Im Schleudergang

Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Die Miniatur des Reisens – Über den „Flugsteig“ von Frank Kunert

Dieses Bild verleitet zum Träumen. Eigentlich ist es eine ganz reale Miniatur, die es so in Vergrößerung nicht gibt. Und doch besteht sie aus real wahrnehmbaren Elementen. Das macht das Ganze für den Betrachter so besonders. In einer Ausstellung im Herbst 2019, die im Greizer Sommerpalais stattfand, entdeckte ich die auf Fotopapier festgehaltenen Miniaturen von Frank Kunert, dessen Atelier in Boppard am schönen Mittelrhein liegt. Den „Flugsteig“ habe ich erst auf Kunerts Homepage entdeckt:

Flugsteig
Flugsteig (2002)
© Frank Kunert | www.frank-kunert.de

Fangen wir beim Titel an: „Flugsteig“, meist auch „Gate“ genannt, ist allen ein Begriff, die schon mal geflogen sind. Oft sind es langweilige Bereiche, in denen bis zum Aufruf des Fluges gewartet wird. Wer will, kann abseits davon noch mal schnell shoppen oder sich stärken gehen. Meist sind es schmucklose Bereiche, was auch bei ganz neuen Flughäfen kaum anders ist, wie wir bald am Flughafen Berlin Brandenburg sehen werden.

Elizabeth Clarke fasst Frank Kunerts Ansatz im Bildband „Wunderland“ sehr schön zusammen:

In der Langsamkeit liegt bei Frank Kunerts Arbeitsweise der Schatz verborgen, Ideen zu entwickeln und kreative Wege zu gehen. Das handwerkliche Arbeiten, die lange Zeit am Bau der Miniaturwelten – nicht selten über viele Wochen -, das präzise Lichtsetzen und Fotografieren im Studio machen dies möglich.

Unabhängig von realer Architektur ist die Miniatur „Flugsteig“ ein Verweis auf Reiseträume, die erst einmal mal organisiert werden müssen. Wir brauchen Reiseinformationen, es sei denn, wir brechen einfach planlos auf. Das ist aber meist nicht der Fall.  Fahrpläne und Aushänge stehen als Dokumente dafür. Der Koffer steht als metaphorischer Gegenstand für Reisetätigkeiten. Wartebänke und Geländer stehen wie Chiffren für Raumgrenzen und Zeitrahmen, die bei der Reise offenkundig werden. Ein Steig, egal ob ein Flug- oder ein Wandersteig, ist ohne Begrenzungen links und rechts undenkbar. Auch Zugänge zu den Steigen gehören dazu, genauso wie künstliche Lichtquellen und Behältnisse zur Müllentsorgung. Zu einem Flugsteig hin ist das Bewegungsverhalten vom Eingangsbereich des Flughafens mehr als sonst kanalisiert. Man folgt Korridoren und Sicherheitsschleusen, die erst auf dem Sitzplatz im Flugzeug ein Ende haben.

Beim Fliegen gibt es nicht erst seit diesem Jahr erdrückend viele Bestimmungen, die mit Träumen wenig zu tun haben. Bis wir endlich am Ziel sind, gilt es vieles auszufüllen und zu beachten. Ansonsten kann die jeweilige Fluggesellschaft den Reisenden vom Flug ausschließen. Der Flugsteig gleicht ironischerweise bei Kunert einem schmalen Grat, der recht ungesichert bereits in den Lüften schwebt. Es passt zu meinem Gefühl im Sicherheitsbereich eines Flughafens, in dem ich mich nicht selten unsicher fühle: Dies liegt daran, dass ich mich regelmäßig vergewissern möchte, kein wichtiges Dokument irgendwo liegengelassen zu haben.

Mir wurde zusammen mit meinem Bruder ein Versäumnis einmal fast zum Verhängnis, als ich von einem Flug von Mexico City nach Frankfurt über Washington völlig vergessen hatte, dass selbst für einen bloßen Umstieg ein Visa-Waiver (ESTA-Formular) für die Vereinigten Staaten vor Antritt der Reise auszufüllen ist. Wir konnten dies zum Glück noch am Flughafen in großer Eile nachholen. Im Nachhinein sind die Vorschriften nachvollziehbar: Ein Flughafen ist ein Sicherheitsbereich und braucht strengere Regelungen, unabhängig davon, ob die Einreise in ein Land offiziell erfolgt oder nicht.

Kunerts Miniatur lässt einen auch an Wolkenkuckucksheim denken, das ja auf etwas Fiktionales, Unrealistisches verweist. Reisen sind selbst oft Miniaturen der Einbildung, denn viele Reisende bekommen einen trügerischen, manchmal sogar völlig künstlichen Einblick in ein jeweiliges Land, gerade wenn es sich um eine komplett durchorganisierte Pauschalreise handelt.

Das Wolkige kann aber auch für das Unfassbare stehen, das einen umtreiben kann. Wer hätte im 19. Jahrhundert gedacht, dass man genauso schnell ans andere Ende der Welt fliegen kann als zu Fuß eine Strecke von 100 km zurückzulegen? Das sind Beschleunigungen, die uns im zweifachen Sinne fesseln: Einerseits begeistern sie, andererseits machen sie aber auch von einer sehr aufwändigen Technologie abhängig. Die ganze Logistik rund um einen Flug ist so ausgeklügelt, dass Systemfehler zur Katastrophe führen können. Zum Glück passiert das relativ selten, was darauf hinweist, wie viel wir technisch im 20.Jahrhundert dazugelernt haben.

Kunerts Flugsteig wird allen, die gerne und viel reisen, Gedanken an eigene Reiseerlebnisse schenken. Die Miniatur thematisiert unmissverständlich die Magie, die sich dann ergibt, wenn man Begegnungen eingeht, die das Leben bereichern und die Weltsicht erweitern. Sie werden alle unterschiedlich sein. Es gibt kein normiertes Reisen. Auf jeden Fall sollte das Reisen niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ein Stück Abenteuer bleiben. Die Reiseliteratur ist davon reich gesegnet: Die Ziele, die man im Leben nicht (mehr) erreichen kann, lassen sich zum Glück zwischen Buchdeckeln aufspüren.

Weitere Informationen finden sich auf der Homepage von Frank Kunert, wo auch die aktuellen und zukünftigen Ausstellungen angegeben sind.

Die Inszenierung der Dinge – Über eine Fotografie von Louise te Poele

Stillleben haben auf den ersten Blick nichts Lebhaftes. In den meisten romanischen Sprachen ist bei dieser Genrebezeichnung sogar der Tod präsent, denn eine „nature morte“, wie es im Französischen heißt, verweist auf das Abgestorbene. Es liegt deswegen nahe, diese jahrhundertealte Tradition von Stillleben ein wenig zu dynamisieren und ihr etwas Lebendiges einzuhauchen. Kräftige Farben von Blüten reichen da nicht aus.  Etwas Neuwertiges gehört vielmehr dazu, das geradezu magisch einen „move“ beim Betrachter erzeugt. Die Magie ist dann geschaffen, wenn die Dinge scheinbar in Fahrt kommen bzw. an Fahrt gewinnen.

Die aus Arnhem (Arnheim) stammende Fotografien Louise de Poele schafft dies mit verblüffenden fotografisch festgehaltenen Arrangements, wo Medium und Objekte eine Fusion eingehen. Ich habe den Eindruck, dass das Medium Fotografie diese Arrangements optimal vermittelt, auch wenn digitale Arrangements eigentlich keine Kamera mehr benötigen. Das Phänomen der Belichtung ist jedenfalls etwas, was über das Foto die visuelle Wahrnehmung erweitert und quasi wie in einem Brennglas die Augen schärft. Die Gegenstände sind auf einer flachen Oberfläche gebannt, ohne die dreidimensionale Wirkung zu verlieren.   

