Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Autor: Thomas Edeling Seite 9 von 12

Genießer und Entdecker kleinerer und größerer unbekannter Gefilde. Vom Südrand des Ruhrgebiets stammend, aus dem Essener Süden, wo landschaftliche Reize und Industriekultur gleichermaßen in der Nähe sind. Im beruflichen Alltag Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. In der Freizeit gerne auf dem Rad, auf Langlauf-Skiern, auf der Vespa oder zu Fuß unterwegs.

Bilderbuchreisefilm – Gedanken zu „Bis ans Ende der Welt“ von Wim Wenders (1991)

Als im Sommer 2020 in der ARD-Mediathek eine „Werkschau“ der Filme von Wim Wenders angeboten wurde, bediente ich mich gerne aus der großen Auswahl. Den längsten und auch teuersten Wenders-Film Bis ans Ende der Welt habe ich mir erst im Spätherbst in der  „Director’s Cut“-Version angeschaut. Sie ist sage und schreibe 287 Minuten lang und nicht wie in der Kinoversion nur 179 Minuten. Bei ca. 24 Millionen Dollar Produktionskosten und Filmszenen aus vier Kontinenten hätte der Film leicht Kult werden können. Doch an den Kinokassen floppte das Riesen-Epos. Es mag auch an der äußerst komplexen, vielschichtigen Handlung liegen, die manchen Zuschauer überfordern mag. Die französische Hauptdarstellerin Solveig Dommartin, die bereits im deutlich bekannteren Wenders-Film Der Himmel über Berlin mitgewirkt hatte und während der Drehzeit mit dem Regisseur liiert war (und am Drehbuch mitschrieb), hätte durch diesen Film zum Mythos werden können. Als sie 2007 mit nur 46 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, gab es nur vereinzelte kurze Nachrufe. Die Kategorie „Stars und Sternchen“ ist hier fehl am Platze, da sie leider ab Mitte der 90er Jahre keine nennenswerten Filmauftritte mehr hatte.

Wenders hat in der Zeitschrift Revolver (Ausgabe 4, 1999) von einem „Reisefilm“ gesprochen. Dieser Begriff ist gut gewählt, denn der gängigere Begriff „Road Movie“ würde zu diesem Epos eben nicht passen, da in diesem Film die Straße und das Auto nur anfänglich –  wie auf dem Lozère-Plateau – im Fokus stehen:

Solveig Dommartin in: Bis ans Ende der Welt
(Deutschland / Frankreich / Australien 1991) von Wim Wenders
© Wim-Wenders-Stiftung 2015

Die Hauptfigur Claire Tourneur möchte ihrem Freund Eugene Fitzpatrick entkommen. Jedoch wird die filmische Geschichte, die in Venedig, an einem vor allem aufgrund von Drogenexzessen berauschenden Ort beginnt und im Weltraum endet, von jenem Fitzpatrick erzählt. So verfolgt er in seiner Rolle als Schriftsteller stets die Handlung und reist dabei seiner Ex-Freundin nach.  Die Liebesgeschichte mit dem Australier Sam Farber, der den Decknamen Trevor McPhee trägt und international als angeblicher „Opal-Dieb“ und „Spion“ gesucht wird, ist alles anderes als hinreißend, weil es sich eher um eine Liebesprojektion von Claire handelt.  Doch die erzählerische Konstruktion ist kongenial: Beide Männer verfolgen (neben anderen Männern) auf intime Art und Weise das Leben von Claire Tourneur: Der eine von Beginn an als Roman-Erzähler, der andere als Bilder-Erforscher ; beide verbindet, dass sie als handelnde Personen im Film präsent sind und ihre Rollen wie auch bei den anderen Reisenden im Film nicht klar abgesteckt sind.

Da der Film 1991 herauskam, aber im Jahr 1999 vor dem Hintergrund eines apokalyptischen nuklearen Angriffs spielt, sind Science-Fiction-Elemente zahlreich, vor allem elektronische Geräte, die tatsächlich um die Jahrtausendwende mehr und mehr auf den Markt kamen. Ein Zuschauer von 1991 hat es wohl noch als wundersam empfunden, wenn Claire in ihrem Rover P5, der nur bis 1973 hergestellt wurde, über ein grafisches Navigationssystem verfügt, das sie direkt anspricht.  Als sie von der Piazzale Roma in Venedig zurück nach Frankreich losfährt, sagt ihr die Computerstimme:

Guten Tag, Claire. Ihr Auto-Computer ist online. Sämtliche Fahrfunktionen werden überprüft. Aktivieren Sie die elektronische Landkarte und geben Sie das gewünschte Fahrziel ein.

Der folgende Roadtrip führt Claire nicht direkt zurück nach Paris, sondern in die menschenleere Region Lozère, wo sie nach einem glimpflich ausgegangenen, aber spektakulären Unfall auf zwei Bankräuber trifft, die leichtsinnig die Karambolage zu verschulden hatten. Diese nimmt sie in ihrem noch fahrtüchtigen Wagen mit in eine Unterkunft und handelt als Belohnung 30% der von ihnen erbeuteten Geldsumme aus, die aus verschiedenen Währungen besteht. Da die Tasche mit dem vielen Geld einen Ortungssender hat, wird Claire von den beiden weiter indirekt verfolgt. In einem verwahrlosten Einkaufszentrum in Saint Etienne stößt sie während der Autoreparatur dann auf Trevor McPhee an einer öffentlichen Bildschirmtelefonie-Station. Sie nimmt ihn mit nach Paris, ohne Kontaktadressen auszutauschen. Durch Zufall sieht sie ihn wieder an einer Telefonstation im Büroviertel La Défense, wo sie die Adresse Mangerstraße 26 in Berlin (die reale Adresse ist eine Potsdamer Villa) aufschnappt. Sie sucht ihn dort auf. Zur weiteren Unterstützung beim Aufspüren von Sam kommt der schräge Detektiv Philipp Winter (firmierend unter „Missing Persons GmbH“) zum Einsatz, der seinerseits ein Auge auf Claire wirft. So nimmt ein weiterer Mann an einer unwiderstehlichen Welt-Reise teil….. Die Geschichte kann und soll jetzt nicht weitererzählt werden. Sie lohnt sich auf jeden Fall, in Gänze angeschaut zu werden.

Wenders sagte im bereits erwähnten Interview:

Für mich fangen Filme mit einem Ort an. Für die meisten meiner Filme gab es einen Ort, bevor es eine Geschichte gab.

Dieser Gedanke fasziniert mich, gerade auch weil Ort und (Zeit)-Geschichte in gewissen Augenblicken verschmelzen. „Storytelling“ basiert auf Zeit und auf gewissen Begebenheiten: Eine ganz wichtige kann der Umweg sein, den Claire am Anfang des Films auf der Autofahrt von Venedig nach Paris macht. Denn sie lässt nicht die atomare Bedrohung, sondern ein Verkehrstau ungeduldig werden, dem sie von der verstopften Autobahn über einen Waldweg entkommt. Nur deswegen führte die angezeigte Route sie folgenreich über das Lozère-Plateau.

Als besonderer filmischer Ort ist das Hotel Adlon in Berlin geradezu visionär, wo Claire Trevor McPhee / Sam Farber privat treffen wollte, dabei jedoch versetzt wird. (Das Bild zeigt die erschöpfte Claire in der Hotellobby). Vielleicht hat Wenders damals daran gedacht, dass es wiederaufgebaut werden würde (Neueröffnung im originalgetreuen Gewand 1997). Verständlicherweise wählte er im Film eine futuristische Kulisse, die zusammen mit der historisch-realen Kulisse vom heutigen Zuschauer abgeglichen werden kann. Das gilt auch für vieles andere im Film: Was war damals im Film Fiktion, was heute Wirklichkeit ist? Allein mit dieser Frage ist dieses filmische Dokument ein wertvolles Stück Kunst(geschichte), das es unbedingt (wieder) zu entdecken gilt.


Solveig Dommartin in: Bis ans Ende der Welt
(Deutschland / Frankreich / Australien 1991) von Wim Wenders
© Wim-Wenders-Stiftung 2015

Lesenswert ist das erwähnte Interview in der Zeitschrift Revolver; darüber hinaus eines mit Schülerinnen und Schülern des Lycée Français de Berlin aus dem Jahre 2010. Wissenschaftlich setzt sich unter anderem Andreas Jacke mit dem Film auseinander: „Apocalypse – not now“ , erschienen auf den Seiten 149-162 in: Blade Runner, Matrix und Avatare (Springer 2013, hg. von Parfen Laszig.) Das Buch ist auch als E-Book erhältlich. Seit 2012 gibt es die Wim-Wenders-Stiftung, die zu jedem Wenders-Film Informationen bereithält und ggf. bereitstellt (wie dankenswerterweise die beiden Bilder). Der Film ist über die Arthaus-Webseite leicht erhältlich.

