Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Autor: Thomas Edeling Seite 1 von 12

Genießer und Entdecker kleinerer und größerer unbekannter Gefilde. Vom Südrand des Ruhrgebiets stammend, aus dem Essener Süden, wo landschaftliche Reize und Industriekultur gleichermaßen in der Nähe sind. Im beruflichen Alltag Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. In der Freizeit gerne auf dem Rad, auf Langlauf-Skiern, auf der Vespa oder zu Fuß unterwegs.

Affäre mit Überlänge – Über ein übelriechendes Politikum

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Ohne das Dresdner Hygiene-Museum hätte ich wohl nie von dieser Affäre gehört, die mindestens ein Jahrzehnt lang ab 1976 bestimmte Bürger, die am ehemaligen Eisernen Vorhang wohnten, etwas anbelangte. In der Sonderausstellung Luft. Eine für alle ist nämlich ein Schreiben vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl an den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Husák einzusehen, aus dem hervorgeht, dass die Affäre hochaufgehängt werden musste, als die Sorge um das Gemeinwohl einen klar ökologischen Anstrich erhielt. Unilateral ließ sich diese Sorge nicht aus der Welt schaffen.

Die sogenannte Katzendreckgestank-Affäre, bei der es konkret um die grenzüberschreitende, gesundheitsgefährdende Belastung durch Schwefeldioxid aus der Tschechoslowakei und der DDR ging, ist aber auch ein gutes Beispiel, wie bürgerschaftliches Engagement politische Vorgänge in Gang setzen kann. Ohne Medien und Presse – damals komplett offline – hätte es viel länger gebraucht, bis fernab in Bonn und Prag sowie in Ost-Berlin Politiker gehandelt hätten. Es dauerte bis zum Jahre 1987, bis ein bilaterales Umweltabkommen mit der Tschechoslowakei verabschiedet werden konnte. Mit der „deutsch-deutschen Geruchsbekämpfung“ ging es indes nicht schneller voran, wie der hervorragende Artikel von Bodo Mrozek und Doubravka Olšáková zu dieser Affäre beschreibt. 1989 schienen dann zumindest teilweise mit Fall des Eisernen Vorhangs diese grenzüberschreitenden Konflikte wie weggeblasen.

Dass die Benennung der Affäre einem Zitat eines Bürgers in einer Diskussionssendung des Bayrischen Rundfunks („Jetzt red‘ i“)  zu verdanken ist, zeigt, dass kein investigativer Journalist etwas Anstößiges entlarvt hätte, wie es ja sonst oft bei Affären der Fall ist. Wie stark hier im Laufe der 1980er Jahre der wachsende Einfluss der Grünen (im Bundestag) mitentscheidend war, müsste man sicher separat untersuchen. Dass er vorhanden war, wird im Artikel deutlich, als noch einmal vom Begriff die Rede war:

Unter dem verniedlichenden Label „Katzendreck“ ließen sich Umweltprobleme ansprechen, ohne allzu sehr an Reizthemen der Grünen anzuschließen. Erst in den 1980er Jahren wurde das sensorische Problem zunehmend dem Abstraktum Umwelt zugerechnet, das sich etwa zeitgleich als Feld nationaler und internationaler Politik ausdifferenzierte und etablierte. Zuvor hatten alle Seiten das Thema Umwelt im Kontext des Kalten Kriegs oft absichtsvoll exterritorialisiert.

Interessant ist, dass das Thema Geruchsbelästigung hier sicher anders verhandelt wurde als in den Jahrzehnten zuvor im Ruhrgebiet. Dieses wird im Artikel nur am Rande erwähnt, weil vor allem durch das Schließen von Zechen und sicher auch durch technologischen Fortschritt die Geruchsbelästigung recht geräuschlos bis zu den 90er Jahren deutlich verringert werden konnte.

Als ich mich nämlich mit meinen Eltern im Juli 1990 Wernigerode besuchte, dachte ich, ich würde mich in einer anderen Geruchswelt befinden. Die Luft dort war völlig anders als die im nur wenige Kilometer entfernt gelegenen niedersächsischen Bad Harzburg, und auch im Ruhrgebiet zu jener Zeit. Es war, als ob die Luft sich auch an damals sich auflösende politische Grenzen gehalten hätte, was natürlich nicht stimmen kann. Und doch hängt die Wahrnehmung sehr stark von der lokalen Konzentration bestimmter Schadstoffe in der Luft ab.

Eine aktive Umweltpolitik ergibt nur dann Sinn, wenn sie länderübergreifend gesteuert wird. EU-Umweltrichtlinien und internationale Klimaschutzabkommen haben sicher dazu beigetragen, dass mühsame bilaterale Beratungen und Verhandlungen heute multilateral erfolgversprechender sind. Und doch stellt sich die Frage, ob nicht andere Erdteile für unsere ökologischen Anstrengungen indirekt herhalten müssen (Stichwort: Müllexporte). Hierzu gibt es eine detaillierte Berichterstattung der TU Dresden.

Wie gut, dass wir in unseren Breiten uns über sauberere Luft freuen können. Die zunehmende Zahl von Elektrofahrzeugen und strenge Abgasvorschriften sind ein Segen für die Gesellschaft, die gerade am Wochenende daraus einen hohen Nutzen zieht. Es ist wirklich selten geworden, sich über Geruchsbelästigungen zu beklagen. Zigarettenrauch hat sich ja auch quasi in (saubere) Luft aufgelöst. Doch wenn gerade im Sommer oder an windstillen Tagen allgemein über Feinstaubbelastung gesprochen wird, dann wird klar, dass im 21. Jahrhundert die Luft geruchsärmer, jedoch nicht an allen Orten gleichmäßig gut ist, wie man an Messdaten des Umweltbundesamtes erkennen kann. Und wie wir alle wissen, ist Klimaschutz eines der wichtigsten politischen (Kampf-)Begriffe geworden. Die Katzendreckgestank-Affäre hat bewiesen, dass ein langer Atem nötig ist, um komplexe Sachverhalte erst einmal näher zu bestimmen, ihre Ursachen und Symptome ausfindig zu machen und dann an der Verbesserung der Situation zu arbeiten. Es ist eine Fallstudie, mit der konkret Geschichte geschrieben wurde, ohne dass es ein prägendes Ereignis gegeben hätte.

Der erwähnte Artikel Die Katzendreckgestank-Affäre. Grenzüberschreitende Geruchskonflikte zwischen der Bundesrepublik, der ČSSR und der DDR 1976 bis 1989, ist 2023 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (de Gruyter Verlag, Band 71) erschienen. Das längere Zitat steht auf Seite 347.

Der Ja-Impuls bei der Lufthansa

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„Jede Geschichte beginnt mit einem Yes.“ Mit diesem Slogan thematisiert die Lufthansa sehr schön Storytelling, das wohl jedes Traditionsunternehmen gewinnbringend einsetzen kann.  Das Filmmaterial– alles andere als ein aalglattes Imagevideo – konnte ich sogar für eine Klausur in diesem Wintersemester verwenden.

Es werden die Abenteurer, die Romantiker, die Sportler, die Künstler und auch Kinder in familiärer Obhut in zweieinhalb Minuten angesprochen. Ohne Kitsch, weil eben nicht das Dauer-Lachen von Fahrgästen gezeigt wird, sondern Entscheidungsmomente oder nervenaufreibende Augenblicke.   Das „Ja“ wird als Zustimmung muss nicht unbedingt positive Emotionen auslösen, gerade wenn es um das Loslassen, den „Neustart“ geht, und zwar nicht nur auf Beziehungsebene. Die Bejahung eines Schritts zeugt von einem gewissen Handlungswillen. Und genau da kann eine Fluggesellschaft ansetzen. Die meisten Reisen finden in unseren Breiten freiwillig statt. Und nach dem Ende der Covid-Pandemie ist die Reiselust (wieder) ungebrochen, auch um Verpasstes nachzuholen. Doch gibt es globalisierungskritische Tendenzen, die dem Flugverkehr nicht in die Karten spielen. Insofern setzt der Film auch klare Zeichen: Es wird mit wenigen Worten auf Deutsch und Englisch (mit deutschen Untertiteln) das Wörtchen „Ja“ / „Yes“ in den Vordergrund gestellt, und zu diesem Ja-Sagen gesellt sich nicht selten eine Reiseaktivität.

Besonders ist, dass in diesem Film keine Geschichte so richtig erzählt, sondern eher angedeutet wird. Auch wird kein Inhalt stark personifiziert, was im Zeitalter des Influencer-Marketing bemerkenswert ist. Statt Personennamen werden die Codes von Sitzplätzen einzelnen handelnden Personen zugordnet, was auch ein geschickter Schachzug ist: Denn gerade im Kontext eines Flugs bleiben eher bestimmte Typen in Erinnerung und weniger das Individuum mit seiner eigenen Geschichte.

Die Klammer in diesem Unternehmensfilm bilden zwei Fahrgäste, die in Comic-Form die Storyline erstellen. Sie werden auch als Erzähler eingesetzt und am Schluss gezeigt:

Lufthansa-Unternehmensfilm
Kreative Storyline im Content-Marketing-Film der Lufthansa (Screenshot bei 2min16sek)

Die Beschreibung wird also medial auf zwei unterschiedlichen Kanälen vorgenommen: Einmal in Form einzelner, sehr kurzer Videosequenzen, und einmal in aufgezeichneter Form auf Papier.

Der Sitz 10 A steht für den Sprung in die filmisch-literarische Kunstwelt, von der zu Anfang des Films die Rede war, als die auf diesen Sitz gebuchte Passagierin im Flugzeug zu einem Casting (oder einem Vorstellungsgespräch) anreiste. Auf der Homepage, unterhalb des eingebetteten Youtube-Videos,  heißt es dazu:

Die Welt, meine Bühne. Yes! (…) Ob Sie selbst von den Brettern, die die Welt bedeuten, träumen oder auf den Spuren filmischer Legenden wandeln möchten: Machen Sie sich startklar – die ganze Welt ist Ihre Bühne.

Mit einem Klick auf den Button „Zum Film. Yes“ werden dazu passende Reiseziele vorgeschlagen: Dubrovnik, Boston, Tunis, Oslo, London, Malta. Bühnenreife Orte also, zum Beispiel: „Kaum eine Stadt ist so sehr mit berühmten Fantasy-Serien verbunden wie Dubrovnik.“

Der klassische Städtetourismus wird hier nicht mit realen Sehenswürdigkeiten beworben, sondern mit der Kulissenhaftigkeit, derer sich die Filmindustrie bedient. Man soll also die Orte aufsuchen, die bereits in einem fiktionalen Produkt enthalten sind. Die vor Ort gelebte Kultur mit all ihren Besonderheiten erscheint weniger relevant als der Rahmen, der für mehr Emotionen sorgen kann als die Essenz des Reiseziels, die gerade bei Kurztrips sowieso kaum erspürt werden kann. Es geht mehr um die persönliche „Storyline“ des Reisenden, die auf Social-Media-Kanälen über geschickt gepostete Bilder auch gut dargestellt werden kann.

Der Film ist zusammen mit dem Textmaterial ein hervorragendes Beispiel für Reisemotivationen des 21. Jahrhunderts. Die Flugziele sind natürlich konkret, doch bewusst vage gehalten sind Personen und Orte. Zuschreibungen zu Personen und Orten füllen die Fantasie des potenziellen Fluggastes.   

Wer wird bei dieser Auswahl nicht mindestens ein Ziel finden, an welches man gerne einmal mit einem Lufthansa-Flug schweifen möchte?

Der Film lässt sich hier anschauen.  

Mischbatterie  Jazz – Über eine „Episode“ von Manfred Schmitz

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Es gibt Fragen, die sich einfach nicht beantworten lassen, aber trotzdem sinnvoll artikuliert werden können. Zum Beispiel: Wer spielte wo in den 1980er Jahren einige der 22 Stücke, die der an der Weimarer Musikhochschule lehrende Klavierpädagoge Manfred Schmitz (1939 – 2014) im Deutschen Verlag für Musik Leipzig um 1984 unter dem Titel Romantisches Intermezzo veröffentlichte?

Etwas irreführend ist der Titel schon, denn in engerem Sinne ist nur ein Stück als solches bezeichnet. Der Singular verweist in der Welt der Musik auf ein kurzes Zwischenspiel; außerhalb der Musik könnte man bei einem Intermezzo auch von einem Zwischenfall sprechen, der Heiterkeit auf sich gezogen hätte.

Für eine Stückesammlung klingt es jedoch überzeugend: Denn der Geist der Kompositionen (u.a. ist ein Lullaby, eine Berceuse und eine Barcarole enthalten) speist sich aus romantischen Vorstellungen, Ideen, Gedanken etc.; und bei einem Intermezzo kann man ja auch an den Zeitraum denken, in dem das eine oder andere Stück vorgetragen wird.

Ein Stück aus der Sammlung, das ich neulich vorspielen durfte, heißt Episode, was sich ebenfalls als Zwischenspiel bezeichnen lässt. Insofern erfüllt es ganz und gar den Gedanken eines Intermezzos. Faszinierend ist, wie Manfred Schmitz besonders in diesem kurzen Stück dem Klavierschüler die Klangwelt des Jazz näherzubringen wusste. Anschaulich mag dies durch das Notenbild erscheinen:

Auszug aus "Episode", aus: "Romantisches Intermezzo" von Manfred Schmitz
Takte 9 – 21 des Stücks Episode, aus: Romantisches Intermezzo (22 Stücke für Klavier), Deutscher Verlag für Musik Komponist: Manfred Schmitz

Mir geht es um letzten sechs Takte des Stücks. Heutzutage sind die darin enthaltenen Akkorde kein großes Kino mehr; man würde sie leicht überhören, weil wir in der Öffentlichkeit mit ihnen vertraut sind. Doch in einem Land wie der DDR, wo die immer stärker Jazzszene toleriert wurde, doch auch mit Hindernissen zu kämpfen hatte, müssen diese Klänge außergewöhnlich wahrgenommen worden sein, gerade wenn man die Klangwelt eines Klaviers näher kennenlernen wollte. Jeder Akkord in diesen sechs Takten ist von solcher Schönheit, dass man jeden einzelnen wiederholt anschlagen und sich dabei ein Stimmungsbild ausmalen könnte. Auf mich wirken die Harmonien, die unklaren Charakters sind, in ihrer Zusammen-stellung verzaubernd, auch weil sie nicht abstrakt oder verkopft aufgenommen werden. Die Spielanweisung dolce zeigt, dass man die Töne gleichzeitig laut und möglichst zart anschlagen soll. Zusammen mit dem geforderten Tempo rubato (88 Viertel-Schläge pro Minute) bedeutet dies ein gewisses Auskosten der Töne, also eine gewisse Verlängerung leicht akzentuierter Viertelnoten aus interpretatorischen Gründen, wobei dann zum Ausgleich einzelne weitere Noten auch verkürzt gespielt werden sollten, um das Tempo insgesamt nicht zu verschleppen.

Auch hier passt wiederum der Intermezzo-Gedanke, da es auf das Dazwischen der Akkorde ankommt. Mein Jazzklavier-Lehrer sprach kurzerhand von „zwischengeschlechtlichen“ Akkorden, eben weil sie nicht glasklar einer Harmonie zugeordnet werden können und zwei Harmonien (eine in der linken und eine in der rechten Hand) verknüpft werden. Der erste Akkord in Takt 16 verbindet einen G-Dur-Septakkord mit einem A-Moll-Septakkord. Und wenn Dur und Moll zeitgleich aufeinanderprallen, dann vermischt sich die Klangpalette so sehr, dass man in einer Art Gefühls-Zwischenraum verharrt, in der die Unklarheit zum Ausdruck kommt. Gleichsam wie in einer Episode, die merkwürdig ohne eindeutiges Fazit, also ohne: „Lange Rede  – kurzer Sinn!“ in Erinnerung bleibt.

Manfred Schmitz muss ein sehr interessanter Klavierpädagoge gewesen sein. Wenn ich das Romantische Intermezzo Anfang der 90er Jahre erhalten hätte, dann hätte ich wohl noch länger Klavier geübt. Und ich hätte gelernt, dass jazzige Elemente auch Teil eines romantischen Musik-Universums sein können und eine Trennung zwischen Jazz und Klassik wenig Sinn ergibt.

In diesem Sinne ist Romantisches Intermezzo eine wunderbare Entdeckungsreise für das Gehör, während sich gewisse technische Fähigkeiten nebenbei entwickeln lassen. Pädagogisch äußerst reizvoll, auch noch im 21. Jahrhundert!

Hintergrundinformationen zur DDR-Jazzszene gibt es auf einer mdr-Seite. Bei Breitkopf und Härtel kann man die Stückesammlung bestellen. Eine Interpretation der Episode von Juliane Steinwachs-Zeil gibt es hier. You-Tube-Video Näheres zu Manfred Schmitz gibt es in der Neuen Musikzeitung.

Unwägbare Melancholie – Gedanken zu zwei Songs über eine hohe Regen-wahrscheinlichkeit

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Auf der Rückfahrt von einem sonnigen Winterspaziergang im Erzgebirge hörte ich im Autoradio das Lied Regenwahrscheinlichkeit 100% von Michel van Dyke, der schon fast 40 Jahre im Musikgeschäft tätig ist. Als Teenager kam er aus den Niederlanden nach Deutschland, wo er sich dann auch niederließ. Von ihm hatte ich noch etwas gehörteindeutig ein Versäumnis.  Sein Album Bossa Nova, bereits 2005 veröffentlicht, verrät das Genre dieses Liedes, das vom Text her nicht besonders leicht verständlich ist:

„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen muss“ als letzte Liedzeile bleibt neben dem Titel im Kopf. Die Melancholie des Liedes kann nur eine alles andere als romantische Stimmung widerspiegeln: „seltsam vertraut“, „irgendwie diffus“ sind Zuschreibungen, die eindeutig Ambivalenz ausdrücken.  Nähe und Distanz halten sich die Waage.  Immerhin hat die Liebesbeziehung, von der die Rede ist, eine tiefe Krise überstanden. Ob sie ein gutes Ende nehmen wird, bleibt natürlich offen. Die 100% drücken definitiv eine gewisse Sicherheit aus, was die Prognose anbetrifft. Mit anderen Worten: Vollkommen uneindeutig ist die Stimmung nicht.

Das vom Grafikdesigner mit dem Künstlernamen geboren thielsch gestaltete Album (ab den späten 90er Jahren bekannt unter dem Namen Walter Welke; davor unter Walter Thielsch) kann man jedenfalls ironisch betrachten, da auf dem Cover nichts auf Regenwahrscheinlichkeit hinweist. Auch hier halten sich das Artifizielle und das Natürliche die Waage: Das Motiv zog mich sofort in den Bann, auch weil das auf den ersten Blick außergewöhnliche Landschaftsmotiv, das ein bürgerlich eingerichtetes Wohnzimmer als Ausblick zu bieten hat, als starker Kontrast zum Interieur wirkt.  

Michel van Dyke: Bossa Nova
Albumcover von “Bossa Nova”, gestaltet von geboren thielsch; Interpret: Michel van Dyke

Es wird explizit auf der Internetseite des 2011 verstorbenen Grafikers auf den „Sound  der Sechziger“ verwiesen, der kreativ neu aufgesetzt wird. Man hat den Eindruck, dass hier ein digitales Hörerlebnis nicht ausreicht, sondern die Hardware, also das Album als Produkt zum besseren Einhören einfach dazugehört.  Ganz ohne (mentale) Bilder kommt diese feinfühlige Musik jedenfalls nicht aus.

Bei Bossa Nova als seit den 1960er Jahren verbreitetem brasilianischen Tanz, gekoppelt mit einem deutschsprachigen Text, empfiehlt sich ein genaueres Zuhören. Der 4/4 Takt (oder handelt es sich um eine andere Taktart?) wirkt schleppend, dazu dieser sperrige Titel, den man ansonsten nur von Wettervorhersagen kennt, mit der Betonung auf den Silben „re“, „schein“, „Hun“ und „zent“.

Zum Vergleich hat die mit Jan Josef Liefers liierte Schauspielerin und Sängerin Anna Loos 2023 einen Disko-Fox-Song mit dem Titel Regenwahrscheinlichkeit in ihrem Album Das Leben ist schön veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Loos van Dykes Song kennt, da dieser mit ihrem Ehemann zusammengearbeitet hat. Der Song ist recht konventionell komponiert, wobei der Inhalt ebenfalls auf den dunklen Kontext der Liebesbeziehung abzielt, dessen Botschaft im Refrain recht klar ist:

Wir haben uns verlaufen / Sind nass bis auf die Haut / An all den dunklen Tagen / Wächst die Regenwahrscheinlichkeit.

Selbst wenn dunkle Wolken aufziehen/ und uns das Wasser bis zum Hals steht / Dann soll es so sein /Es geht schon wieder vorbei / mit der Regenwahrscheinlichkeit.

Die erlebte und gefühlte Distanz zueinander soll überwunden und schließlich die „Wolkenwand“ durchbrochen werden. Die letzte Refrainzeile kann mich jedoch nicht überzeugen: Warum und wie sollte eine Regenwahrscheinlichkeit vorbei gehen? Wie kann ein Phänomen auf 0% gedrückt werden?

Allgemein freut es mich, dass Regenwahrscheinlichkeit als Begriff im Zeitalter von häufig abgerufenen Wetterradardaten Hitpotenzial hat. Oft ist auch die Wetterküche unvorhersehbar; und Regen kann nicht per se als negativ interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne in naher Zukunft wieder scheinen wird, liegt jedenfalls auch bei 100%.

Übrigens lohnt sich auch der Song Neu in dieser Stadt aus van Dykes Album. Hier wird mit einem eingängig komponierten Soundteppich die Melancholie auch ohne Präsenz des Textes vergegenwärtigt. Das Album ist in geringen Stückzahlen gebraucht auf verschiedenen Plattformen erhältlich, z.B. auf rebuy.

Das verborgene Netz-Werk: Über ein Gemälde von Remedios Varo

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Den Namen der spanischen Künstlerin Remedios Varo (1908-1963) werde ich bestimmt nicht mehr vergessen. „Remedios“ – Heilmittel – als Vorname, und dann noch im Plural!  Das erscheint einzigartig, gerade wenn er von Geburt an vorlag.

Auf einem Streifzug durch die Ausstellung Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne Ende Januar 2023, die im Potsdamer Museum Barberini gezeigt wurde, blieb mir unter anderen das Ölgemälde Tres destinos (Drei Schicksale) im Kopf. Varo malte es Mitte der 1950er Jahre und zeigt darin ihre Meisterschaft, die mich mehr anspricht als die eines Salvatore Dalí oder eines Max Ernst.

Tres destinos: Remedios Varo (1956)
Remedios Varo: Tres destinos (Drei Schicksale), 1956, Öl auf Masonit, Privatsammlung.

Im Ausstellungkatalog ist zu Remedios Varo besonders der Artikel „Okkulte Bildwelten. Leonora Carrington und Remedios Varo“ von Victoria Ferentinou auf den Seiten 215-237 lesenswert. Zum Gemälde Drei Schicksale,  auf der Seite 227 abgebildet, heißt es auf der Seite 219:

Im Vordergrund stehen drei hohe Türme mit spitz zulaufenden Dächern, die von mönchartigen Gestalten in weiten grünen Gewändern bewohnt werden. Während die Figuren in ihre spirituelle Arbeit versunken sind und vollkommen isoliert voneinander scheinen, symbolisieren transparent leuchtende Seile ihre kosmische Verbundenheit und deuten darauf hin, dass sich „ihre Lebenswege eines Tages kreuzen werden“, wie Varo selbst zu ihrem Bild vermerkte. Indem die Seile mit einem strahlenden Himmelskörper verbunden sind, weist die Ikonographie auf die Ambivalenz zwischen freiem Willen und göttlicher Vorsehung hin und greift zugleich den Gedanken einer Analogie zwischen Mensch und Universum, Mikro- und Makrokosmos auf.

Der bei Varo zu entdeckende Okkultismus „als eine Art Geheimwissenschaft, die sich mit vermeintlich übernatürlichen Kräften und Phänomenen befasst und eng mit dem Glauben an die Magie verbunden ist“ sowie die Magie als „eine Praxis, die darauf abzielt, übernatürliche Kräfte für menschliche Zwecke dienlich zu machen“ stehen mir eigentlich nicht nah. Mir scheint, dass es vor allem das Motiv ist, das mich in den Bann zog. Diese drei Schicksale, auf der Leinwand festgehalten, sind durch ein feines Netz-Werk miteinander verknüpft. Was in der Wirklichkeit oft als Netzwerk recht pauschal bezeichnet wird, erscheint hier auf unglaubliche Weise plastisch. Wir können nicht ergründen, was die drei abgebildeten Personen inhaltlich verbindet, doch es reicht, wenn Nähe und Distanz eine merkwürdige Symbiose eingehen: Einerseits diese Isolierung in den drei Hütten, andererseits das Zusammenspiel über das Gewebe. Der altmeistliche Farbauftrag  lässt nicht automatisch an das 20. Jahrhundert denken, ebensowenig wie die drei Figuren, die alles andere als flüchtig dargestellt sind. Geometrische Strukturen zeigen eine Welt zeitloser Präzisionsarbeit; und auch die Vorgänge in den drei Türmen lassen ein Zeugnis der geistigen Sammlung erkennen. Eine Feder, ein Pinsel und ein Glas sind als Werkzeuge sichtbar; schreiben, zeichnen, sinnieren sind meine Assoziationen zu diesen Objekten. Es entsteht vor dem inneren Auge ein Ruhepol, das zu kontemplativem Betrachten einlädt. Die Seile bilden einen Mechanismus ab, der keinen rationalen Erwägungen folgt und deswegen umso mehr faszinieren kann, ebenso wie eine Apparatur, die man nicht ganz in ihrer Funktionsweise durchschauen kann. Insofern kann jeder Betrachter hier auch über nicht vollständig erklärbare Vorgänge aus der realen Lebenswelt nachdenken.  Er fügt seine Erfahrungen als Bewohner ein, die auch von merkwürdigen Beziehungen zu anderen Menschen zeugen. Was verbindet Stadt-Menschen? Irgendein Werk, bei dem wir auf das Wirken anderer angewiesen sind, lässt eine Trennung zu anderen durch Mauerwerk weniger rigide erscheinen. Es lässt sich oft nicht genau ergründen, wer an einem bestimmten Ergebnis mitgewirkt hat, da die zuvor stattgefundenen Vorgänge nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So wie ein Ergebnis eigentlich mehrere Ergebnisse umfassen, besteht ein Vorgang aus Vorgängen. Das Ganzheitliche lässt sich nur mit dem Partiellen herleiten – so wie drei Schicksale an einem Strang, ausgehend von einer höheren Macht, ziehen (müssen).  

Die kurzen Zitate zu Magie und Okkultismus habe ich dem Glossar von Helen Bremm im Ausstellungkatalog entnommen, der im Prestel Verlag erschienen ist (auch eine englische Ausgabe liegt vor, da die Peggy Guggenheim Collection auch an der Ausstellung beteiligt war).

Immobilie ohne Mobiliar – Die renovierte Villa Grossmann in Ostrava

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Am Rande eines Erasmus+ – Aufenthaltes besuchte ich Anfang November die im April 2024 für Besucher eröffnete Vila Grossmann an einer wichtigen Ausfallstraße in Ostrava. Nur ein aufmerksamer Blick auf Google Maps verriet mir von deren Existenz:

 

Vila Grossmann
Außenansicht der Villa Grossmann im November 2024

Ganz allein wurde ich durch das imposante, von 1922 bis 1924 erbaute Gebäude geführt. Dort erzählte man mir, dass ich der erste Besucher sei, der sich für eine Führung auf Deutsch interessiere. Da ich nur drei Tage im Voraus die Führung gebucht hatte, schien das freundliche Personal nicht auf diese Herausforderung vorbereitet gewesen zu sein. Jedenfalls war die knapp sehr interessante 60-minütige Führung in zwei sprachliche Abschnitte aufgeteilt: Während der ersten Hälfte versuchte ich, die Erläuterungen in langsam vorgetragenem Tschechisch (inklusive mir eher vertrauten slowakischen Einsprengseln) zu verstehen, die zweite Hälfte spielte sich dann auf Deutsch ab, das den Mitarbeiter nicht allzu sehr herauszufordern schien (Vielleicht merkte er auch, dass ich ihn nicht mit Detailfragen herausfordern wollte…).

Die Führung war fast zu Ende, als ich das tragische Ende von František Grossmann erfuhr. Er nahm sich durch einströmendes Gas im November 1933 in seiner eigenen Villa das Leben, als sein Bauunternehmen infolge einer Wirtschaftskrise überschuldet war. Seine Frau wollte im gleichen Zug Selbstmord begehen, doch das misslang, da sie im Krankenhaus wiederbelebt werden konnte. Ich meine verstanden zu haben, dass sie einen weiteren Selbstmordversuch (ebenfalls vor Ort) nicht überlebte. Ganz genau will und muss ich dies auch nicht wissen. Das Jahr 1933 muss ein tragisches Jahr gewesen sein, denn diese Aktion war sicher vorbereitet worden. So konnte ich die Vila Grossmann trotz ihrer Pracht nur betrübt verlassen.

Es gibt wohl (noch) keinen im Internet zugänglichen längeren Artikel zur Villa Grossmann in deutscher Sprache. Dieser Informationsmangel sollte von einem Architekturkenner in den nächsten Jahren behoben werden, gerade auch weil František Grossmann in seiner Doppelrolle als tschechischer Bauherr und Architekt noch einige andere interessante Bauwerke vor Ort entwarf, unter anderem das Wasserwerk, das an der gleichen Ausfallstraße wie sein Wohnhaus liegt. Außerdem ist die Villa mit einem repräsentativen Bürogebäude nebenan verbunden gewesen, das leider aufgrund von Privatbesitz nicht mit in die Renovierung einbezogen werden konnte.  

Die Recherchen zeigen, dass eine tschechische Webseite, die drei Lost Places in Ostrava dokumentierte, auch auf den Zustand der Villa vor der Renovierung explizit hinwies. Die Fotos belegen den tristen Zustand vor 2021.  Lange war die Villa im Besitz von Unternehmern, bis sie in den 1960er Jahren in städtischem Besitz zum Kindergarten umfunktioniert wurde. Seit 2005, also mehr als 15 Jahre, stand das Haus leer. Drei Jahre Rekonstruktion kosteten die Stadt umgerechnet mehr als 5 Millionen Euro. Das ist vergleichbar mit einem Neubau von zwei Wohnhäusern in einer mittleren Preislage irgendwo in Deutschland (z.B. in Chemnitz).

Eine tschechische Webseite, die sich auf regionale Bauprojekte spezialisiert hat, zeigt die Schönheit des restaurierten Zustands, vor allem die vielen dekorativen Elemente, die sicher auch für Kunsthistoriker interessant ist. Ein Mikrokosmos, der noch vollkommen unmöbliert ist. Das wird sich in der Zukunft womöglich ändern.  

Ich bin gespannt, welche Online-Artikel in den nächsten Jahren auf Deutsch, Englisch und Französisch entstehen werden. In diesem Jahr, also ziemlich genau 100 Jahre nach seiner Fertigstellung, ist die Quellenlage außerhalb des tschechischen Sprachgebietes noch äußerst dürftig. Auch diese Leerstelle wird sich auffüllen lassen. Und womöglich werden weitere historische Quellen noch ausgegraben und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Und wer einmal nach Ostrava kommt und die ganz besondere Industriekultur im Süden der Stadt besichtigen möchte, kommt, landläufig gesagt, an der Villa Grossmann nicht vorbei! Im Klartext müsste es heißen: Er sollte unbedingt unbedingt vorbeikommen!

Aktuelle Infos (auch auf Englisch) zur Villa Grossmann finden sich auf der Homepage.

Wohl bekomm’s: Zwei Wort-Cocktails der besonderen Art

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Es war in einem Kassenbüro, als ich von einer Kollegin folgenden Satz hörte:„Wir sind nicht auf der Buttermilch dahergeschwommen“.  Obwohl der Kontext klar war, konnte ich so gut wie nichts mit dieser Botschaft anfangen. Das Nachfragen dauerte ein wenig; und auch als mir die Bedeutung verraten wurde, nämlich einen Vorgang oder ein Verhalten zu durchschauen, war ich perplex, da es sich zudem bei der Wendung um eine Variante handelt. Im Online-Wörterbuch Wiktionary ist es die Brennsuppe, auf der man daherschwimmt. Und weitere Recherchen zeigten, dass auf dem Thüringer Schulportal die „Wurstsuppe“ durchschwimmbar ist. Der „MDR Jump Wortinspektor“ hat dazu einen kurzen  Podcast erstellt, der allerdings ausschließlich auf die „einfachen, ungebildeten Verhältnisse“ verweist, die mit dieser Redewendung sprachhistorisch ohne Negation in Verbindung stehen. Brennsuppe, Buttermilch und Wurstsuppe gehörten ja zu den sogenannten Arme-Leute-Mahlzeiten dazu. Auch dort, wo sich die „Genussregion Oberfranken“ vorstellt, ist von diesem Hintergrund die Rede:

„Der ist nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen“, gilt als sprichwörtliche Umschreibung einigermaßen solider Lebensverhältnisse. Auf der Brennsuppe schwamm demnach wohl derjenige, der sie auch aß, ein unbedeutender oder etwas beschränkter Mensch, der in relativ einfachen Verhältnissen lebte und sich mit einer schlichten Mehlsuppe zufrieden geben musste. Dennoch kann auch hier Schmalhans ein kreativer Küchenmeister sein und zaubert aus der schlichten Suppe einen schnell zubereiteten, würzigen Gaumengenuss.

Hier zeigt die Negation schön, dass der Sprecher bzw. die gemeinte Person sich in ein positives Licht stellen lässt. Und selbstverständlich kann dies auch in gutem Glauben an Personen ohne relativen Wohlstand gelten, wenn man sie zum Beispiel kochen lässt. Dass diese Wendung ebenfalls eine ausgereifte Interpretationsfähigkeit anzeigt, finde ich angesichts des sprachlichen Konstrukts höchst komplex. Denn es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Schlauheit bzw. spezifischen Erfahrungswerten. Offensichtlich gilt aber bei der Wendung: Wer zu mehr Wohlstand gekommen ist, besitzt auch eine höher entwickelte geistige Anlage.  

In Verbindung mit einem einfachen Getränk steht die komplexe Bezeichnung für ein Heilwasser der Marke Förstina, das ich kurz vor dem Totensonntag kaufte:

Das Förstina St. Maria-Brunnen Heilwasser enthält in seiner natürlichen Beschaffenheit pro Liter über 1.000 mg Kohlensäure und kann somit in Verbindung mit den weiteren Hauptbestandteilen als ein flouridhaltiger Calcium-Hydrogencarbonat-Sulfat-Säuerling bezeichnet werden.

Dieser „Säuerling“ mit drei vorgeschalteten Substantiven sowie Adjektiv scheint ein zu lang geratender Fachbegriff zu sein. Dem ist aber nicht so, wie mir mein Bruder telefonisch erklärte. Es ist ein „Trivialname“, was angesichts der Wortlänge erst einmal merkwürdig erscheint. Doch wer sich als Kunde mit Mineralwasser auskennt, der kann durch die angegebenen wesentlichen Bestandteile (natürlich im gelösten Zustand) die stoffliche Zusammensetzung gut einordnen und mit anderen Heilwasserprodukten vergleichen. Bei einem etablierten Fachbegriff wäre das womöglich nicht der Fall. Dass das Wasser schwach sauer ist, daran besteht angesichts des „Säuerlings“ kein Zweifel. Dass Wasser mit dem Suffix „-ling“ in Verbindung gebracht wird, finde ich nach wie vor amüsant: ‚Winzling’, ‚Fremdling’, ‚Neuling’, ‚Findling’ sind ja auffällige Gestalten bzw. Objekte, die sich vor dem Auge auftun. Wasser ist prinzipiell unauffällig und schwer zu charakterisieren.

Ganz sicher: Ich werde in der Zukunft kein Lebensmittel mehr zu Hause haben, das mit so einem Wortungetüm in Verbindung gebracht werden kann.  Hingegen nehme ich beide Wort-Cocktails gerne in meinen Wortschatz auf, in der Gewissheit, dass ich so schnell nicht wieder auf sie stoßen werde. Sollte ich von ihnen noch einmal hören, werde ich noch am gleichen Tag darauf anstoßen, am liebsten mit demjenigen, der diesen Wort-Cocktail wieder aufgetischt hat!

Parkplatz mit Blütenpracht – Eine Alltagsbeobachtung

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Im Mai diesen Jahres staunte ich viele Tage über die in der Stadt blühenden Rhododendren. Diese gewaltigen Büsche, die sich zu einem wahrhaftigen Blütenmeer verwandelten, verzauberten den urbanen Raum, weil sie sich so geschickt an und zwischen bebaute Flächen ansiedeln (lassen). Natürlich ist das Verb „ansiedeln“ unpassend; „anpflanzen“ wäre korrekt. Doch ein Foto aus unmittelbarer Nachbarschaft zeigt, wie sehr ein Busch einen Parkplatz in Beschlag nehmen kann:

Viel ist über Aura kulturphilosophisch gesprochen worden. ChatGPT berichtet mir folgendes unter „literarisch-ästhetischer Kontext“:

Der deutsche Philosoph Walter Benjamin prägte den Begriff Aura in seiner ästhetischen Theorie und bezeichnete damit die einzigartige Ausstrahlung oder den besonderen Charme eines Kunstwerks oder einer Person. (…) Die Aura ist also eine Art magische Qualität, die schwer zu greifen, aber spürbar ist und ein Kunstwerk oder eine Person besonders macht.

Für mich hat jener banale Parkplatz, bei dem ich erst nach wiederholtem Nachdenken und Betrachten des Fotos zu dem Schluss komme, dass er für den Zahnarzt höchstpersönlich reserviert ist, da der eindeutiger mit dem Schild „Zahnarztpraxis“ ausgewiesene Parkplatz nebenan in erster Linie für Patienten dieser Zahnarztes bestimmt sein muss (ohne vollkommen eindeutig zu sein, da auch Praxismitarbeiter gemeint sein könnten), etwas Auratisches während der Rhododendronblüte. Der farbenfrohe Dekor scheint sowohl dem Stellplatz als auch dem Aufsuchen eines Zahnarztes bzw. seiner Praxis einen besonderen Charme zu verleihen. Möge der Charme auch nur wenige Sekunden spürbar sein, er lässt sich für mich als Betrachter, der eben diesen Parkplatz wohl nie nutzen wird, nicht leugnen.

Oft ist die Rede davon, dass man die Welt schöner machen solle. Ist dies hier nicht kraft der Natur der Fall? Ein Parkplatz, oft geschmäht wegen seines hohen Flächenverbrauchs, wird hier als solcher verschönert. Was der Mensch nicht vermag, besorgt die Natur.

Dass Parkplätze in Städten ein knappes Gut sind, versteht sich fast von selbst. Das sperrige Konzept der Parkraumbewirtschaftung wird vermehrt auch vor Verbrauchermärkten und Einkaufszentren umgesetzt. Auch in der Provinz wie zum Beispiel am Brückencenter in Hermsdorf-Bad Klosterlausnitz ist mir dies in diesem Herbst diesbezüglich aufgefallen. Spezielle Firmen, wie zum Beispiel die fair parken GmbH werden mit diesem Geschäft“ beauftragt.

Zu DDR-Zeiten gab es dieses Geschäft sicher nicht, weil Parkraum anders als die dort geparkten Fahrzeuge keine Mangel-Erscheinung war. So erscheint das Brettspiel Wir suchen einen Parkplatz, das in den 1960er Jahren vom VEB Spielewerk Karl-Marx-Stadt auf den Markt gebracht wurde, als Ausgeburt der realsozialistisch geprägten Fantasie realitätsentrückt. Dieses Spiel entdeckte ich bei einem Besuch des Deutschen Spielemuseum Chemnitz.  Ich erfuhr in dieser kleinen Spiel-Oase, dass Gesellschaftsspiele (anders als Spielzeug) in sozialistischen Zeiten kaum entwickelt wurde, zumindest, was das Gebiet der ehemaligen DDR betraf. Immerhin: Gewisse Ideen muss man nicht entwickeln; sie entstehen einfach in gewissen Köpfen des universellen homo ludens. Man merkt der Zielsetzung des Spiels an, dass sie die Parkplatzsuche des 21. Jahrhunderts vorwegnimmt. Man könnte auch sagen, dass die Mangelwirtschaft des Sozialismus unfreiwillig die Überfluss-Wirtschaft des Kapitalismus karikiert. 

An dem interessanten Parkplatzspiel können sich 4 Personen beteiligen. Jeder Spieler erhält 3 Autos, diese muss er auf einem Parkplatz unterbringen. Hat ein Spieler seine Autos auf einem beliebigen Parkplatz untergebracht, ist er Gewinner, und das Spiel ist zu Ende. Wer von den Spielern noch Autos im Spielfeld hat, zahlt für jedes nicht untergebrachte Auto die 5fache Parkplatzgebühr.

Dieses Würfelspiel ist gebraucht noch erhältlich. Wenn man bedenkt, dass man auch mit dem Vermieten von Parkflächen nicht wenig Geld verdienen kann, setzt es sozusagen alternativ die Monopoly-Spielidee um. Wer auf die Zukunft einer attraktiven Umgebung spekuliert, kann hier ganz gut ähnlich wie bei Monopoly sein Geld anlegen. Ob ein größerer Parkplatz sozusagen ein Platzhalter für zukünftige Immobilien ist? In nicht wenigen Fällen ist dies der Fall. Doch eins ist klar: Ein Rhododendron fühlt sich an einem geeigneten Platz in einem Park am wohlsten. Solange der Standort in einem Park stimmt, kann auch ein naher Parkplatz der Blütenpracht nicht schaden!

Abenteuerliche Lektüre – Zu einem Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch

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Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.

Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:

Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.

Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt). 

Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle  Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte.  Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping –  verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen!  Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.

Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).

Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:

Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.

Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??

Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:

Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.

Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.  

Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden.  Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.

Handfestes Übersetzen – Über eine Fahrt auf der Querseilfähre im Zschopautal

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„Hamburg oder Dresden?“ fragt mich deutlich der Fährmann, als er mich am gegenüberliegenden Ufer der Zschopau wahrnimmt. Ernst kann die Frage nicht gemeint sein, denn nach Dresden lässt sich beileibe auf der Zschopau nicht schippern, auch nicht stromaufwärts. Gen Hamburg ginge es mit ein wenig Phantasie schon, zumindest mit einem Kanu (wenngleich unklar ist, wie viele Meter man davon umtragen muss).

Auf einer knapp zweistündigen Wanderung vom Ausgangspunkt Sachsenburg (mit kurzer Besichtigung einer noch in Ausbauplänen steckenden Gedenkstätte, die auf dem Grund eines der ersten NS-Internierungslager liegt) steuere ich Anfang September zu Fuß die mir noch unbekannte Querseilfähre „Anna“ an, die mich auf das westliche Ufer bringen soll, nachdem ich mit dem Läuten einer Glocke auf meinen Transfer-Wunsch aufmerksam gemacht habe. Ich hatte mich extra telefonisch vorher erkundigt: bis 17 Uhr würde sie in Betrieb sein; in der benachbarten Gaststätte „Wasserschänke“ würde dann auch noch an jenem ersten Septemberfreitag eine Erfrischung bereitstehen, bevor ich dann wieder am anderen Ufer eine knappe Stunde zurücklaufen und mich mit einem Sprung ins Freibad Sachsenburg abkühlen würde.

Der Fährmann bezeichnet sich, als er mich zusammen mit zwei freundlichen Passagieren innerhalb weniger Minuten in der Querseilfähre übersetzt (in diesem wunderschönen Landschaftspanoraoma natürlich viel zu kurz!) als „Queraussteiger“. Das passt sowohl zu seinem Lebenslauf als auch zum Verkehrsmittel: Seinen Lehrerberuf hat er an den Nagel gehängt, und nun steuert er händisch, ohne jede PS-Kraft, die Querseilfähre namens Anna. Diese ist an einem zwischen den Ufern gespannten Führungseil befestigt: Die Muskelkraft reicht aus, um sie mittels einer Hangelbewegung sicher überzusetzen. Manchmal scheint der Mensch in seinem Erfindergeist einfach nur genial zu sein, vor allem angesichts der nicht nur scheinbaren Einfachheit dieser Mechanik und der Physik.

Querseilfähre
Querseilfähre Anna vom westlichen Zschopauufer aus gesehen

Die Querseilfähre gibt es schon seit den 1820er Jahren, steuert also auf das 200-jährige Jubiläum zu. Anna Erler war in den 1930er und 1940 Jahren für die Gastwirtschaft zuständig; sie ist als direkte Vorfahrin der heutigen Inhaber Namenspatin der Querseilfähre. Als erneut Verheiratete mit dem Nachnamen Ahner musste sie 1939 auch den Tod ihres zweiten Ehemanns verkraften, der bei Hochwasser in der Zschopau ertrank. Anschließend gab es zu DDR-Zeiten keine Gaststätte, die als Dreh- und Angelpunkt dieses Tal hätte aufwerten können. