Kann das Sonderbare nicht auch naheliegend sein?
Diese Frage lässt sich wohl nicht ganz ernsthaft beantworten. Mich interessiert das Wort „naheliegend“, weil das scheinbar leicht zu Erklärende auch eine topographische Komponente hat: Die buchstäblich nahe Lage ist eben trügerisch, wie wir sehen werden. Denn manchmal überwiegt gerade in der vermeintlichen Selbstverständlichkeit das Unverständliche, das sogar als sonderbar aufgefasst werden kann. Drei unterschiedlich lange Miniaturen aus der Tiroler Urlaubsregion Seefeld zeugen davon:
1. Sondermarke?
Mehrere Postkarten ins nahegelegene Deutschland frankierte ich mit einfach gestalteten Postwertzeichen, auf denen über einem Blumenmotiv das Wort „Sonderpostamt“ steht. Naheliegend wäre in Zeiten offener Grenzen, teurere Postdienstleistungen ins Ausland ohne jegliche „Sonder“-kategorie laufen zu lassen, gerade weil doch der Begriff „Sondermarke“ bereits für die Philatelie reserviert ist. Und um eine (hoch)amtliche Zustellung handelte es sich auf keinen Fall!
2. Sonderzug?
Wenige ICE-Züge mit dem Traditions(zug)namen Karwendel fahren seit 2007 (vorher gab es Intercity-Züge) saisonal grenzüberschreitend bis nach Innsbruck, und zwar postkartentauglich direkt über die Berge und nicht durchs Inntal. Dabei werden Höhen über 1000 m und eben auch Seefeld passiert, wo selbst-verständlich auch ein Fahrplanhalt vorgesehen ist. Höher kann man mit dem ICE nirgendwohin gelangen. Die Deutsche Bahn war nicht sonderlich angetan von der Verlängerung durch die Berge und beschloss, mit dem Fahrplanwechsel 2017/18 alle ICEs dieser Route in München bzw. Garmisch-Partenkirchen enden zu lassen. Kaum verständlich passte die eingeweihte Neubaustrecke durch den Thüringer Wald laut Bahnangaben nicht mehr zur „peripheren Strecke“ durch die Nordalpen. Zum Glück wurde dieses Vorhaben nach einem Jahr wieder revidiert und in der neuen Streckenplanung einfach der Umweg über Berlin (und den Thüringer Wald) gestrichen. Eine Alternative wäre es, gewisse Nebenstrecken aufgrund des fehlenden Umsteigeaufwands in den Premiumbereich mit aufzunehmen, anstatt sie als „peripher“ abzustempeln. Zentraler in Europa könnte die Karwendelbahn kaum liegen! Welche schönen Luftaufnahmen können hier entstehen! Allein der zufällige Anblick eines in Seefeld ausfahrenden ICEs war für mich im positiven Sinne sonderbar. Das Ungewöhnliche – ein Schnellzug und kein Sonderzug inmitten dieser Kulisse – sollte naheliegend sein, gerade wenn man bedenkt, dass jeder Reisende, der nicht mit dem Auto nach Seefeld kommt, besonders erwünscht sein soll. Im Frühjahr 2022 fährt samstags einzig der ICE 1207 direkt von Hamburg über Seefeld nach Innsbruck (direkt zurück fährt ebenfalls samstags ICE 1206). Ab dem Sommer 2020 wurde die Direktverbindung von Berlin nach Innsbruck (nicht über Seefeld!) als einer von mehreren neuen „touristischen Fernverkehrszügen“angeboten (saisonal samstags).
3. Sonderski?
Mit dem extra für das Seefelder Loipenparadies angeschafften Rossignol Delta Sport-Skating-Ski verlustierte ich mich kilometerlang in der einzigartigen Tiroler Berglandschaft. 3 Stunden lang gab es jedoch unerwarteten Nervenkitzel: Während eines Pausenstopps an der Polis Hütte direkt an der Loipe in Leutasch entwendete augenscheinlich jemand nur wenige Meter von dem von mir in Besitz genommenen Liegestuhl meine neuen Skier samt der schon ziemlich alten Stöcke. Das konnte doch nicht wahr sein! Eine geschlagene Stunde lang lief ich wie ein verdattertes Hühnchen zwischen den Ansammlung von Stühlen und der Speisenausgabe umher, befragte Leute, schaute genau auf die Skier vieler vorbeifahrender Langläufer und hielt lautstark als eine Art Ultimatum ein schon lang anvisiertes verdächtiges Paar der Marke Atomic hoch, um danach schon hoffnungsvoll festzustellen, dass es keinem Anwesenden gehörte. Es musste also eine Verwechslung gegeben haben! Zum Glück handelte es sich eindeutig um Leihski eines nahen Sportgeschäfts. So schnallte ich vor vielen, mich moralisch stützenden Zeugen in Liegenstühlen das fremde Damen-Skipaar an, was auch wegen unterschiedlicher Bindungssysteme nicht selbstverständlich war, und lief zügig (nicht ohne einen gewissen Umweg!) in Richtung Sport Wedl im Leutascher Ortsteil Weidach. Nein, ein Diebstahl war ausgeschlossen – dafür ist der Atomic Redster S7, laut Skiverleih ein „Top-Ski“, spürbar einfach zu gut! Mit Hilfe von Karteikarten wurde innerhalb von einer Stunde die Übeltäterin aus Berlin, die mit ihrer Familie in einer nah gelegenen Ferienwohnung logierte, ausfindig gemacht. Geduldig nahm ich in einem Ledersessel am Ladeneingang Platz und versuchte, einen Roman weiterzulesen. Als Beschallung kam passend zum Ereignis Supertramps alles andere als verträumtes Lied „Dreamer“ ! Zehn Minuten vor Ladenschluss – fast wie in einem Drehbuch – kam jene Dame mit Anhang in den Laden und entschuldigte sich mit einer kaum zu toppenden Unschuldsgeste, weil sie wohl erst jetzt verstand, dass sie einer saublöden Verwechslung aufsaß. Beide Ski-Paare sind sich auch in der Farbgestaltung trotz eines vergleichbaren Rottons nicht wirklich ähnlich (der Rossignol-Hahn hat nichts mit dem Atomic-Zacken zu tun!), ganz zu schweigen von den Stöcken. Die im Langlauf-Sport sicher Versierte hatte das physisch Naheliegende –mein Paar – einfach vom Café von Blindheit geschlagen in Richtung Ferienwohnung geschleppt. Das gute Ende nahm also seinen Lauf, und es kam noch besser: Vom Ladenbesitzer wurde ich als „angenehmer Zeitgenosse“ hoch bewertet. Er hätte mich sogar von Leutasch nach Seefeld gefahren, wäre ich nicht motorisiert gewesen! Das war für mich Genugtuung genug, so dass aus meinem Mund insgesamt nur Verständnisvolles herauskam und ich als kleines Dankeschön letztlich noch von der Mutter der (Schnee-)Blindgeschlagenen zu meinem fahrbaren Untersatz chauffiert wurde. Unterm Strich ein nachmittagsfüllendes Dramolett, in dem ein „Top-Ski“ vorübergehend für mich zu einem ungewollten „Sonderski“ wurde!
Ein herzliches Dankeschön an die Familie Wedl für ihre tatkräftige Suche nach den verschleppten Rossignol-Skiern! Bei meinem nächsten Besuch in Leutasch werde ich Sport Wedl als Kunde aufsuchen!