Eine Farbenlehre des 21.Jahrhunderts. Über neue Ampelfarben in Pandemiezeiten

Die Kulturgeschichte der Ampel ist noch nicht geschrieben worden. Ob dieses Unterfangen sich lohnen würde? Wenn man bedenkt, dass Ampel etymologisch von ‚Ampulle’ kommt und wir jede ‚Pulle’ als ein Gefäß umschreiben können, dann zeichnet sich womöglich eine spannende Spurensuche ab.

Im anglophonen Sprachraum regeln den Straßenverkehr ‚traffic lights’, also Lichter, in frankophonen Ländern sind es die ‚feux ’, also die Feuer, die aufleuchten. Insofern ist der offizielle Begriff Lichtzeichenanlage für eine Ampel einfach nur zu sperrig, doch die Kombination aus ‚Licht’ und ‚Zeichen’ trifft ja genau zu, wenn wir von ‚rot ’, ‚gelb’ und ‚grün’ sprechen.

Eigentlich ist das rote Signal, wenn man an die Eisenbahn denkt, ebenfalls nur eine Aufforderung, anzuhalten bzw. nicht weiterzufahren. Und doch liegt es nahe, eine Signalfarbe, also ein gut sichtbares Zeichen, bei bestimmtem Einsatz mit einer Warnfunktion zu verbinden. So frage ich mich, ob wirklich erst seit dem Jahr 2020 in Deutschland und Österreich von einer Warnampel die Rede ist. Ich stelle mir zugleich die große Schwierigkeit eines Dolmetschers vor, den Begriff adäquat zu übersetzen. Er leuchtet nämlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht sofort ein, denn eine Verkehrsampel als Zusammenschaltung von Signalfarben soll nicht allgemein warnen, sondern ein komplexes System besser regeln. Eine grün zeigende Ampel hat nicht das Geringste mit Gefahr zu tun, wohl aber dann, wenn die Ampel auf gelb und dann auf rot springt. Dieses Springen ist ja auch eine sprachliche Dynamisierung eines Farbwechsels, was sicher daran liegt, dass die Ampelfarben meist senkrecht angeordnet sind und das Springen nur mit einer gewissen Sprunghöhe vorstellbar ist.

Zum Glück ist den meisten klar, warum der Begriff der Warnampel 2020 geprägt wurde. Der dazugehörige Diskurs, nämlich die Bekämpfung einer Pandemie, wird in nicht allzu weiter Ferne sicher in Abschlussarbeiten skizziert. Bisweilen sind die Befürworter und die Skeptiker in einem Gremium vertreten: Der eine (Ministerpräsident von Bayern) wollte diese Warnampel unbedingt, die andere (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) wollte sie anfangs eher nicht, weil eine grün leuchtende Ampel nämlich keine Gefahr induziere, sondern eine „falsche Sicherheit“. Deswegen gibt es bei der rheinland-pfälzischen Version bis zum heutigen Tage überhaupt kein Grün bei den Warnstufen. Das Grün wurde hier durch vollkommen neutrales Weiß ausgetauscht. Außerdem sind die drei Ampel-Farben in den Augen vieler Entscheidungsträger nicht ausreichend, wenn man pandemische Warnhinweise bedenkt. Wird nicht ‚violett’ als die warnende Farbe schlechthin gesehen? Im Herbst 2020 hatten auch aus diesem Grund deutsche Bundesländer jeweils ein eigenes Ampelsystem zur Pandemiebekämpfung, was bisher nicht vereinheitlicht wurde. Berlin hat immer noch drei klassische „Leuchten“ und drei weitere sekundäre Ampeln, die den „Indikator für die Reproduktionsrate“, den „Indikator Neuinfektionen je 100000 Einwohner und den „Indikator Bettenbelegung der Intensivstationen” zusammenfassen. Hessen hat zusammen mit Orange und Dunkelrot fünf Farben, allerdings nur die Inzidenz, also die Fallzahlen, als Indikator.

Immerhin hat die EU international anerkannte Kriterien eingeführt, wobei keine (Warn-)Lichter im Englischen wiedergegeben werden, sondern einfach nur bestimmte Wertgrößen bestimmten Farben zugeordnet werden. An Farbenblinde wird auch gedacht: Beim „combined indicator“ (auch die Quote von Positivgetesteten wird einbezogen, nicht nur die absolute Anzahl)  werden neben den klassischen Farben grün, orange und rot in einer separaten Karte alternativ Blau-/Grautöne  eingesetzt.  Wer gerne Karten und studiert und sich auf die komplexe Datenlage einlässt, wird die eine oder andere Entdeckung machen. Allerdings werden hier 14 Tage und nicht 7 Tage als Betrachtungszeitraum gewählt. Insgeheim muss also etwas (um-)gerechnet werden.

In Tschechien  ist man übrigens im doppelten Sinne auf den Hund gekommen. Denn das dortige Warnsystem („Protiepidemický systém“), kurz PES, lässt einen an keine Ampel, sondern an einen Vierbeiner denken, denn die Abkürzung heißt im Tschechischen zugleich „Hund“.  Und deswegen verwundert es nicht, dass auf der offiziellen Seite des tschechischen Gesundheitsministeriums die Warnstufen auch mit bildlichen Hundemotiven angereichert sind. Sie warnen so deutlich, dass Erklärungen fast entbehrlich sind: Ein (Wach-)Hund signalisiert keine absolute Sicherheit, höchstens eine Entspannungsphase, wenn die Zunge raushängt; und sein Sensorium ist zu scharf eingestellt, als dass er in der geringsten Warnstufe nicht aufmerksam genug wäre:

Warnskala
Das Covid-Warnsystem in Tschechien ist auf den Hund gekommen

Angesichts der vielen Ampel-System-Unterschiede in der föderalen Bundesrepublik Deutschland ist diese Farbskala mit bildlicher Schärfe eine klare Ansage. In der deutlich kleineren Bundesrepublik Österreich ist die Ampel übrigens schon seit dem Herbst landesweit in Anwendung, sie zeigt aktuelle überall dauerrot an, während in Tschechien der Hund zur Zeit im Gesamtüberblick violett-bissig dreinschaut.

Und noch etwas Brandaktuelles: Just in dieser Woche leuchtete eine Signalfarbe mit gravierenden Folgen falsch auf. Die F.A.Z. meldete am 27.01.21, dass aufgrund einer „Datenpanne“ die Lombardei ab dem 17.01.21 „als rote Zone eingestuft“ worden sei, obwohl sie hier mit den korrekten Werten gleich zwei Stufen besser hätte da stehen müssen, nämlich als gelbe Zone. Schadenersatzsummen von bis zu 600 Millionen Euro könne dies zur Folge haben. Denn nicht nur hätten hier wie in einer orangenen Zone (wie aktuell im Großteil Italiens) Geschäfte öffnen dürfen, sondern auch die Gastronomie. Stattdessen durfte keiner in dieser Region ohne triftigen Grund vor die Tür treten. Es kommt noch ärger: Am gleichen Tag gab es einen Rücktritt zu vermelden, nämlich den des italienischen Ministerpräsidenten! Das tut weh: Falsche Signale im doppelten Sinne werden hier ausgesandt. Eine italo-schweizerische Beobachterin hat in einem Blog-Artikel bereits beschrieben, dass in Italien Anfang 2021 „Farbnuancen“ eingeführt wurden, so dass beispielsweise von „verstärktem Gelb“ gesprochen werde könne. So kräftig wurde selten von offizieller Seite im „Farbtopf“ gerührt! In Italien scheint ein zentrales Warnsystem regionale Ausdifferenzierungen zuzulassen, während in Deutschland aktuell (fast) alles daran gesetzt wird, verschiedene Warnampel-Systeme nur dann einzusetzen, wenn die größten Gefahren gebannt sind. Die Debatte um dieses hochkomplexe Thema wird zurecht kontrovers (weiter-)geführt.