In der Orangerie in Gera waren diesen Sommer einige Fotos der niederländischen Künstlerin unweit von Bildern zu sehen, die den magischen Realismus repräsentieren und von Landsleuten der Künstlerin in den letzten gut 100 Jahren gemalt wurden. Insofern war der Ausstellungsbesucher gut vorbereitet und hatte bereits ein geschärftes Auge, denn Louise te Poele aktualisiert das Magische, indem sie Dinge geschickt arrangiert und inszeniert:

Borderlands

Borderlands – © Louise te poele (2019)  

Besonders hat mich die Fotografie „Borderlands“ angesprochen.  Liegt es etwa an den Büchern? Die gesammelten Werke von William Shakespeare auf Niederländisch sind mit der elektronischen Lupe ebenso zu erkennen wie Meisterwerke der Bildenden Künste auf Französisch („Chefs d’Œuvre de l’Art“). Liegt es an den leuchtenden Farben der Blumen, die Lichtglanz zusammen mit den (halb-)transparenten Stoffen verbreiten? Liegt es an der Illusion der irisierenden Seifenblasen, die, wie wir wissen, nur eine sehr kurze Lebensdauer haben? Sind es überhaupt Seifenblasen oder eher doch Glaskugeln, die künstlich ins Bild eingefügt worden sind, ohne dass sie real als Gegenstände fungieren? Wie der ins Dunkel abtauchende florale Fisch am linken Bildrand – hier scheinen sich Flora und Fauna in einem Objekt zu begegnen – ergänzen sie das Arrangement, als ob sie dazugehörten. Den Anblick stört nichts.

Auch die teils drapierten Attrappen von Händen mit ihren Armansätzen sind Elemente von Körpersprache, nämlich von Gestik, und zeugen von etwas zutiefst Menschlichem, obwohl im Arrangement nur indirekte Hinweise auf das Menschsein zu finden sind. Gerade das Stoffliche, Modische, wirkt neben der partiellen Plastikverhüllung von Laborgegenständen – ganz eindeutig gibt sich ein länglicher Messbecher unter dem Gewand erkenntlich – bewusst kontrastiv, ohne verstörend zu sein. Der artifizielle Gegensatz passt hier buchstäblich ins Bild. Ebenso gilt dies für die eindeutigen Referenzen auf klassische Stillleben wie zum Beispiel ein Ei und eine Zitrusfrucht, die scheinbar sich wie von Geisterhand ihrer Schale entledigt, sowie für das zart glimmende Streichholzfeuer, teils auf Türmchen aus Würfelzucker.

Die mittigen Schleifen in den Farben Orange („oranje“ ist unabhängig von den Farben der Flagge die wahrhaftige Landesfarbe in den Niederlanden und erinnert stets an die Oranier) und Schwarz-Rot-Gold verweisen auf das Grenzgebiet zwischen den Niederlanden und Deutschland, ohne dass eine politische Intention sichtbar wird. Man könnte außerdem über die flämische Tradition der Stillleben philosophieren, doch das drängt sich nicht auf. Die teils frischen, teils verblühten Pflanzen erinnern einfach an Arbeiten aus der frühen Neuzeit, die drei weidenden Miniaturkühe an den grenznahen Niederrhein, der auf niederländische Seite durch die Provinz Gelderland fließt.

Der künstlerische Wert liegt auf Übergangsbereichen, die ja auch zur Grenze gehören, denn keine Landesgrenze wäre ohne Grenzübergang denkbar. Louise te Poele erweitert hier die Bedeutung von Grenzgebieten, da jede Wahrnehmung Grenzen braucht und gleichzeitig hinterfragt. Wo wird getrennt, visuell und begrifflich? Wann gilt ein Objekt als solches und wann ist es etwas anderes? Solche Fragen werden in „Borderlands“ wie mit Zauberhand angegangen. Ein Grund, länger über Louise te Poeles zauberhafte Arrangements nachzudenken.

Mehr über Louise te Poele ist auf ihrer Homepage zu entdecken. Der einzige brauchbare, im Internet auffindbare Artikel zu Louise te Poeles Ausstellung in Gera ist in der Thüringer Allgemeinen erschienen.

Der gewirkte Stoff als Wirk-Stoff – Zu Besuch im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna

Museen definieren sich über ihre Ausstellungsstücke. So können wenige Gegenstände vieles plastisch verdeutlichen, was in der Literatur nur schwer darstellbar wäre. Im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna bei Chemnitz wird die Geschichte der regional stark verankerten Textilindustrie anschaulich gemacht. Im August 2020 bekam ich in einer Spezialführung mit Freunden einen sehr guten Einblick. Sonst hätte dieser Notiz-Blog-Artikel nicht entstehen können. Gerade im Jahr 2020, anlässlich der Landesausstellung „Boom“, bei der 500 Jahre Industriekultur in Sachsen aufbereitet werden, ist ein Besuch empfehlenswert. Es zeigt anschaulich, dass Kultur- und Industriegeschichte zusammen gehören.

Die drei folgenden, im Museum vertretenden Gegenstände zeugen von der weitläufigen Geschichte der (Textil-)Industriekultur, die über die Region hinaus von großer Bedeutung ist: Eine Abbildung von Louis de Silvestres opulentem „Allianzporträt“ (das Gemälde befindet sich in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister) zeigt Friedrich I. von Preußen und August II. von Polen, zugleich Kurfürst von Sachsen:

Allianzporträt

Louis de Silvestre (1675-1760): Allianzporträt von König August II. von Polen und Friedrich Wilhelm I. von Preußen (Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, vor 1730)

Friedrich (rechts im Bild) hält nichts von neuster Mode, August (links im Bild) inszeniert sie geschickt und trägt sichtbar Seidenstrümpfe, auf die es im Museumskontext ankommt. Modisch sahen sicher beide Herrscher im Zeitalter der Manufaktur-Produktion aus, die heute wieder mehr geschätzt wird, nicht erst, seitdem es gewisse Läden mit dem Namen „Manufaktur“ gibt….

Johann Esche (1682- 1752), Strumpfwirker und Stuhlmacher im Rittergutsdorf Limbach unter Antonius III. von Schönberg und dessen Sohn Georg Anton, entdeckte nach einer Legende in Dresden den wohl einzigen seidengängigen Strumpfwirkstuhl in Sachsen. In Frankreich waren die Könige mit gewirkten Seidenstrümpfen vor der Revolution bestens bedient; Seidenstrümpfe galten im wahrsten Sinne des Wortes als vorzeigbar. Nach der Revolution waren diese genau wie die Kniebundhosen („culottes“) out, so dass darauf spezialisierte Firmen ihr Geschäft umstellen mussten. Bestehen blieb die Kulturtechnik des Wirkens bzw. Kulierens, gerade für Unterwäsche besser geeignet ist als traditionelle Web- und Stricktechnik:

Handkulierstuhl
Handkulierstuhl (ca. 1800) im Esche-Museum (Foto: Dietmar Träupmann)

„Wirken ist eine Fortentwicklung des Strickens. Es werden statt einer Masche nach der anderen eine ganze Maschenreihe in einem Arbeitsschritt gebildet“, erläutert Museumsleiterin Frau Dr. Barbara Wiegand-Stempel. Hier kommt mir der immer noch geläufige Ausdruck „engmaschig“ in den Sinn. Das Esche-Museum dokumentiert eindrucksvoll, wie bis zum Ende der DDR Wirkstühle sich technisch entwickelten. Die Familie Esche hat bis zum Ende des 2. Weltkriegs großen Anteil daran; im 19. Jahrhundert existierten sogar zwei Esche-Firmen von zwei Geschwistern, von denen die größere, die Firma Moritz Samuel Esche, es bald nach Chemnitz zog und zum größten Strumpfhersteller Deutschland avancierte. In Limbach wurde die erste „Wirkschule“ überhaupt vom Gewerbeverein Limbach gegründet, woran auch die Familie Esche beteiligt war. Die Schule wurde von mehr als 100 Fabrikanten, Kaufleuten und Handwerken, die in einem „Strumpfwirker-Fachverein“ organisiert waren, finanziert.

