gut zu Fuß sein, denn zwischen dem Empfangsgebäude und dem mit Raritäten aus dem Dampfzugzeitalter gefüllten Lokschuppen liegt nicht weniger als ein guter Kilometer.
Seilablaufanlage im Sächsischen Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf Blick auf das Pult des Ablaufmeisters (Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf)
Von der Kommandobrücke aus sieht man die Schalt- und Waltzentrale für die Seilablaufanlage. Die dortige Person hieß „Ablaufmeister“ und stand in Kontakt mit dem „Seilwagenwärter“ oben am kaum als solchen erkennbaren Ablaufberg, von wo einzelne Güterwagen ohne Dampf- oder Diesellok an den richtigen Ort gesteuert wurden. Auf diesen kaum sichtbaren „Berg“ war der Blick gelenkt. Für die richtige Weichenstellung sorgte das zuständige Stellwerk, das in unmittelbarer Nähe zum Ablaufmeister bedient wurde. Kaum vorstellbar: Mit Hilfe der Steuerräder für die Seilwagen wurden bis zu 3600 Wagen auf drei Gleispaaren täglich behandelt; vergleichbar mit der heutigen Leistung auf dem Güterbahnhof in Maschen bei Hamburg (tägliche Leistung: bis zu 4000 Wagen). Es wird deutlich: Hier läuft vieles ab, wobei das ‚ab’ auch als ‚berg-ab’ physisch zu verstehen ist…
Wenn man heute durch die Scheiben auf die teils herausgerissenen Gleise blickt, lässt sich die große logistische Meisterleistung von damals kaum mehr nachvollziehen. Link im Bild sieht man die Hauptstrecke Chemnitz-Dresden, die immerhin elektrifiziert ist. Das trifft auf so manche Hauptstrecke besonders in Süddeutschland immer noch nicht zu. Und der Güterverkehr ist im Vergleich zum Lastkraftwagen auf der Schiene immer noch nicht so richtig in Fahrt gekommen. Man sollte die unterschiedlichen Verkehrsmittel jedoch nicht gegeneinander ausspielen, denn viele Industriegebiete lassen sich einfach besser mit einem Straßenfahrzeug erreichen.
Ganz zufällig entdecke ich im Internet einen Zeit-Artikel vom Jahresende 2019. Der im Vergleich zu anderen Transportmitteln relativ teure Schienengüterverkehr in Deutschland ist, so erfahre ich, seit dem Jahr 2000 immerhin um 40 % gestiegen, obwohl der Anteil am „Gesamtgüterverkehr“ weiterhin nur bei 19% liegt. Es gebe nach Ansicht der Bundesregierung weitere 40% Wachstumspotenzial zwischen 2010 und 2030. Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Christian Böttge spricht jedoch davon, dass der „Einzelwagenverkehr […] dramatisch in der Krise“ sei. Der Artikel aus dpa-Quellen erläutert genau einen wichtigen Grund dafür, der in der im Sächsischen Eisenbahnmuseum dokumentierten logistischen Leistung dieses Einzelwagenverkehrs liege:
Dabei werden Einzelwaggons beim Kunden abgeholt und in großen Rangierbahnhöfen zu langen Zügen zusammengestellt. Am nächsten Rangierbahnhof werden die Züge dann wieder auseinandergenommen und die einzelnen Waggons weiter zum Ziel transportiert. Das ist aufwendig und derzeit unwirtschaftlich.
Es brauche angeblich „[d]igitale Stellwerke, automatisiertes Fahren, automatische Kupplungen“, also „technische Innovationen“. Es scheint, dass das Sächsische Eisenbahnmuseum in Zukunft diese technischen Innovationen gut wird vermitteln können, weil es auf dem großen Gelände trotz manchen schon umgesetzten Abrissvorhaben der Deutschen Bahn viel zu sehen gibt. Man sollte nicht in Nostalgie verfallen, sondern auf den Erkenntniswert von Technik- und Industriegeschichte mit all ihren Verwerfungen setzen.
Dank gilt der technischen Auskunft von Dr. Maximilian Claudius Noack bezüglich der Seilablaufanlage. Das Museum hat auf seiner Homepage für jeden Eisenbahnfan viele interessante Infos zu bieten. Passenden Lesestoff bietet auch der erwähnte Zeit-Artikel.