Und es gibt noch eine Pointe zu Warnhinweisen: Neulich verweis ein lieber Freund auf das Unterfangen des ehemaligen Tübinger Professors Jürgen Wertheimer, der ein begeisterter Forscher zum Kassandra-Mythos ist, ohne vermutlich einen direkten Draht zu Kassandra-Rufen zu haben. Wertheimer durfte Kontakt zum Bundesverteidigungsministerium aufnehmen, wo er das Sensorium der Warnrufe jener mythologischen Figur erklären durfte. Er hatte die Idee, „eine literarische Konflikt-Map für Krisenregionen“ einzuführen, die „narrative Erschütterungen in der Literatur auf diese Weise politische Eskalationen vorhersagt“, wie Benedikt Herber Anfang des Jahres in der Zeit schrieb.  Also ergibt sich daraus eine Art Seismografie, die eben auch Gesundheitskrisen wie die derzeitige Pandemie erfasst.  Es geht um „Prognostik“ und damit auch um „Maßnahmenketten“. Weder Wirtschafts-, noch Finanzkrisen und erst recht keine Flüchtlingskrisen machen vor Ländergrenzen Halt; und es ist fraglich, ob kommende Krisen auch dank literarischer Erzeugnisse besser prognostiziert werden können. Natürlich lässt sich ohne stichfeste Indikatoren keine Skala errichten, doch wird sich zeigen, wie man in Zukunft mit subtilen Signalen Unheil heraufziehen sehen und womöglich schnell(er) eindämmen kann. Kassandra misst nicht, sie wittert etwas. Folglich ist jede Warnfunktion nur dann sinnvoll, wenn frühzeitig gewisse Zeichen der Zeit erkannt werden; und nicht erst, wenn operativ gehandelt werden muss. Am besten wäre es, wenn es unabhängig von grün noch gelb, von rot und violett als Warnstufen ausreichend Wachsamkeit gäbe. Die sollte bekanntlich auch dann gegeben sein, wenn alles in geregelten Bahnen zu laufen scheint. Es ist nun mal so: Der Mensch ist stets mal niedrigeren, mal höheren Gefahrenstufen ausgesetzt, ohne dass klar wäre, welche Stufe genau wann betreten wird.

Der zitierte Artikel aus der Zeit (Ausgabe 2, 2021, Seite 45) ist als „Arbeitsprobe“ von Benedikt Herber hier nachzulesen.

Beleuchtete Arbeits-Gänge: Über den Film „In den Gängen“ (2018)

Ein „Frischling“ in der Probezeit namens Christian (Franz Rogowski), eine erfahrene Kollegin (Sandra Hüller) aus der Süßwarenabteilung namens Marion und ein Vorgesetzter namens Bruno (Peter Kurth) – diese Konstellation in einem Großmarkt könnte gewöhnlicher kaum sein und ist dennoch brillant inszeniert. Thomas Stubers FilmIn den Gängen, der auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer basiert, wird mir als cineastisches Kammerspiel noch lange in Erinnerung bleiben. Die schnöden Arbeitsgänge werden im wahrsten Sinne des Wortes beleuchtet. Der Regisseur spricht in einem Interview mit dem Filmwissenschaftler Ronald Ehlert-Klein von einem „humanistischen Film“. Licht wird maßgeblich zum Erzählfaktor, was die folgenden Einstellungen bildhaft zeigen, in denen der Mensch – hier Christian – mit dem Erlernen von Arbeitsgängen, seinen Reflexionen und der Einsamkeit vorgeführt wird und die von teils vorsichtigen, teils dreisten Annäherungen an Marion unterbrochen werden. Der unbedingte Wunsch nach Kontaktaufnahme durchbricht jegliche menschliche Kälte. Selbst in den einsamsten Stunden wird das Dunkel durch künstliche Lichtquellen geflutet, die jedoch kaum menschliche Wärme symbolisieren können. Licht und Dunkel gehören zu Brunos Arbeitsleben unmittelbar dazu.

Beim Duschen geht dieser Gedanke Bruno melancholisch durch den Kopf, als er seine ersten Arbeitstage im Großmarkt Revue passieren lässt: „Es gab kein Tageslicht in den Gängen, und wenn ich den Markt verließ, war es draußen schon dunkel.“ Seine Sehnsucht nach Zweisamkeit ist ihm ins Gesicht geschrieben:

Badewanne
Allein in der Badewanne

Das Alleinsein ist auch im Nachtexpress nach Schichtende eindrucksvoll inszeniert. Verlassene Parkplätze und Haltestelle sind im Grunde seelenlose Transit-Orte; doch auch hier schwingt der innere Friede mit, der eben keine Verzweiflung über die Härte des Lebens zulässt:

Heimfahrt
Einsame Heimfahrt vom Großmarkt

Der Faktor Logistik steht in einem Großmarkt an erster Stelle. Dazu gehört auch das Manövrieren eines Hubwagens zum Transport von Euro-Paletten, was der dritte Screenshot zeigt. Währenddessen erklingt Johann Sebastian Bachs berühmte Air, was der Szene einen unaufgeregten, getragenen und leicht schwermütigen Eindruck verleiht:

Üben
Üben in den Gängen (für den Staplerführerschein)

Eindrücklich wird der Gabelstapler als wichtigstes Fahrzeug im Großmarkt in vielen weiteren Szenen mit all seinen Tücken vorgeführt.  Ähnlich wie in einer Fahrschule ist ebenfalls Theorieunterricht für den Staplerführerschein angesagt. Lakonisch-frotzelnd doziert der Ausbilder über physikalisch-technische Eigenheiten des Gabelstaplers:

Der Gabelstapler, oder das Flurförderzeug, wie es korrekt heißt, ist eine sichere Arbeitsmaschine, Komma, wenn wir ein paar einfache Grundregeln beachten: Gabel mit b, Stapler mit p, sag’ ich nur.  Was für’n Autofahrer die Straßenverkehrsordnung ist, das ist für uns die berufsgenossenschaftliche Vorschrift, kurz die BGV, da habe ich hier zufällig mal ein Exemplar dabei. Da steht zum Beispiel: „Die Mitführung einer weiteren Person im Gabelstapler ist strengstens verboten.“ Warum wohl? [Schweigen]. Sie führt zu unkalkulierbaren Risiken für das Leben der mitgeführten Person. Wer lesen kann ist klar im Vorteil. Kommen wir zum Hebelgesetz 1 und 2, Physik achte Klasse, Freunde. Keiner?
[Pause] Das kennt ihr aus dem Kindergarten. Das beste Beispiel ist die Wippe. Wenn de mit’m dicken Kind wippst, biste ganz schnell oben, kommste nicht mehr runter. Was machste? Was machste, he? Stell dir mal vor: Wippst mit’m dicken Kind, biste oben, kommst nicht mehr runter. Wie kommste runter?
[Pause] He? He? Kippel mal. Ist erlaubt. [Christian kippelt mit seinem Stuhl.]  Sehr gut. So. Was macht er? Er verlagert seinen Schwerpunkt nach hinten. 
[Ausbilder drückt ihn leicht wieder am Rücken nach vorn.] Er verlängert den Lastarm. Wie der Gabelstapler.

Am Ende des Films wird Christian nach bestandener Probezeit und Staplerscheinprüfung befördert, wenngleich der Freitod von Bruno den Aufstieg trübt. Die Doppeldeutigkeit von Beförderung im beruflichen und im logistischen Sinne erhält hier eine besondere Geltung: Verbotenerweise führt er bei seiner Gabelstablerfahrt seine Kollegin Marion mit und befördert damit auch wortwörtlich eine von ihm geliebte Person.

Marion und Christian bemerken dabei, wie entrückend und betörend solch ein technisches Gefährt in besonderen Augenblicken wirken kann. Dieser Dialog ist ein grandioses und zugleich stilles Finale, nach dem kein Wort mehr artikuliert werden muss.

Christian: Hab mal gehört, dass das verboten ist.

Marion: Hab mal gehört, du bist befördert worden. [Pause, während sie weiterfahren] Halt mal kurz an. So, fahr die Gabel mal ganz hoch.

Christian: Wieso?

Marion: Mach mal bitte. Das hat Bruno mir vor Jahren mal gezeigt, ich weiß nicht,  ich find‘s schön. [Christian fährt die Gabel hoch.] Lass sie wieder runter, ganz langsam. [Christian fährt die Gabel wieder runter.]

Christian: Und jetzt?

Marion: Du musst still sein, ganz still. Das Rauschen. Hörst du, wie das Meer.

Christian: Jetzt hör ich’s. [Beide schauen weiterhin zur sich langsam nach unten bewegenden Gabel nach oben; hörbares Meeresrauschen.]

Christian [als Erzähler während des Meeresrauschens]: Sie hatte recht. Warum war mir das nie vorher aufgefallen? Es klang tatsächlich wie das Rauschen am Meer.

Die Screenshots sind im Film in ihrer Reihenfolge zu folgenden Zeitangaben zu sehen: 15:25, 23:02 und 14:23; die längeren Zitate sind an folgenden Stellen zu hören: 33:02 – 34:42 und 1:52:42 -1:54:55. Bis zum 10.02.21 ist der Film noch in der Arte-Mediathek zu sehen. Ein ausführliches Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung enthält das erwähnte Interview mit Thomas Stuber. Mehr (hochauflösende) Bilder zum Film und das Filmplakat gibt es bei der Filmverleihfirma Zorro Film.

Doppelter Eignungstest – Über die gerügte Dissertation von Bundesministerin Franziska Giffey

Wer schon einmal eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreiben musste, weiß, wie wichtig prägnante Fragestellungen sind. Nicht immer geht es dabei um Lösungsansätze, da längst nicht jede Frage eine klassische Aufgabenstellung beinhaltet.

Als ich neulich aus Interesse die im Herbst 2019 mit einer Rüge versehende Dissertation der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey überflog, kam mir schnell in den Sinn, dass ein Unterfangen namens Promotionsschrift fragwürdig sein kann, wenn praktische Lösungsansätze mit wissenschaftlichen Lösungsansätzen kombiniert werden. Es sind zwei unterschiedlich geartete Sphären, die sogar wie zwei Billardkugeln kollidieren können.  Ich denke vor allem an die (Diskurs-) Felder Politik und Politikwissenschaft. (Tages-)Politik kommt im Grunde ohne Politikwissenschaft aus, wenngleich eine Trennschärfe nicht immer möglich sind. Es steht außer Frage, dass Politikgestalterinnen und -gestalter wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen sollen, wie es in der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist. Doch ist es realistisch anzunehmen, dass Giffeys politikwissenschaftliche Dissertation auch in der politischen Gestaltungsarbeit berücksichtigt wird?

Diese Fragestellung ist keinesfalls hypothetisch, versucht die Arbeit doch, europapolitische „Beteiligungsinstrumente“ der Europäischen Kommission auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die lokalpolitische Akzeptanz in Berlin-Neukölln zu prüfen.  Die Prüfung dieser Instrumente ist als ein Eignungstest zu verstehen, der für drei verschiedene „Eignungsdimensionen“ jeweils drei weitere „Bewertungsindikatoren“ vorsieht. Einen Überblick dazu gibt die Tabelle, die am Ende von Giffeys Arbeit dargestellt ist und quasi einen Überblick über die Analyseergebnisse bietet:

Franziska Giffey: Europas Weg zum Bürger
Aus: Franziska Giffey: Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft, 2009, S.197 (Abrufbar unter: https://refubium.fu-berlin.de/)

Die dreistufige Bewertungsskala zeigt an, ob die skizzierten Instrumente sich mehr oder weniger für bestimmte lokal zivilgesellschaftliche Maßnahmen vor Ort bzw. an der Basis, wie es in der Politik oft heißt, eignen. Der wissenschaftliche Leser kann schon an diesem Tableau erkennen, dass die sechste Kategorie, nämlich multiplikatorenbasierte Beteiligungsinstrumente, am besten abschneidet.

Ohne weiter ins Detail zu gehen, frage ich mich, ob hier der Faktor Vergleichbarkeit zwischen mehreren Instrumenten gegeben ist. Lassen sich rein mediale, nämlich die printbasierten, audiobasierten und webbasierten Instrumente mit denen vergleichen,  wo Personen mit oder ohne Unterstützung leibhaftig in Aktion treten? Liegt es nicht nahe, wie das Wort „Multiplikator“ bereits anzeigt, dass hier beabsichtigte Wirkungen wie in einem Resonanzraum verstärkt werden? Die Autorin stützt sich vorwiegend auf Aussagen vor Ort, was bedeutet, dass hier auch Statements politischer Akteure einfließen. Das ist für eine Feldstudie natürlich ein probates Mittel, doch wie valide ist eine wissenschaftliche Untersuchung in diesem Kontext? 

Ich lasse die Fragen bewusst offen, weil ich hier keine abschließende Bewertung abgeben kann und dies auch nicht möchte. Eine von der FU Berlin erteilte Rüge – ein wahrlich bizarres Vorgehen – beweist, dass die Autorin ihren eigenen Eignungstest eigentlich nicht bestanden hat. Und so leidet auch der Eignungstest europapolitischer Maßnahmen.  Diese beiden Eignungstests lassen sich eben nicht feinsäuberlich trennen.

Nach einem Jahr, wo es spätestens ab dem Frühjahr täglich um Tests und Testungen ging, bei denen das Ergebnis neben dem gewöhnlichen Ergebnis
„positiv“   und „ negativ“ auch mal in der Schwebe hing, sehen wir womöglich in Zukunft noch eindringlicher, wie sensibel auch die Interpretation von Testergebnissen vorgenommen werden muss. Natürlich geht es in der Dissertation der Bundesministerin weniger um Tests im herkömmlichen Sinne als um Bewertungen von Maßnahmen in Bezug auf bestimmte erfüllbare Indikatoren, die als Kriterien fungieren. Die vorgelegte Arbeit ist quasi der Test-Kit. Wenn er etwas taugen sollte (dies wäre zuvorderst in der Politikwissenschaft zu diskutieren) würden die abgeleiteten Empfehlungen womöglich nicht nur in Berlin-Neukölln Schule machen. Ich bin jedoch weiterhin skeptisch, ob der Test-Kit gut genug dafür ist, lasse mich aber gern eines Besseren überzeugen.  

Ich wünsche der Autorin, wie es in Absageschreiben so schön formell heißt, jedenfalls alles Gute für ihren weiteren Lebensweg, und das meine ich bewusst nicht lapidar. Nächstes Jahr steht ja die Wahl zur Regierenden Bürgermeisterin in Berlin an. Das sollte für Franziska Giffey ausgemachte Sache sein! Eine Dissertation ist für dieses Amt jedenfalls keine Voraussetzung. Schließlich würde ich mir wünschen, wenn europapolitische Akteure in Zukunft wirklich als Multiplikatoren aktiv(er) werden, damit das Bauwerk Europa auch transparenter wird. Es braucht neben genügend Fördertöpfen Mittler, die überparteilich den Geist Europas wie einen Luftstoß in lokale Gefilde bringen. Nach einem reise- und begegnungsarmen Jahr 2020 ist das wichtiger denn je! 

Digital-künstlich: Gedanken zur smarten Überwachung

TÜV – Technischer Überwachungsverein – diese Abkürzung ist auch denjenigen vertraut, die (noch) gar kein Kraftfahrzeug besitzen. Alle zwei, spätestens alle drei Jahre steht ein TÜV-Termin an, denn immer noch lässt sich ein Motor mitsamt der Karosserie nicht selber überwachen. Es bedarf eines Ingenieurs, der die Technik überwacht.

Wie sieht es mit dem Smart Home aus, das nach dem Smart Phone schlau genug ist, sich selbst und zugleich den Nutzer zu überwachen? Während im Deutschen das Verb ‚wachen’ seit Jahrhunderten positiv konnotiert ist – man denke nur an die Nachtwache oder den Wachhund – , ist die Überwachung ein zweischneidiges Schwert. Eine Videoüberwachung mag den einen oder anderen Kriminalfall lösen, doch ist vielen unwohl, wenn wir auf Schritt und Tritt überwacht werden, gerade wenn ein Smartphone die Aufgabe einer Videokamera mehr als gut ersetzen kann. Hier ist ganz klar: Anders als beim TÜV überwacht das Gerät den Menschen und zeigt ihm im wahrsten Sinne des Wortes mögliche Fehltritte an. Theoretische Überlegungen zu diesem Thema wurden bereits genug angestellt – die Interaktion von Mensch und Maschine wird uns sicherlich die nächsten Jahrzehnte über begleiten.

Romanesk hat sich der Architekturkritiker und F.A.Z.-Redakteur Niklas Maak dem Phänomen Smart City gewidmet, was im Grunde das Weiterdenken von Smart Home ist, denn schließlich geht es darum, auch Häuser untereinander zu vernetzen, in dem der aufschlussreiche Datenfluss nirgendwo auf die eigenen vier Wände begrenzt wird:

In der autogerechten Stadt ging es darum, dass die Leute in Ruhe gelassen werden, in ihren Schlafburgen, auf dem Weg zur Arbeit, wohingegen es in der smartphonegerechten Start darum ging, dass alles mit allem in Kommunikation trat und der Bewohner, was man als Versprechen oder als Drohung lesen könnte, nie mehr allein war, sondern ständig Daten abgenommen bekam wie ein Patient in der Notaufnahme Blut und dass dieses neue Blut alle Informationen enthielt, die man brauchte, um die Körper und die Gefühle und die Begierden und die Ängste des Smartstadtbewohners nach Belieben zu steuern. Eine Wand bedeutete nichts mehr, sie war kein Schutz mehr und nur noch notwendig, um an ihr Sensoren anzubringen. Die Datenvampire hatten ganze Arbeit geleistet.

Der Roman Technophoria, aus dem dieses Zitat stammt, beschreibt dystopisch das Austesten und damit auch das reale Simulieren von Elementen einer Smart City.
Maaks Figuren bleiben ähnlich wie beschriebene Welten, die sich um den Globus spannen, seltsam blass. Turek, die Hauptfigur, ist ein Cheflobbyist einer Private Equity Firma, die Smart Cities testen und bauen lässt. Er findet im (Arbeits-)Leben keinen Halt und wird wohl absichtlich diffus gezeichnet; jedenfalls kann ich mir diese Figur kaum bildhaft vorstellen.

Niklas Maak scheut dabei nicht davor zurück, Kalamitäten zu schildern, die einer bissigen Tragikomödie gleichkommen. Als Leser scheint die literarische Welt schockgefroren zu sein; menschliche Wärme ist selbst in noblen Anwesen ein Fremdwort; selbst der Anblick von Frisuren erinnert daran, dass darin „eine unsichtbare Elektrizität zu fließen schien“. Überwachung per Videokamera ist omnipräsent. Immerhin kann man die Kamera noch mit Rasiercreme einschäumen und sie blind stellen, wie es Tureks Freundin Aura im angemieteten Ferienhaus in Portugal bewerkstelligt. Die menschliche (Er-)Schaffenskraft bleibt seltsam forciert, weil Geräte und nicht der Mensch selbst Entscheidungen erzwingen, so dass die Willensfreiheit kaum noch gegeben ist. Diese Grauzone resümiert Maak eindrucksvoll, als von einem Test-Roboter in der Verkleidung einer Androidin die Rede ist. Menschenähnliche Wesen erhalten in einem eigenen Kapitel namens „Roboter“ eine schaurige Bühne. Er legt dem japanischen Ingenieur, den Turek im fernen Osaka besucht, folgende Worte in den Mund:

Weißt du – ein Roboter ist nichts anderes als ein lebendigerer Spiegel, der uns zeigt, was wir wollen und wer wir sind. Es gibt etwas in unserem Gehirn, das aktiv wird, wenn man Trauer oder Freude bei anderen Menschen beobachtet, was es uns erlaubt, sich in jemand anderen hineinzuversetzen. Schon jetzt können Roboter von ihren Fehlern lernen. Bald werden sie in der Lage sein, auch ihre Programme zu hinterfragen, und Fehler der Programmierer zu korrigieren, ohne dass man sie dazu aufforderte. Und dann haben wir es mit einer neuen Natur zu tun.

In der Tat: Ein Roboter lässt tief blicken, umso mehr, wenn er hat ein gewisses Fehlerbewusstsein aufweist. Er hätte dann eine Einsicht, so wie wir auch Spiegel verwenden, um in unser Innerstes hineinzusehen. Wenn die Forschung es schaffen sollte, Nachdenken und Reflektieren vom menschlichen Gehirn abzukoppeln, wäre unser Geist entzaubert. Dann wären neue Geister aus der Taufe gehoben. Doch noch ist es (längst) nicht soweit: Solange der TÜV noch ansteht, überwacht sich die Technik noch nicht selbst.  Solange wir mit dem Phänomen Risiko leben müssen, hat der Mensch paradoxerweise noch sein Leben in gewissem Maße unter Kontrolle. Ohne Risiko scheint er jedoch die Autonomie über seinen Lebensweg entscheidend zu verlieren. Wollen wir sie aufgeben, um von autonomen Technikgeistern geführt zu werden?

Das ARD-Kulturmagazin ttt besprach Technophoria im Sommer 2020. Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen.

Schreiben mit Naturfarben – Über ein Gedicht von Andreas Altmann

Andreas Altmanns Lyrik ist seit vielen Jahren im Leipziger poetenladen Verlag gut aufgehoben. Daneben ist der poetenladen ein bemerkenswertes Literaturportal und -label, das sich nicht nur der Lyrik widmet. 2009 traf ich Altmann in Berlin, nachdem ich aus Zufall auf der mehrsprachigen Webseite lyrikline.org auf einige Gedichte aus seiner Feder gestoßen war. Mit ihnen hatte ich sogar ein Ausstellungsprojekt zusammen mit passenden Fotografien von ehemaligen Industrielandschaften geplant, das ich jedoch schließlich verwarf.

Im Nachhinein lohnt es sich, das Internet nach Rezensionen zu durchforsten, die zu eigenen, früheren und nun wieder aufgerufenen Gedankengängen passen. Schließlich geht es ja auch um das Anknüpfen von Gedankensplittern, gerade wenn von Lyrik die Rede ist. Die Äußerungen von zwei weiteren Altmann-Interpreten zeigen mir nämlich, dass die wahrhaftigen Sprachbilder – ob sie nun gemalt oder fotografiert sind
– für Altmanns Gedichten gerade auch wegen der leuchtenden Farben prädestiniert sind. Denn im Grunde zeichnen die Texte ihre eigenen Bilder:

Die Gedichte von Andreas Altmann sind grün. Diese Farbe legt sich um eine Sprache, die leise und sanft sich bewegt. Mitunter, wenn die Sanftheit in eine umfassendere Ganzheit gelangt, wechselt die Farbe.


So steht es in einem Blog mit dem schönen Namen literaturleuchtet. Und auf der  Literaturplattform Fixpoetry heißt es:

Wer einen Gedichtband von Andreas Altmann aufblättert, betritt eine Gemäldegalerie. (…) Die Dinge sind häufig belebt, als ginge ein animistischer Geist durch alles und würde es miteinander verbinden. Dann sinken die Dinge wieder zurück in eine bedächtige Distanz zum Betrachter, dem es unterdessen mehr und mehr vorkommt, als verblassten die Rahmen um diese Gemäldeskizzen, so daß die Gedichte ins unbegrenzte Offene ausfasern.

Im 2018 erschienen der Band Weg zwischen wechselnden Feldern, dessen Cover das Visuelle in der Schrift mehr als verdeutlicht und dabei zugleich eine konkrete Spur als Weg einzeichnet:

Cover
Andreas Altmann: Weg zwischen wechselnden Feldern (poetenladen, 2018)

Die dahingleitende Erinnerung an untergegangene Zeiten, die mehr oder weniger leidvoll für den engeren Familienkreis des lyrischen Ichs gewesen sein muss – sie strahlt im Band oft auf und wird gewissermaßen mit Worten bebildert. Das Gedicht naturfarben wählte ich stellvertretend aus, weil es all die Attribute enthält, die Altmanns Lyrik in einem fokussierten Wort-Kosmos verwebt: Farb(losigkeit)en, (un)belebte Natur, (Frei-)Räume, (An-)Blicke, (Zwie)Licht(er), (Jahres-)Zeiten, (Schrift-)Zeichen :

naturfarben

licht hat die säle geflutet, der regen

moos und flechten in den beton gepflanzt.

hier wachsen die bäume nicht in den himmel.

zeichen aus einer anderen zeit faulen auf

den mauern. stühle, seit jahren unberührt,

häufen sich vor dem gebäude über den tischen.

das freie hat ihnen zugesetzt. die natur holt sich

ihre farben zurück. im schnee erzählen sie

den augen ihre blinden geschichten. sie sehen

das licht in den worten aufscheinen. der raum

spielt für sich selbst theater steht an der wand

mit den aufgeklappten sitzen. und vor den

flügeln der tür hat sich herbstlaub gesammelt,

verrät jeden gang, der an sich selbst vergeht.  

Eindrücklich und auch eindringlich beschreibt Altmann einen aufgegebenen (Kunst-)Raum, der mit der Kraft der Worte neu erstrahlt. Kaum ein Foto könnte diese Intensität zeigen. Mit unserer Vorstellungskraft können wir uns ausmalen, wie so ein Raum aussehen könnte; das Sichtbare allein wäre nicht ausreichend. Denn neben „sehen“ und „aufscheinen“ sind auch „erzählen“, „faulen“, „unberührt“, „Gang“ und „spielen“ präsent. Es sind Worte, die wir nur mit Hilfe unserer gesamten Sinneswahrnehmung durchdringen können.  Uns ist Flutlicht vertraut, aber nicht Licht, das Säle geflutet hat, uns setzt Stress und Streit zu, aber gewöhnlich nicht das Freie. Ein an sich selbst vergehender Gang, verraten durch das Herbstlaub, hat etwas wunderbar Geheimnisvolles, das sich nicht auflösen lässt. „Gang“ und „vergehen“ besitzen bereits eine schillernde Bedeutungsvielfalt, dazu erscheint mit diesen beiden Worten die „Vergangenheit“ im Kontext des Gedichts wie ein Wort-Gespenst.

Allgemein ist uns Zeile für Zeile jedes einzelne Wortes vertraut, aber nicht das gebildete Satzgefüge. Gerade dieses Abrufen von Erfahrungsschätzen im Zusammenspiel mit einer Neubegegnung von buchstäblich nachspürbaren Ausdruckskombinationen macht nicht nur dieses Gedicht von Andreas Altmann zu einem Hochgenuss von Lektüre – schließlich werden alle Sinne angesprochen.

Hier geht es direkt zum Weg zwischen wechselnden Feldern und zu weiteren Informationen über den Autoren. Dem Verlag danke ich für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Ab-Lauf im wörtlichen Sinne. Zu Besuch im Sächsischen Eisenbahnmuseum

Der Besuch im Sächsischen Eisenbahnmuseum in Chemnitz-Hilbersdorf war angesichts der Landesausstellung „Boom“ nur eine Frage der Zeit. Nun, im November 2020, während der erneuten Zwangspause im Kulturbetrieb, ist es mehr als nur eine erfreuliche Perspektive, dass in den nächsten Jahren die Stadt Chemnitz aufgrund des Status als Kulturhauptstadt 2025 einen weiteren Schub erhalten wird – darauf ist so gut wie Verlass.

An einem ehemaligen riesigen Güterbahnhof ist dieses Museum gut aufgehoben. Wir hatten Glück, dass wir ohne Anmeldung auch eine 150-minütige Führung durchs Museum mitmachen konnten, dank der Just-in-time-Ankunft um 14 Uhr am dritten Oktobersonntag. Man sollte schon gut zu Fuß sein, denn zwischen dem Empfangsgebäude und dem mit Raritäten aus dem Dampfzugzeitalter gefüllten Lokschuppen liegt nicht weniger als ein guter Kilometer.

Seilablaufanlage
Seilablaufanlage im Sächsischen Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf
Ablaufmeister
Blick auf das Pult des Ablaufmeisters (Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf)

Von der Kommandobrücke aus sieht man die Schalt- und Waltzentrale für die Seilablaufanlage. Die dortige Person hieß „Ablaufmeister“ und stand in Kontakt mit dem „Seilwagenwärter“ oben am kaum als solchen erkennbaren Ablaufberg, von wo einzelne Güterwagen ohne Dampf- oder Diesellok an den richtigen Ort gesteuert wurden. Auf diesen kaum sichtbaren „Berg“ war der Blick gelenkt. Für die richtige Weichenstellung sorgte das zuständige Stellwerk, das in unmittelbarer Nähe zum Ablaufmeister bedient wurde. Kaum vorstellbar: Mit Hilfe der Steuerräder für die Seilwagen wurden bis zu 3600 Wagen auf drei Gleispaaren täglich behandelt; vergleichbar mit der heutigen Leistung auf dem Güterbahnhof in Maschen bei Hamburg (tägliche Leistung: bis zu 4000 Wagen).  Es wird deutlich: Hier läuft vieles ab, wobei das ‚ab’ auch als ‚berg-ab’ physisch zu verstehen ist…

Wenn man heute durch die Scheiben auf die teils herausgerissenen Gleise blickt, lässt sich die große logistische Meisterleistung von damals kaum mehr nachvollziehen. Link im Bild sieht man die Hauptstrecke Chemnitz-Dresden, die immerhin elektrifiziert ist. Das trifft auf so manche Hauptstrecke besonders in Süddeutschland immer noch nicht zu. Und der Güterverkehr ist im Vergleich zum Lastkraftwagen auf der Schiene immer noch nicht so richtig in Fahrt gekommen. Man sollte die unterschiedlichen Verkehrsmittel jedoch nicht gegeneinander ausspielen, denn viele Industriegebiete lassen sich einfach besser mit einem Straßenfahrzeug erreichen.

Ganz zufällig entdecke ich im Internet einen Zeit-Artikel vom Jahresende 2019. Der im Vergleich zu anderen Transportmitteln relativ teure Schienengüterverkehr in Deutschland ist, so erfahre ich, seit dem Jahr 2000 immerhin um 40 % gestiegen, obwohl der Anteil am „Gesamtgüterverkehr“ weiterhin nur bei 19% liegt.  Es gebe nach Ansicht der Bundesregierung weitere 40% Wachstumspotenzial zwischen 2010 und 2030. Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Christian Böttge spricht jedoch davon, dass der „Einzelwagenverkehr […] dramatisch in der Krise“ sei. Der Artikel aus dpa-Quellen erläutert genau einen wichtigen Grund dafür, der in der im Sächsischen Eisenbahnmuseum dokumentierten logistischen Leistung dieses Einzelwagenverkehrs liege:

Dabei werden Einzelwaggons beim Kunden abgeholt und in großen Rangierbahnhöfen zu langen Zügen zusammengestellt. Am nächsten Rangierbahnhof werden die Züge dann wieder auseinandergenommen und die einzelnen Waggons weiter zum Ziel transportiert. Das ist aufwendig und derzeit unwirtschaftlich.

Es brauche angeblich „[d]igitale Stellwerke, automatisiertes Fahren, automatische Kupplungen“, also „technische Innovationen“. Es scheint, dass das Sächsische Eisenbahnmuseum in Zukunft diese technischen Innovationen gut wird vermitteln können, weil es auf dem großen Gelände trotz manchen schon umgesetzten Abrissvorhaben  der Deutschen Bahn viel zu sehen gibt. Man sollte nicht in Nostalgie verfallen, sondern auf den Erkenntniswert von Technik- und Industriegeschichte mit all ihren Verwerfungen setzen.


Dank gilt der technischen Auskunft von Dr. Maximilian Claudius Noack bezüglich der Seilablaufanlage. Das Museum hat auf seiner Homepage für jeden Eisenbahnfan viele interessante Infos zu bieten. Passenden Lesestoff bietet auch der erwähnte Zeit-Artikel.

Die Miniatur des Reisens – Über den „Flugsteig“ von Frank Kunert

Dieses Bild verleitet zum Träumen. Eigentlich ist es eine ganz reale Miniatur, die es so in Vergrößerung nicht gibt. Und doch besteht sie aus real wahrnehmbaren Elementen. Das macht das Ganze für den Betrachter so besonders. In einer Ausstellung im Herbst 2019, die im Greizer Sommerpalais stattfand, entdeckte ich die auf Fotopapier festgehaltenen Miniaturen von Frank Kunert, dessen Atelier in Boppard am schönen Mittelrhein liegt. Den „Flugsteig“ habe ich erst auf Kunerts Homepage entdeckt:

Flugsteig
Flugsteig (2002)
© Frank Kunert | www.frank-kunert.de

Fangen wir beim Titel an: „Flugsteig“, meist auch „Gate“ genannt, ist allen ein Begriff, die schon mal geflogen sind. Oft sind es langweilige Bereiche, in denen bis zum Aufruf des Fluges gewartet wird. Wer will, kann abseits davon noch mal schnell shoppen oder sich stärken gehen. Meist sind es schmucklose Bereiche, was auch bei ganz neuen Flughäfen kaum anders ist, wie wir bald am Flughafen Berlin Brandenburg sehen werden.

Elizabeth Clarke fasst Frank Kunerts Ansatz im Bildband „Wunderland“ sehr schön zusammen:

In der Langsamkeit liegt bei Frank Kunerts Arbeitsweise der Schatz verborgen, Ideen zu entwickeln und kreative Wege zu gehen. Das handwerkliche Arbeiten, die lange Zeit am Bau der Miniaturwelten – nicht selten über viele Wochen -, das präzise Lichtsetzen und Fotografieren im Studio machen dies möglich.

Unabhängig von realer Architektur ist die Miniatur „Flugsteig“ ein Verweis auf Reiseträume, die erst einmal mal organisiert werden müssen. Wir brauchen Reiseinformationen, es sei denn, wir brechen einfach planlos auf. Das ist aber meist nicht der Fall.  Fahrpläne und Aushänge stehen als Dokumente dafür. Der Koffer steht als metaphorischer Gegenstand für Reisetätigkeiten. Wartebänke und Geländer stehen wie Chiffren für Raumgrenzen und Zeitrahmen, die bei der Reise offenkundig werden. Ein Steig, egal ob ein Flug- oder ein Wandersteig, ist ohne Begrenzungen links und rechts undenkbar. Auch Zugänge zu den Steigen gehören dazu, genauso wie künstliche Lichtquellen und Behältnisse zur Müllentsorgung. Zu einem Flugsteig hin ist das Bewegungsverhalten vom Eingangsbereich des Flughafens mehr als sonst kanalisiert. Man folgt Korridoren und Sicherheitsschleusen, die erst auf dem Sitzplatz im Flugzeug ein Ende haben.

Beim Fliegen gibt es nicht erst seit diesem Jahr erdrückend viele Bestimmungen, die mit Träumen wenig zu tun haben. Bis wir endlich am Ziel sind, gilt es vieles auszufüllen und zu beachten. Ansonsten kann die jeweilige Fluggesellschaft den Reisenden vom Flug ausschließen. Der Flugsteig gleicht ironischerweise bei Kunert einem schmalen Grat, der recht ungesichert bereits in den Lüften schwebt. Es passt zu meinem Gefühl im Sicherheitsbereich eines Flughafens, in dem ich mich nicht selten unsicher fühle: Dies liegt daran, dass ich mich regelmäßig vergewissern möchte, kein wichtiges Dokument irgendwo liegengelassen zu haben.

Mir wurde zusammen mit meinem Bruder ein Versäumnis einmal fast zum Verhängnis, als ich von einem Flug von Mexico City nach Frankfurt über Washington völlig vergessen hatte, dass selbst für einen bloßen Umstieg ein Visa-Waiver (ESTA-Formular) für die Vereinigten Staaten vor Antritt der Reise auszufüllen ist. Wir konnten dies zum Glück noch am Flughafen in großer Eile nachholen. Im Nachhinein sind die Vorschriften nachvollziehbar: Ein Flughafen ist ein Sicherheitsbereich und braucht strengere Regelungen, unabhängig davon, ob die Einreise in ein Land offiziell erfolgt oder nicht.

Kunerts Miniatur lässt einen auch an Wolkenkuckucksheim denken, das ja auf etwas Fiktionales, Unrealistisches verweist. Reisen sind selbst oft Miniaturen der Einbildung, denn viele Reisende bekommen einen trügerischen, manchmal sogar völlig künstlichen Einblick in ein jeweiliges Land, gerade wenn es sich um eine komplett durchorganisierte Pauschalreise handelt.

Das Wolkige kann aber auch für das Unfassbare stehen, das einen umtreiben kann. Wer hätte im 19. Jahrhundert gedacht, dass man genauso schnell ans andere Ende der Welt fliegen kann als zu Fuß eine Strecke von 100 km zurückzulegen? Das sind Beschleunigungen, die uns im zweifachen Sinne fesseln: Einerseits begeistern sie, andererseits machen sie aber auch von einer sehr aufwändigen Technologie abhängig. Die ganze Logistik rund um einen Flug ist so ausgeklügelt, dass Systemfehler zur Katastrophe führen können. Zum Glück passiert das relativ selten, was darauf hinweist, wie viel wir technisch im 20.Jahrhundert dazugelernt haben.

Kunerts Flugsteig wird allen, die gerne und viel reisen, Gedanken an eigene Reiseerlebnisse schenken. Die Miniatur thematisiert unmissverständlich die Magie, die sich dann ergibt, wenn man Begegnungen eingeht, die das Leben bereichern und die Weltsicht erweitern. Sie werden alle unterschiedlich sein. Es gibt kein normiertes Reisen. Auf jeden Fall sollte das Reisen niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ein Stück Abenteuer bleiben. Die Reiseliteratur ist davon reich gesegnet: Die Ziele, die man im Leben nicht (mehr) erreichen kann, lassen sich zum Glück zwischen Buchdeckeln aufspüren.

Weitere Informationen finden sich auf der Homepage von Frank Kunert, wo auch die aktuellen und zukünftigen Ausstellungen angegeben sind.

Die Inszenierung der Dinge – Über eine Fotografie von Louise te Poele

Stillleben haben auf den ersten Blick nichts Lebhaftes. In den meisten romanischen Sprachen ist bei dieser Genrebezeichnung sogar der Tod präsent, denn eine „nature morte“, wie es im Französischen heißt, verweist auf das Abgestorbene. Es liegt deswegen nahe, diese jahrhundertealte Tradition von Stillleben ein wenig zu dynamisieren und ihr etwas Lebendiges einzuhauchen. Kräftige Farben von Blüten reichen da nicht aus.  Etwas Neuwertiges gehört vielmehr dazu, das geradezu magisch einen „move“ beim Betrachter erzeugt. Die Magie ist dann geschaffen, wenn die Dinge scheinbar in Fahrt kommen bzw. an Fahrt gewinnen.

Die aus Arnhem (Arnheim) stammende Fotografien Louise de Poele schafft dies mit verblüffenden fotografisch festgehaltenen Arrangements, wo Medium und Objekte eine Fusion eingehen. Ich habe den Eindruck, dass das Medium Fotografie diese Arrangements optimal vermittelt, auch wenn digitale Arrangements eigentlich keine Kamera mehr benötigen. Das Phänomen der Belichtung ist jedenfalls etwas, was über das Foto die visuelle Wahrnehmung erweitert und quasi wie in einem Brennglas die Augen schärft. Die Gegenstände sind auf einer flachen Oberfläche gebannt, ohne die dreidimensionale Wirkung zu verlieren.   

In der Orangerie in Gera waren diesen Sommer einige Fotos der niederländischen Künstlerin unweit von Bildern zu sehen, die den magischen Realismus repräsentieren und von Landsleuten der Künstlerin in den letzten gut 100 Jahren gemalt wurden. Insofern war der Ausstellungsbesucher gut vorbereitet und hatte bereits ein geschärftes Auge, denn Louise te Poele aktualisiert das Magische, indem sie Dinge geschickt arrangiert und inszeniert:

Borderlands

Borderlands – © Louise te poele (2019)  

Besonders hat mich die Fotografie „Borderlands“ angesprochen.  Liegt es etwa an den Büchern? Die gesammelten Werke von William Shakespeare auf Niederländisch sind mit der elektronischen Lupe ebenso zu erkennen wie Meisterwerke der Bildenden Künste auf Französisch („Chefs d’Œuvre de l’Art“). Liegt es an den leuchtenden Farben der Blumen, die Lichtglanz zusammen mit den (halb-)transparenten Stoffen verbreiten? Liegt es an der Illusion der irisierenden Seifenblasen, die, wie wir wissen, nur eine sehr kurze Lebensdauer haben? Sind es überhaupt Seifenblasen oder eher doch Glaskugeln, die künstlich ins Bild eingefügt worden sind, ohne dass sie real als Gegenstände fungieren? Wie der ins Dunkel abtauchende florale Fisch am linken Bildrand – hier scheinen sich Flora und Fauna in einem Objekt zu begegnen – ergänzen sie das Arrangement, als ob sie dazugehörten. Den Anblick stört nichts.

Auch die teils drapierten Attrappen von Händen mit ihren Armansätzen sind Elemente von Körpersprache, nämlich von Gestik, und zeugen von etwas zutiefst Menschlichem, obwohl im Arrangement nur indirekte Hinweise auf das Menschsein zu finden sind. Gerade das Stoffliche, Modische, wirkt neben der partiellen Plastikverhüllung von Laborgegenständen – ganz eindeutig gibt sich ein länglicher Messbecher unter dem Gewand erkenntlich – bewusst kontrastiv, ohne verstörend zu sein. Der artifizielle Gegensatz passt hier buchstäblich ins Bild. Ebenso gilt dies für die eindeutigen Referenzen auf klassische Stillleben wie zum Beispiel ein Ei und eine Zitrusfrucht, die scheinbar sich wie von Geisterhand ihrer Schale entledigt, sowie für das zart glimmende Streichholzfeuer, teils auf Türmchen aus Würfelzucker.

Die mittigen Schleifen in den Farben Orange („oranje“ ist unabhängig von den Farben der Flagge die wahrhaftige Landesfarbe in den Niederlanden und erinnert stets an die Oranier) und Schwarz-Rot-Gold verweisen auf das Grenzgebiet zwischen den Niederlanden und Deutschland, ohne dass eine politische Intention sichtbar wird. Man könnte außerdem über die flämische Tradition der Stillleben philosophieren, doch das drängt sich nicht auf. Die teils frischen, teils verblühten Pflanzen erinnern einfach an Arbeiten aus der frühen Neuzeit, die drei weidenden Miniaturkühe an den grenznahen Niederrhein, der auf niederländische Seite durch die Provinz Gelderland fließt.

Der künstlerische Wert liegt auf Übergangsbereichen, die ja auch zur Grenze gehören, denn keine Landesgrenze wäre ohne Grenzübergang denkbar. Louise te Poele erweitert hier die Bedeutung von Grenzgebieten, da jede Wahrnehmung Grenzen braucht und gleichzeitig hinterfragt. Wo wird getrennt, visuell und begrifflich? Wann gilt ein Objekt als solches und wann ist es etwas anderes? Solche Fragen werden in „Borderlands“ wie mit Zauberhand angegangen. Ein Grund, länger über Louise te Poeles zauberhafte Arrangements nachzudenken.

Mehr über Louise te Poele ist auf ihrer Homepage zu entdecken. Der einzige brauchbare, im Internet auffindbare Artikel zu Louise te Poeles Ausstellung in Gera ist in der Thüringer Allgemeinen erschienen.

Der gewirkte Stoff als Wirk-Stoff – Zu Besuch im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna

Museen definieren sich über ihre Ausstellungsstücke. So können wenige Gegenstände vieles plastisch verdeutlichen, was in der Literatur nur schwer darstellbar wäre. Im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna bei Chemnitz wird die Geschichte der regional stark verankerten Textilindustrie anschaulich gemacht. Im August 2020 bekam ich in einer Spezialführung mit Freunden einen sehr guten Einblick. Sonst hätte dieser Notiz-Blog-Artikel nicht entstehen können. Gerade im Jahr 2020, anlässlich der Landesausstellung „Boom“, bei der 500 Jahre Industriekultur in Sachsen aufbereitet werden, ist ein Besuch empfehlenswert. Es zeigt anschaulich, dass Kultur- und Industriegeschichte zusammen gehören.

Die drei folgenden, im Museum vertretenden Gegenstände zeugen von der weitläufigen Geschichte der (Textil-)Industriekultur, die über die Region hinaus von großer Bedeutung ist: Eine Abbildung von Louis de Silvestres opulentem „Allianzporträt“ (das Gemälde befindet sich in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister) zeigt Friedrich I. von Preußen und August II. von Polen, zugleich Kurfürst von Sachsen:

Allianzporträt

Louis de Silvestre (1675-1760): Allianzporträt von König August II. von Polen und Friedrich Wilhelm I. von Preußen (Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, vor 1730)

Friedrich (rechts im Bild) hält nichts von neuster Mode, August (links im Bild) inszeniert sie geschickt und trägt sichtbar Seidenstrümpfe, auf die es im Museumskontext ankommt. Modisch sahen sicher beide Herrscher im Zeitalter der Manufaktur-Produktion aus, die heute wieder mehr geschätzt wird, nicht erst, seitdem es gewisse Läden mit dem Namen „Manufaktur“ gibt….

Johann Esche (1682- 1752), Strumpfwirker und Stuhlmacher im Rittergutsdorf Limbach unter Antonius III. von Schönberg und dessen Sohn Georg Anton, entdeckte nach einer Legende in Dresden den wohl einzigen seidengängigen Strumpfwirkstuhl in Sachsen. In Frankreich waren die Könige mit gewirkten Seidenstrümpfen vor der Revolution bestens bedient; Seidenstrümpfe galten im wahrsten Sinne des Wortes als vorzeigbar. Nach der Revolution waren diese genau wie die Kniebundhosen („culottes“) out, so dass darauf spezialisierte Firmen ihr Geschäft umstellen mussten. Bestehen blieb die Kulturtechnik des Wirkens bzw. Kulierens, gerade für Unterwäsche besser geeignet ist als traditionelle Web- und Stricktechnik:

Handkulierstuhl
Handkulierstuhl (ca. 1800) im Esche-Museum (Foto: Dietmar Träupmann)

„Wirken ist eine Fortentwicklung des Strickens. Es werden statt einer Masche nach der anderen eine ganze Maschenreihe in einem Arbeitsschritt gebildet“, erläutert Museumsleiterin Frau Dr. Barbara Wiegand-Stempel. Hier kommt mir der immer noch geläufige Ausdruck „engmaschig“ in den Sinn. Das Esche-Museum dokumentiert eindrucksvoll, wie bis zum Ende der DDR Wirkstühle sich technisch entwickelten. Die Familie Esche hat bis zum Ende des 2. Weltkriegs großen Anteil daran; im 19. Jahrhundert existierten sogar zwei Esche-Firmen von zwei Geschwistern, von denen die größere, die Firma Moritz Samuel Esche, es bald nach Chemnitz zog und zum größten Strumpfhersteller Deutschland avancierte. In Limbach wurde die erste „Wirkschule“ überhaupt vom Gewerbeverein Limbach gegründet, woran auch die Familie Esche beteiligt war. Die Schule wurde von mehr als 100 Fabrikanten, Kaufleuten und Handwerken, die in einem „Strumpfwirker-Fachverein“ organisiert waren, finanziert.

Der prominenteste Unternehmer aus der Familie war zweifelsohne Herbert Eugen Esche, der 1903-1904 von Henry van de Velde die erst ab 1998 wieder restaurierte Villa Esche in Chemnitz erbauen ließ. Architektur-Fans kommen hier auf ihre Kosten – van de Veldes erster Bau in Deutschland ist zum Glück nicht den Bombenangriffen von 1945 zum Opfer gefallen. Wie vielseitig Ästhetik damals geschätzt wurde, zeigt sich daran, dass van de Velde mehrere Firmenlogos entwerfen und Edvard Munch 1905 in der Villa Esche künstlerisch arbeiten durfte und dabei nicht nur die Familie Esche porträtierte. Man kann davon ausgehen, dass die Familie Esche mit diesen prominenten Künstlern nicht prahlen wollte, sondern künstlerisches Engagement einfach zu ihrem Selbstverständnis gehörte. 
Nach 1945 flüchteten viele Familienmitglieder ins Ausland, obwohl das Unternehmen nicht verstaatlicht wurde. Herbert Eugen Esche ging in die Schweiz, wo er häufiger auf van de Velde traf. Er sah seine Chemnitzer Villa nie wieder. Die Textilindustrie in West- und Mittelsachsen führten nun andere (Staats-) Unternehmen an.  Noch heute ist unter anderem die Firma Noon in Limbach-Oberfrohna präsent, die mit dem Slogan „Fine German Knitting“ wirbt. Die Logik, dass Textilien in sogenannten Billiglohnländern hergestellt müssen, damit sie erschwinglich bleiben, kann somit widerlegt werden. Gebrauchswäsche darf nicht als minderwertig vermarktet werden, scheint es.

Ein Firmenplakat zeigt sehr schön die Fabrikation von Handschuhen mit all ihren Arbeitsschritten.

Die Fabrikation von Ukor - Handschuhen
Die Fabrikation von
„Ukas“- Handschuhen der Firma C.A. Kühnert (Foto: Dietmar Träupmann)

Mir kommt dabei der Begriff „Betriebsablauf“ in den Sinn, den wir heute eher vom Bahnfahren kennen, wenn es hier zu Verzögerungen kommt.  Jedenfalls sind ganz oben nach der „Spulerei“ die „Schärerei“, „Spannerei“ und auch die „Wirkerei“ zu sehen. Die vielen Arbeitsschritte belegen auch schön, wie wertvoll ein qualitatives Paar Handschuhe sein muss. Man schätzt dann den Gegenstand umso mehr, wenn man weiß, wie viel Arbeit dahintersteckt. Die heutige Massenproduktion verschleiert dies, gerade auch, weil ein gewöhnlicher Kunde kaum Einblick in heutige Fabrikationen erhält. Schließlich erlaubt sich die Frage: Warum sollte nicht auch Mode zu den Schönen Künsten gehörten? Kleider machen Leute (bekanntlich schön).

Vielen Dank an das Esche-Museum Limbach-Oberfrohna, vor allem an Frau Irmgard Eberth, Herrn Michael Nestripke, an die Leiterin Frau Dr. Barbara Wiegand-Stempel sowie an die Ratsschulbibliothek Zwickau für die Auskünfte und die Bereitstellung der benötigten Medien. Der „Förderverein Esche-Museum e.V.” hat dazu weitere wissenswerte Details im Internet aufbereitet.


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