Der prominenteste Unternehmer aus der Familie war zweifelsohne Herbert Eugen Esche, der 1903-1904 von Henry van de Velde die erst ab 1998 wieder restaurierte Villa Esche in Chemnitz erbauen ließ. Architektur-Fans kommen hier auf ihre Kosten – van de Veldes erster Bau in Deutschland ist zum Glück nicht den Bombenangriffen von 1945 zum Opfer gefallen. Wie vielseitig Ästhetik damals geschätzt wurde, zeigt sich daran, dass van de Velde mehrere Firmenlogos entwerfen und Edvard Munch 1905 in der Villa Esche künstlerisch arbeiten durfte und dabei nicht nur die Familie Esche porträtierte. Man kann davon ausgehen, dass die Familie Esche mit diesen prominenten Künstlern nicht prahlen wollte, sondern künstlerisches Engagement einfach zu ihrem Selbstverständnis gehörte. 
Nach 1945 flüchteten viele Familienmitglieder ins Ausland, obwohl das Unternehmen nicht verstaatlicht wurde. Herbert Eugen Esche ging in die Schweiz, wo er häufiger auf van de Velde traf. Er sah seine Chemnitzer Villa nie wieder. Die Textilindustrie in West- und Mittelsachsen führten nun andere (Staats-) Unternehmen an.  Noch heute ist unter anderem die Firma Noon in Limbach-Oberfrohna präsent, die mit dem Slogan „Fine German Knitting“ wirbt. Die Logik, dass Textilien in sogenannten Billiglohnländern hergestellt müssen, damit sie erschwinglich bleiben, kann somit widerlegt werden. Gebrauchswäsche darf nicht als minderwertig vermarktet werden, scheint es.

Ein Firmenplakat zeigt sehr schön die Fabrikation von Handschuhen mit all ihren Arbeitsschritten.

Die Fabrikation von Ukor - Handschuhen
Die Fabrikation von
„Ukas“- Handschuhen der Firma C.A. Kühnert (Foto: Dietmar Träupmann)

Mir kommt dabei der Begriff „Betriebsablauf“ in den Sinn, den wir heute eher vom Bahnfahren kennen, wenn es hier zu Verzögerungen kommt.  Jedenfalls sind ganz oben nach der „Spulerei“ die „Schärerei“, „Spannerei“ und auch die „Wirkerei“ zu sehen. Die vielen Arbeitsschritte belegen auch schön, wie wertvoll ein qualitatives Paar Handschuhe sein muss. Man schätzt dann den Gegenstand umso mehr, wenn man weiß, wie viel Arbeit dahintersteckt. Die heutige Massenproduktion verschleiert dies, gerade auch, weil ein gewöhnlicher Kunde kaum Einblick in heutige Fabrikationen erhält. Schließlich erlaubt sich die Frage: Warum sollte nicht auch Mode zu den Schönen Künsten gehörten? Kleider machen Leute (bekanntlich schön).

Vielen Dank an das Esche-Museum Limbach-Oberfrohna, vor allem an Frau Irmgard Eberth, Herrn Michael Nestripke, an die Leiterin Frau Dr. Barbara Wiegand-Stempel sowie an die Ratsschulbibliothek Zwickau für die Auskünfte und die Bereitstellung der benötigten Medien. Der „Förderverein Esche-Museum e.V.” hat dazu weitere wissenswerte Details im Internet aufbereitet.


„mückenstichreich“ – Über das Picknickkonzert von Dota Kehr in Leipzig

Picknickkonzerte sind 2020 sicher keine neue Erfindung, doch wurden sie zu einer fast sicheren Bank, um Live-Auftritte von Künstlern zu ermöglichen.  Auf der grünen Wiese können Abstandregelungen einfach besser markiert und so Veranstaltungen einfach genehmigt werden.  Die Picknick-Decken in Reih und Glied anzuordnen ist eine leichte Übung; man fühlt sich fast ein wenig eingeparkt (nicht eingepackt!). Wo genau die grüne Wiese sich befindet, steht auf einem anderen Blatt Papier. Im äußersten Süden von Leipzig liegt der agra-Messepark, der neben dem schönen, bereits auf Markkleeberger Boden angelegten agra-Park liegt. Für Auswärtige ist dies verwirrend, denn die wahrlich grünen Wiesen befinden sich nur im agra-Park. Im agra-Messepark gibt es eigentlich nur Freiflächen neben den (ehemaligen) Messegebäuden, unauffällig und keinesfalls besonders angelegt. Nun musste ich aber einsehen, dass Veranstaltungsgenehmigungen nicht auf die Schönheit von Veranstaltungsorten angewiesen sind. Und hauptsächlich ging es ja um Dota Kehr und Band, die dem Publikum einen wunderschönen Musikabend bescherten.

Dota Kehr & Band
Picknick-Konzert mit Dota Kehr und Band am 08.08.2020 im agra-Messepark Leipzig

Der „akademische“ Teil rund um das neue Album, auf denen Texte der jüdischen Lyrikerin Mascha Kaléko vertont sind, ist für ein Freilichtkonzert fast zu intim und leise. Hier wäre sicherlich ein Kammermusiksaal genau der richtige Ort zum genauen Hinhören. Die Exilerfahrung und das erlebte Unglück sind sprachlich und musikalisch von einer enormen Tiefe. Kalékos Lyrik enthält kein Wort zu viel und ist bereits liedreif geschrieben. Die Musik ergibt sich aus dem Wort, so dass meist die gewohnten Liedlängen deutlich unterschritten werden. Die Stücke aus früheren Alben sind tanzbarer, auch mit eingeschränktem Platzangebot auf und an den Picknickdecken.  Sie sprühen vor Wortwitz und Esprit. Ohne einen Takt zu lang sein, verzaubern sie dank Dotas Stimme, die faszinierend klar und sanft hinüberschallt. Im Radio wird nach wenigen Sekunden deutlich, dass nur sie es sein kann: Ihre Stimme ist wie ein Erkennungszeichen.

Kein klassischer Sommerhit ist das Lied „Sommer“. In seiner Tiefe lädt es den Hörer ein, einfach nur zu verharren und das Dasein zu zweit in seiner Schönheit als „Tagtraum“ zu genießen, auch wenn er wie das Picknickkonzert „mückenstichreich“ zu Ende geht. Mitten im Lied heißt es:

Der Tag zieht noch lange auf seinen Schwingen

dahin.

Wir rücken Stück für Stück weiter, immer wenn ich im Schatten

bin.

Ich trag die Sonne auf den Schultern. Und den

Sommer unter den Nägeln mit nach Haus.

Im letzten Licht gehen die anderen schon voraus.

Vier Füße in Turnschuhen  auf der Umgehungsstraße bei wenig Verkehr.

Und ich will nie wieder glauben, Glück sei irgendwie anders und irgendwie

mehr.

Dota Kehr hat als Medizinerin Gespür für den Takt und den Text, ohne allzu viele Emotionen hochkochen zu lassen.  Als „Kleingeldprinzessin“ trat sie früher auf; nun ist sie ein Aushängeschild der Kleinkunstszene.  Mit ihren Texten öffnen sich strahlend so manche Augen, ohne Tränen und Herzschmerz anzurufen. Niemals hört es sich süßlich an; ihr Lied-Kosmos ist dafür zu originell. Im Herbst 2020 soll ihr Liederbuch erscheinen – wir dürfen gespannt sein, wie es gestaltet sein wird. Hoffentlich werden dann wieder Kleinkunstkonzerte möglich sein. 

Alle wesentlichen Informationen über Dotas Musik und fünf ihrer Lieder sind hier verfügbar.

Ein besonderes Refugium : Über Schloss Waldenburg in Sachsen

Jedes Gebäude und jeder Ort hat seine eigene Historie; Schicksale und glückliche Fügungen sind niemals in ihrer Gänze zu überblicken. Und doch lässt sich besonders gut in die Geschichte eintauchen, wenn Spuren und Hinterlassenschaften sichtbar sind.  

Schloss Waldenburg
Vorderansicht von Schloss Waldenburg

Die Geschichte hat Schloss Waldenburg, idyllisch im Muldetal eine halbe Autostunde nord-östlich von Zwickau gelegen, immer wieder auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Hierzu nur einige Details: Otto Victor I. von Schönburg-Waldenburg ließ es Mitte des 19. Jahrhunderts neu errichten, da es zur damaligen Bürgerlichen Revolution komplett abgebrannt war. Bereits im 12. Jahrhundert hatte die Geschichte von Schloss Waldenburg begonnen, damals noch als Burg. Die Burg sowie nachfolgende drei Schlösser waren allerdings auch abgebrannt, zuletzt 1848. Otto Victor II. veranlasste Anfang des 20. Jahrhunderts mit der damals verfügbaren modernsten Technik den Umbau (Einbau von zentraler Heizung, Be- und Entlüftungsanlage, zentraler Staubsauger, Telefonanlage, Personen- und Speiseaufzug) und steigerte durch den Zukauf wertvoller Gegenstände die Pracht des Hauses. Der Hausherr fiel bedauerlicherweise im Ersten Weltkrieg und konnte sein Anwesen nur wenige Jahre genießen. Heute, kann man sagen, steht das Schloss glänzend da; es hat die Zeitläufte mehr als nur gut überstanden.

Ganz sicher: Ein typisches Museum ist Schloss Waldenburg nicht, denn es ist in seiner aktuellen Ausstattung besonders originell:  Viele Zimmer entsprechen immer noch dem Zustand zur Zeit der Fürsten, obwohl das Schloss 50 Jahre lang als Klinik genutzt wurde. Das prunkvolle Originalmobiliar wurde zwar nach dem 2. Weltkrieg geplündert bzw. existiert teilweise noch an anderen Orten. Die Eigentumsverhältnisse haben sich über die Zeit leider geändert. Trotzdem versprühen die prachtvollen Zimmer noch heute den Charme fürstlicher Zeiten, ohne opulent zu wirken.  

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Schloss enteignet, was aus heutiger Sicht zu erwarten war. Dass es noch vor der Gründung der DDR zu einer Lungen- und Tuberkuloseheilanstalt umfunktioniert wurde, überrascht hingegen schon. Die für die neuen Machthaber ideologisch verhassten Räumlichkeiten wurden eigentlich geschätzt, denn wo im Umkreis hätte man geräumiger Patienten behandeln können? Eine Immobilie des Adels, die sich nun als nützlich erwies. Man könnte sagen: Ironie des Schicksals! Die Bibliothek wurde zum Chefarztzimmer, die prächtigen Säle zu Speisesälen. Eigentlich kein großes Unterfangen. Bis Ende der 1990er Jahre musste das Schloss sich bewährt haben; erst dann machten neue (Hygiene-)Vorschriften einen Weiterbetrieb unmöglich.

Als ich am Vatertag 2020 durch die Räumlichkeiten geführt wurde, ahnte ich schon, dass durch die Zimmerfluchten der Wind der widerspenstigen Geschichte wie ein Gespenst wehte. Die Fotos können dies veranschaulichen:

Blauer Saal
Blauer Saal (früherer Zustand)
Blauer Saal
Blauer Saal (heutiger Zustand)

Und schließlich diente das Schloss auch als Kulisse: Dreharbeiten zu Wes Andersons The Grand Budapest Hotel fanden dort statt. Wer wohl das Schloss ausgekundschaftet haben mag? Diese Frage zu beantworten würde sicher einigen (Forschungs-)Aufwand bedeuten, doch eigentlich wäre dies müßig. Ich stelle mir diesen Job sehr zeitaufwendig vor, denn bei der Vielzahl der Schlösser sind Zufallstreffer eigentlich kaum zu erwarten. Dass ein US-amerikanischer Filmregisseur, der auf traumhafte Bilder in ästhetischer Vollkommenheit setzt, unter anderem das von Touristenmassen verschonte Schloss Waldenburg auserkoren hat, war eigentlich eine kluge Entscheidung, denn wenn ein größerer Teil des Publikums den fiktionalen Ort lokalisieren kann, dann kann dies wesentlich die Interpretation beeinflussen.

Film und Schloss Waldenburg
Dreharbeiten zu The Grand Budapest Hotel (Artikel aus der Bild-Zeitung vom 19.2.2013)

Insofern wurde Schloss Waldenburg als Schauplatz, ohne dass hier Feudales allzu sehr zum Tragen gekommen wäre: Ehemalige Patienten können aufgrund ihrer Erlebnisse vor Ort Dinge aufspüren, die weder ein Tourist noch ein Filmemacher je erkennen würde. Es geht hier nicht um einen Gedenk- oder Gedächtnisort, der oft auch eine gesellschaftspolitische Funktion hat, sondern um einen Ort zum Verweilen, der früher Hoffnung auf Heilung bot und heute Hoffnung auf Erholung bietet. Trotz der tragisch verlaufenen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleibt mir das Prinzip Hoffnung im Kopf, wenn ich an Schloss Waldenburg denke. 

Schloss Waldenburg
Der Park von Schloss Waldenburg

Anmerkung: Das Schloss wurde als Filmkulisse durch die Listung des Schlosskomplexes Waldenburg im Location Guide der MDM Film Commission gefunden. Dort ist es seit November 2010 aufgeführt und stellt alle Spezifikationen (Fotogalerie, technische und räumliche Bedingungen) des Schlosses Waldenburg als Drehort umfangreich vor. Die Filmprojekte sind auf der Homepage aufgelistet.

Ich danke herzlich Anja Straube für einige redaktionelle Präzisierungen und für die Freigabe der Aufnahmen, die einen kleinen Eindruck der bewegten Geschichte von Schloss Waldenburg vermitteln sollen. Die Bildrechte liegen bis auf die Parkansicht (letztes Bild) beim Schloss Waldenburg (Tourismus und Sport GmbH) .

Seit Mai 2020 ist das Café Sweet Sophie geöffnet, das im Sommer auf einer herrlichen Terrasse einen Blick in den wunderschönen Park bietet, in dem der Besucher ein lauschiges Plätzchen finden kann. Der Name geht auf die musikalisch und kompositorisch aktive Fürstin Sophie von Waldenburg zurück, die ab 1914 auch Fürstin von Albanien war.   

In der Welt zu Hause? – Gedanken zum Kosmopolitismus

Im Mai 2020, als ein Verreisen kaum möglich war, stieß ich zufällig auf das Gedicht „Kosmopolit“ von Durs Grünbein. Negativer kann das Dasein eines reisenden Weltbürgers kaum in Worte gefasst werden. Insofern kann ein Cosmopolitan in den „Bars von Atlantis“ alles andere als genüsslich schmecken.  Zuvor heißt es bei Grünbein:

Dem Körper ist Zeit gestohlen, den Augen Ruhe.

Das genaue Wort verliert seinen Ort. Der Schwindel

Fliegt auf mit dem Tausch von Jenseits in Hier

In verschiedenen Religionen, mehreren Sprachen.   

Tausch ist eben auch ein Austausch, doch er klingt banaler und nüchterner. Eigentlich ist jeder Kulturinteressent vom Austauschgedanken beseelt; keine Kultur kommt ohne Austausch aus. Nun drängt sich der Slogan „Wandel durch Austausch“ auf, den der Deutsche Akademische Austauschdienst auf seine Fahnen geschrieben hat. Austausch klingt geistreicher als ein Tausch und wird gerade bei einer Bildungsreise großgeschrieben, während eine Dienstreise dafür oft weniger Gelegenheiten bietet und das Reiseziel eben oft kein Austauschort ist, sondern wahrhaftig eingetauschte Ortslosigkeit herrscht. Die jetzigen Zeiten in den Frühlings- und Sommermonaten 2020, wo deutlich weniger gereist werden kann bzw. sollte, geben Grünbeins Gedicht einen neuen Akzent. Wir haben definitiv mehr Ruhe und mehr Zeit erhalten, indem wir weniger reisen.

Als ich Ende Mai 2019 aus beruflichen Gründen am Flughafen Nizza weilte, dachte ich mir, dass das Reisen für viele nur noch ein Tausch-Geschäft von einer Region zu einer anderen ist. Ein scheinbar geist- und gesichtsloses Unterfangen; da kann die Côte d’Azur noch so schön sein. Man bekam schon einen Vorgeschmack auf die Hauptsaison. Beim Umsteigen in Zürich verzauberte ein amerikanischer Barpianist die Abflughalle mit seinen sanften Klängen, ohne dass viele wartende Fluggäste merklich davon begeistert gewesen wären. Ein Jahr später, wo Live-Musik und das Fliegen vorübergehend eine Rarität geworden ist, ist das Gefühl des Reisens ein Neues.  Zur Zeit scheint das Weltbürgertum, dessen Konzept von der Wert-Gleichheit aller Menschen bereits in der Antike erdacht wurde, einen besonders schweren Stand zu haben.

Ebenfalls im Mai hörte ich ein längeres Interview im Deutschlandfunk mit der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum über ihr Buch Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Das Buch lohnt sich zumindest in Auszügen, denn das Weltbürgertum lässt sich einfach nicht gewinnbringend einsetzen, selbst wenn es ein gewisses Ideal darstellt. Nussbaum möchte den Institutionen innerhalb von Nationen eine größere Bedeutung zumessen, was wiederum bedeutet, dass Nicht-Regierungsorganisationen, die international vernetzt sind, von diesen nationalen Bedingungen abhängig sein müssen. Die Quintessenz lautet:

Wir müssen noch sehr viel mehr über die Bedingungen lernen, unter denen ausländische Hilfe produktiv sein kann. Was wir jedoch nicht länger tun dürfen, ist, uns der Fantasievorstellung überlassen, dass unsere Pflichten sich durch Hilfe aus der Ferne auf eine Weise erfüllen lassen, die die Dinge real und dauerhaft verbessert, ohne dass es dabei zu einem strukturellen und institutionellen Wandel kommt.  

Es ist gewinnbringend, sich wirklich einmal lokale Strukturen anzuschauen, denn ein vernetztes Europa und Zusammenschlüsse großer Nationen sind nur dann von Vorteil, wenn Unterstützung materieller und ideeller Art auch auf fruchtbaren Boden fallen. Mit „Boden“ ist hier die untere Ebene gemeint, auf der Institutionen wie Rathäuser und Gemeindeverwaltungen tätig sind. Sie sind entscheidend bei der Fürsorge im kleinen Rahmen und nicht nur dann, wenn es vor Ort kriselt und brodelt. Ein Weltbürger ohne lokalen Halt ist ein übermutiger Überflieger, der die Bodenhaftung verliert.

Für Nussbaum ist der Begriff Kosmopolitismus zu „vage“, um damit vernünftig arbeiten zu können. Sie schlagt dagegen einen materialistischen globalen politischen Liberalismus vor,  der sich in einem „Fähigkeitenansatz“ äußert, „der sich auf die wesentlichen Freiheiten der Menschen konzentriert, sich für diejenigen Dinge zu entscheiden, die sie wertschätzen.” Die genannten Fähigkeiten geben eine Antwort auf folgende Frage: „Was kannst du in Bereichen, die für dein Leben von Bedeutung sind, tun und sein?“ Eine Fähigkeit bezieht sich auf „Sinne, Fantasie und Denken“. In der Tat sollte es in jedem Land der Welt möglich sein, „Fantasie und Denken selbstbestimmt anzuwenden“. Wann wird dies Wirklichkeit? Ich kann mir das leider (noch) nicht vorstellen. Es braucht keine neuen Weltbürger, sondern Selbstbestimmung. Ein Geist lässt sich fremd bestimmen, doch dann ist es nicht mehr weit, bis die Unfreiheit einem wie Unkraut über den Kopf wächst.

Das Gedicht von Durs Grünbein ist ebenso online verfügbar wie das erwähnte Interview mit Martha Nussbaum im Original (mit schriftlicher Zusammenfassung auf Deutsch). Auch lässt sich ihr Buch gut über den wbg-Verlag als pdf-Dokument erwerben.




Zwischen Filmreife und Postkarten-tauglichkeit: Über eine Erzählung von Doris Dörrie

Bisher habe ich immer einen Bogen um Doris Dörrie und ihre Bücher gemacht. Das kann auch daran liegen, dass für ihr Werk die deplazierte Kategorie „Frauenliteratur“ verwendet wird, die man nicht ernst nehmen kann: Man stelle sich einmal vor, man würde seriös über Männerliteratur sprechen – die Lacher wären einem sicher!

Dörries Erzählung mit dem kitschig anmutenden Titel Der Mann meiner Träume fischte ich neulich aus der Zwickauer Stadtbibliothek. Es war ein guter Fang, denn nun weiß ich, dass Doris Dörrie das Multimediale erzählerisch vereint. Als Professorin für creative writing an der Hochschule für Film und Fernsehen in München schafft sie es wirklich, schreibend zu kreieren, und damit meine ich nicht nur Geschichten, sondern auch Stoff für Bilder, Filme, Tanz und Theater. Selten ist mir das so deutlich geworden wie in dieser Erzählung, in der tatsächlich eine ästhetische Postkarte die Handlung vorantreibt.

Das Fotomodel Antonia achtet am Rande einer Dienstreise in den riesigen Uffizien in Florenz erst im Souvenirbereich auf ein Gemälde, das als Postkartenmotiv abgedruckt ist. Es stammt von Sandro Botticelli und zeigt einen namentlich nicht bekannten Mann:


Sandro Botticelli: Porträt eines Mannes mit der Medaille Cosimos d. Ä. (ca. 1474)

Der abgebildete Herr fasziniert sie, weil es ihr scheint, dass er eben nicht völlig aus der Zeit gefallen ist, ein sympathischer, gut aussehender Mann eben.

Es war für Antonia unvorstellbar, dass er mehr als vor 500 Jahren gelebt haben sollte. (…) Er sah doch aus wie jemand, dem sie heute auf der Straße begegnen könnte, ein etwa dreißigjähriger linker Politologiedozent, ein Filmemacher vielleicht oder Journalist, ein Mann, dem sie nach dem ersten Espresso alles von sich erzählt hätte, ein schöner Mann, der sie verstand, der Mann ihrer Träume.

Antonia vergegenwärtigt sich diesen gar nicht so fremd erscheinenden Mann und imaginiert auf ihrem Hotelbett einen Dialog mit ihm:

Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, die Liebe sei wie ein Sandsack, und jeder Mann, mit dem man ins Bett geht, macht ein Loch hinein, und jedesmal sickert ein bisschen mehr Sand aus dem Sack, bis am Ende nur eine leere, alte Hülle zurückbleibt. Meinst du, dass das stimmt?“ Ja, sagte, der Mann, aber manche haben einen größeren Sandsack als andere.“ „Danke“, sagte Antonia,
du bist der erste Mann, mit dem man wirklich reden kann.  

Zurück in München sieht sie an einem Kaufhauseingang einen „Penner“ , der in ihren Augen stark Botticellis Unbekanntem ähnelt. Da muss als Requisite nur noch eine auf der Postkarte unübersehbare rote Samtkappe und als Medaillenersatz ein mit Stanniolpapier umwickelter Schokoladentaler her, um mit einer im Kaufhaus auch erhältlichen Polaroidkamera das alte mit einem aktuellen Bildnis abzugleichen. Erst einige Tage später sieht sie jeden Johnny erneut vor einem Restaurant und zögert keinen Augenblick, ihn mit den beiden Requisiten auszustatten und zu knipsen.

Es war, als träte der Mann aus Florenz aus dem Nebel der Vergangenheit und Zukunft auf sie zu und mitten in ihr Leben hinein.

Johnny ist schlagkräftig: Er wähnt sich als Doppelgänger und verweist darauf, dass das geknipste Foto nach 500 Jahren im Müll wiederum Anlass für eine  Suchaktion sein könnte. So webt er sozusagen die Geschichte medial auf der  zeitlichen Achse weiter und schaut in seiner „Bettlerrolle“, die er annahm, um „dem Materialismus in den Hintern zu treten“, souverän hinter die Kulisse des Textes, die Fremdheitserfahrungen mehrdimensional durchleuchtet.  Das gemeinsame Wagnis, eine Reise nach Lima anzutreten, ist nur eine logische Selbstüberprüfung dieser Fremdheitserfahrung auf der räumlichen Achse. Antonia und Johnny eint der Wunsch, anders sein zu wollen, doch sie fliehen dabei vor dem eigenen entleerten Ich.  Dreimal darf man raten, ob die Reise zum ersehnten Liebesglück führt oder einfach nur eine große Desillusion ist….

Über die zweite Hälfte der Erzählung  soll weiter nichts verraten werden; einen Gedanke möchte ich jedoch noch fortspinnen. Der Mann meiner Träume wurde 1991 publiziert. Damals sprach noch keiner vom Internet und erst recht keiner von virtuellen Selbstinszenierungsplattformen wie Instagram. Heute wäre der doppelte Boden der Erzählung kaum noch einzuziehen, da wir durch die Bilderflut des Internets Bilder kaum noch abgleichen (können). Nicht wenige Menschen hinterlassen stets neue Bilder von sich in der virtuellen Welt. In der Tat kommt hier die Frage auf: Wie sehen wir unsere eigenen Bilder mit zeitlichem Abstand? Dank des guten alten Fotokartons sind wir ja oft verblüfft von Kindheits- oder Jugendfotos.  Wir können uns mit ihnen identifizieren. Bei geposteten Fotos ist dies nach einer bestimmten Zeit schon fraglich. Wie werden wir jedoch menschliche Wesen Instagram-Bilder gedanklich verarbeiten, die 500 Jahre auf Servern gelagert sind? Würden sie sich danach sehnen, eine Zeitreise anzutreten? Die Antwort liegt bekanntlich wie so viele in den Sternen oder im Reich der Fantasie, die für jede Geschichte unerlässlich ist.

So lässt sich ohne große Umschweife der Bogen spannen zu Dörries jüngstem Buch Lesen Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben, in dem es ganz am Anfang heißt: 

Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen.

Das geschieht ohne festen Boden unter den Füßen, wie ganz am Schluss deutlich wird: 

Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat.

Die beiden Bücher von Doris Dörrie sind wie ihre anderen Bücher auch bei Diogenes erhältlich.

Dialog mit Abstand – Zu einer Skulptur von Christel Lechner

Am letzten Junisonntag 2019 sollte man eigentlich zu Hause bleiben. Natürlich noch längst nicht wegen einer gewissen Pandemie, sondern wegen einer brütenden Hitze. Das Thermometer zeigte Werte von über 35 Grad ein, fast deutschlandweit. Ich schonte mich bis auf ein paar Minuten, blieb aber nicht zu Hause: Den Zug nahm ich bis Flöha östlich von Chemnitz, um dann einige schattige Kilometer durchs Tal der Zschopau zu radeln. Ziel sollte das Schloss Lichtenwalde sein, das recht imposant über dem Tal thront. Und genau diese Minuten hoch zum Schloss waren in der Tat schweißtreibend; gewiss würde sich diese Mühe lohnen. Eigentlich war es eine höchst kurzweilige Anstrengung.  Es waren im Schloss ein paar Werke von Studierenden aus der Fakultät für Angewandte Kunst in Schneeberg zu sehen, wo die Westsächsische Hochschule einen besonderen Ableger hat, der leider kaum am Stammsitz der Hochschule in Zwickau präsent ist.  Für diese Ausstellung war ich eigentlich unter anderem zum Schloss gefahren; von den Installationen von Christel Lechner hatte ich erst vor Ort gefahren.

Der große Schlosspark war fast völlig verwaist. Der Biergarten mit sicher mehr als 100 Plätzen hatte frühzeitig geschlossen, mangels Masse. Nur zwei Personen tranken noch genüsslich ihr kühles Bier; und ich gesellte mich zu ihnen. Das anschließende Gespräch über (Sport)Unterricht heute und früher in der DDR gab mir den notwendigen Auftrieb, durch den Schlosspark zu gehen, wo mir allerlei Skulpturen von Christel Lechner auffielen. Sie wurden in einer Freiluft-Ausstellung mit dem Titel „Alltagsmenschen“ zusammengestellt. 

Zwei Alltagsmenschen bleiben mir aufgrund der derzeitigen Abstandregelung besonders im Gedächtnis:

Christel Lechner: Mann im Dialog

Eigentlich sagt diese Skulptur aus zwei Menschen – ob man hier schon von einer Installation sprechen kann? –  so viel über die Gegenwart, aber eben nicht nur. Sie stammt ja aus einer Zeit, wo noch kein Politiker und kaum ein Wissenschaftler über Abstandregeln nachgedacht hätten. Insofern wäre es nicht gerechtfertigt, sie als Ausdruck unserer Zeit zu interpretieren. Und doch bin ich als Betrachter fasziniert davon, wie ein aktualisierter Kontext in der Rückschau überhand nehmen kann. Ich „sehe“ diese Skulptur mit den Augen von heute, wenn man so sagen kann, und nicht mit den Augen von 2019. Damals habe ich mir keine großen Gedanken über die Bildszene gedacht – ich fand es einfach nur originell, die hügelige Landschaft mit zu berücksichtigen und gewisse Parkgrenzen zu überwinden. Wie viele Gespräche finden räumlich distanziert statt, ganz einfach, weil sie sich so ergeben? Die klassische Alltagssituation ist jene, wenn „über den Gartenzaun hinweg“ gesprochen wird. Wer kennt dies nicht? Mit etwas lauterer Stimme kommt so ein Gespräch zustande, das auch vertraut sein kann. Nur kommt man sich eben physisch und emphatisch oft nicht näher. Jedenfalls sind viele nachbarschaftliche Beziehungen alles andere als freundschaftlich geprägt.

Bei Christel Lechners Skulptur ist jedoch das Nachbarschaftsverhältnis nicht zu erkennen. Es ist eher die Be-geben-heit, die sich im Alltag er-gibt. Die Distanz ist unübersehbar, und möglicherweise soll kein Gespräch dargestellt werden, sondern nur ein flüchtiger Blickkontakt. Wir kennen ja den Ausdruck „Wie es in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus“. Also liegt es nahe, auch an ein (kurzes) Gespräch zu denken, oder an einen Zuruf als akustisches Signal.  Die Dreidimensionalität ist hier maßgeblich durch die natürliche Landschaftsformation geschaffen: Von oben herab – von unten hinauf – beides gilt symmetrisch.

In einem Interview mit der Rheinischen Post, das ich lese, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, fallen mir drei von Lechner genannte Aspekte auf, die sich mit meinen Gedanken kreuzen.  Die „Alltagsmenschen“ erzählen „Geschichten“, zudem sind sie in ein passendes „Umfeld“ verankert, das eine intensive Interaktion zwischen Skulptur und Betrachter möglich macht. Nicht zuletzt soll die von den Kunstwerken ausstrahlende „Gelassenheit“ auch eine bestimmte Wirkung erzielen. Gerade im Krisenjahr 2020 ist diese ganz gewiss von Vorteil. Die Alltagsmenschen sind zeitlos, und der Betrachter findet einen Teil seiner selbst in ihnen wieder, und wenn es nur die Alltagskultur um ihn herum ist.

Informationen zum Werk von Christel Lechner.

Hier gibt es den erwähnten Artikel nachzulesen.

Adel ganz ohne Tadel – Gedanken zu Marie von Ebner-Eschenbach

Am 10. März stiefelte ich bei Dauerregen durch Leipzig, um auf Bücherjagd zu gehen. Ich hatte einige Titel im Blick, wofür ich zum ersten Mal die geräumige Stadtbibliothek, die ehrwürdige Universitätsbibliothek und zuletzt noch die Institutsbibliothek der Kunstpädagogik in Rufweite der Nikolaikirche ansteuerte, die in den Semesterferien anders als im Internet angegeben verschlossen war. Noch war nirgendwo die Rede von einem „Lock-Down“ in Deutschland, so dass ich stattdessen in ein benachbartes Antiquariat eintrat. Die Suche nach dem Zufallsfund dauerte keine zehn Minuten: Ein Buch aus der immer noch aufgelegten Insel-Bücherei (Nr. 543) aus dem Jahr 1982, gedruckt in Stollberg, gebunden in Leipzig, mit Aphorismen der mir nur vom Namen her bekannten Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) sprang dabei heraus. Warum nicht mal schön kurze Häppchen-Texte, die man einfach minutenweise anlesen kann? Ein klassisches Durchlesen ist hier eigentlich nicht nötig.

Ziemlich genau zwei Monate später öffnete ich endlich das Buch. Die kurzen Miniatur-Texte schienen mir zu sagen, dass ich offensichtlich einen besonderen Fund gemacht hätte. Eines der letzten und längsten Aphorismen, mit der Nummer 91 im abschließenden Teil „Fünftes Hundert“–  zum ersten Mal 1890 publiziert – spricht in meinen Augen Künstler und auch Lebenskünstler an:

Es steht etwas über unseren schaffensfreudigen Gedanken, das feiner und schärfer ist als sie. Es sieht ihrem Entstehen zu, es überwacht, ordnet und zügelt sie, es mildert ihnen oft die Farben, wenn sie Bilder weben, und hält sie am knappsten, wenn sie Schlüsse ziehen. Seine Ausbildung hängt von der unserer edelsten Fähigkeiten ab. Es ist nicht selbst schöpferisch, aber wo es fehlt, kann nichts Dauerndes entstehen; es ist eine moralische Kraft, ohne die unsere geistige nur Schemen hervorbringt; es ist das Talent zum Talent, sein Halt, sein Auge, sein Richter, es ist – das künstlerisches Gewissen.

Als ich im Spätsommer 2017 im Naabtal unweit von Regensburg einem Gespräch lauschte, wo das Wort „Lebenskünstler“ fiel, dachte ich länger über Kunst im Leben bzw. Leben als Kunst nach. Weit kam ich dabei nicht. Nun, dank Ebner-Eschenbach ist mir bewusst geworden, dass das Gewissen einen (Lebens-)Künstler leiten sollte. Es kann kein Zufall sein, dass Wissen und Gewissen, beziehungsweise „conscience“ (Gewissen) und „science“ (Wissenschaft) im Englischen und Französischen sprachlich miteinander verbunden sind, obwohl die Wörter doch so verschiedene Bedeutungen besitzen. Überwachen, Ordnen, Zügeln, Ausbildung, das klingt doch alles sehr nach Moral, nach Wissen, nach Gewissen, nach Mit-Wissen, und weniger nach Kunst. Und doch kann ein Künstler nicht ohne dies auskommen. Es gibt stets eine tiefsinnige Begleitung durch eine Parallel-Ausbildung, für die es eben kein Fachpersonal gibt. Fähigkeiten stehen nicht für sich – sie müssen eingerahmt sein, um buchstäblich Halt innerhalb einer geistig-moralischen Haltung zu finden, für die es eigentlich keine eindeutigen Worte gibt.

Zuletzt las ich die Ebner-Eschenbachs Erzählung Krambambuli (1884), die mehrfach verfilmt wurde (zuletzt 1998 mit Tobias Moretti in der Hauptrolle und Xaver Schwarzenberger als Regisseur).  Krambambuli ist eigentlich ein Branntwein mit Wacholderauszügen, der auch als „studentische Feuerzangenbowle“ im Internet gehandelt wird. Bei Ebner-Eschenbach heißt so ein Hund, der gegen 12 Flaschen Danziger Kirschbranntwein den Besitzer wechselt und zwischen dem ersten Besitzer (einem dubiosen Wildschützen) und dem zweiten Besitzer (Revierjäger Hopp) über Leben und Tod entscheidet: Zum einen klärt Kranbambuli Hopp darüber auf, dass der Wildschütze einen Oberförster erschossen hat, zum anderen sorgt er dafür, dass der Mörder beim anschließenden Racheakt des Jägers keinen Schuss abgeben kann.

Als dritter Besitzer hat zwischenzeitlich ein Graf das Nachsehen, denn der ihm als Geschenk vom Jäger Hopp zugedachte Kranbambuli verweigert ihm die Treue. Die wechselnden Besitzverhältnisse und die Rivalitäten unter den Menschen geben dem Tier das Letzte. Mutig, wie der Jäger der Gräfin die Geschenkidee vorschlägt:

« Hochgräfliche Gnaden! Wenn der Hund im Schlosse bleibt, nicht jede Leine zerbeißt, nicht jede Kette zerreißt, oder wenn er sie nicht zerreißen kann, sich bei den Versuchen, es zu tun, erwürgt, dann behalten ihn hochgräfliche Gnaden umsonst – dann ist er mir nichts mehr wert.»

Die Probe wurde gemacht, aber zum Erwürgen kam es nicht; denn der Graf verlor früher die Freude an dem eigensinnigen Tiere. Vergeblich hatte man es durch Liebe zu gewinnen, mit Strenge zu bändigen gesucht. Er biß jeden, der sich ihm näherte, versagte das Futter und – viel hat der Hund eines Jägers ohnehin nicht zuzusetzen – kam ganz herunter. Nach einigen Wochen erhielt Hopp die Botschaft, er könne sich seinen Köter abholen.

Böser Ernst und bissiger Humor halten sich die Waage; die Sprache ist pointiert, fast salopp. Die Schriftstellerin, die schon in ihrem 13. Lebensjahr selber Titel Gräfin wurde, hat in diesem kurzen Text einer vollkommen verschwundenen Gesellschaft feine Nadelstiche versetzt. Jäger und Schützen sind bei ihr keine Helden mit ihren Trophäen, sondern derb und unkultiviert.

Auf einer frühen Fotografie des kaiserlichen Hof-Fotografen Ludwig Angerer, angeblich aufgenommen um 1865, sind die Blicke der Schriftstellerin zusammen mit ihrem Gatten auf ein geöffnetes Buch fixiert – sicher damals für Frauen ungewöhnlich im Kontext der frühen Porträtfotografie. Hier wird eindeutig auf die berufene Literatin verwiesen.

Ebner-Eschenbach mit Gatte
Porträtfotografie von Ludwig Angerer: Marie von Ebner-Eschenbach mit ihrem Gatten Moritz (um 1865)

Ebner-Eschenbach auf Briefmarke
Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1980 mit einem Foto von Marie von Ebner-Eschenbach

Mehr als 100 Jahre später ehrte sie eine Briefmarke der Deutschen Bundespost zu ihrem 150. Geburtstag. Noch bekannter wurde Ebner-Eschenbach über den Bargeldverkehr: Zierte die 20-D-Mark-Scheine in Deutschland Annette von Droste -Hülshoff, waren in Österreich  die 5000-Schilling-Noten für Marie von Ebner-Eschenbach reserviert, deren Mädchenname Marie Dubský von Třebomyslice wie aus einer vollkommen anderen Welt klingt, obwohl sie doch gerade im damaligen k. und k. -Kontext ein und dieselbe war. Neben Deutsch und Tschechisch kam sie bereits als Kind mit Englisch und Französisch regelmäßig in Kontakt. Kann man da überhaupt von einer Muttersprache sprechen? In Österreich ist sie allein aufgrund der geografischen Nähe zu ihrem Geburtsort, dem Schloss Zdislawitz (heute heißt die mährische Ortschaft Troubky-Zdislavice) und ihrem Sterbeort Wien bekannter. Mit Kaiser Franz Josef II. teilt sie sowohl das Geburts- als auch das Sterbejahr und damit mehrere (Literatur-)Epochen. Im Jahre 1900 bekam sie von der Universität Wien bereits einen Ehrendoktortitel, ein Jahr zuvor bereits das Österreichische Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft.

Zum Glück scheint der Verfall ihres heimatlichen Schlossgutes aufgehalten. Noch 2013 berichtete in melancholischem Ton die F.A.Z. davon. Bald, so scheint es laut Prager Zeitung,  wird Schloss Zdislawitz wieder für Besucher zugänglich zu sein, auch wenn man nicht mehr die wertvolle Bibliothek Ebner-Eschenbachs (1945  geschreddert) zurückholen kann. Was wohl vom Nachlass übrig gelassen wurde? Ein Grund mehr, länger im malerischen Mähren zu verweilen. Vielleicht mit frischer neuer Lektüre im Gepäck: Die Erzählung Kranbambuli gibt es online und ganz frisch als Jugendbuch. Die Aphorismen gibt es im neuen Gewand in der Insel-Bücherei unter der Nummer 1414!

Keine Horrorvorstellung?! Über die Bildlichkeit einer Erfolgsmeldung

Das Phänomen der Prokrastination ist sicher keines, das man würdigen sollte. Doch manchmal verschlägt es einen auf Internet-Seiten, die eigentlich in keinem Zusammenhang mit einer gezielten Recherche stehen. Es war der 21.04.20, als ich in einer Pressenotiz einen Satz vernahm, der mich sofort in den Bann zog:

Wäschespinnen laufen gerade wie Hölle.

Dieser Satz stammt von Henner Rinsche, Vorstandsvorsitzender der Leifheit AG mit Sitz im hessischen Nassau.  Er wurde am 18.04.20 in einer dpa-Meldung verbreitet. Leifheit ist mir als renommierter Haushaltsgerätehersteller vertraut. Wäschespinnen kenne ich ebenfalls mehr oder weniger gut, also habe ich den Satz einwandfrei als Erfolgsmeldung verstanden. Doch hat es dieser einfache Satz in sich, denn bildlich ist er auf dreifacher Ebene anschaulich:

Eine Wäschespinne ist anders als eine Vogelspinne frei von Gefahren und einfach nur nützlich, um nasse, saubere Kleidung ganz natürlich an der Sonne trocknen zu lassen. Die Form des Gerätes erinnert an eine Spinne. Eigentlich nichts, woran man weitere Gedanken verschwendet.  Wäschespinnen, die jedoch „laufen“, haben schon etwas Pikanteres, denn hier stelle ich mir bereits wirkliche Spinnen vor, die vielleicht gerade aus einem Wäschekorb herauskrabbelt. Und diese Zuspitzung auf „Hölle“, eigentlich auf einen Ort, der wie kein anderer für Schrecken steht, kann zu einer Horrorvorstellung führen, die natürlich hier harmlos ist, beflügelt sie doch hier nur die Fantasie. Wohl aus dem Englischen „like hell“ ist dies eingeschwappt, so dass jetzt sogar verbrieft von „wie Hölle“ gesprochen wird, was Nachrichtenagenturen teilweise mit „sehr stark“ herunterkochen. Denkbar wäre auch „wie verrückt“; „höllisch gut“ klingt hingegen schon merkwürdig.

Die Kombination aus Insekt, Bewegung und einem fiktionalen Ort hat geradezu etwas Filmisches. Ein Surrealist hätte seine Freude dabei, hier einen Plot zu entwerfen. Die bekannten Ausdrücke „Ich spinne!“ und „zur Hölle (machen)“ sind negativ konnotiert, nur beim einfachen „(Es) läuft!“ denkt man an einen gewissen Erfolg.

Einige Tage später komme ich darauf, dass das englische „to spin“ etymologisch mit „spinnen“ verwandt sein muss. Es geht jeweils um eine Drehbewegung, die etwas sehr Dynamisches hat. Spricht man nicht sogar im Fitnessstudio vom „Spinning“?
„Ich bin am Spinnen ist uncool“, doch „Ich bin am Spinning-(Gerät)“ klingt nach einer durchtrainierten Person. Doch irgendwas klingt hier nach, was auch eine klare Drehbewegung ist: Eine vermaledeite „Virenschleuder“, die nicht klar zu definieren ist, kann einen Menschen genauso durchdrehen lassen wie eine „Virenhölle“, von der neulich ein lieber Freund nach einem Supermarktbesuch sprach. Begriffe, die an das Gegenteil von Sauberkeit denken lassen. Und nun als Kontrast dazu die Wäschespinne, die eigentlich der Abschluss eines realen Anti-Virus-(Wasch-)Programms ist: Erst die Kleidung möglichst heiß mit Waschpulver waschen, und dann ab in die Sonne. Die Weltgesundheitsorganisation rät angeblich zum Wäschetrocknen unter freiem, möglichst wolkenlosem Himmel. Wie wäre es, wenn die Wäschespinne sich dann auch noch um ihre eigene Achse drehen würde? Ich stelle sie mir dann wie ein Wäschekarussell mit ganz unterschiedlichen Anblicken vor…

Nun, meine Fantasie kommt hier nicht weiter. Doch sie ist schon ziemlich weit gekommen dank eines Satzes, der – nun lege ich mich fest – literarische Qualitäten besitzt, auch wenn er für die Öffentlichkeit als ganz ernstzunehmende Erfolgsmeldung geäußert wurde. Möge die Leifheit AG auch weiterhin gute Geschäfte mit Wäschespinnen machen, auch in nicht so virenlastigen Zeiten!

Hier der Kontext (Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 19.04.) in reinstem Pressedeutsch. Übrigens ist ein reales Wäschekarus(s)ell käuflich beim Dänischen Bettenlager zu erwerben!

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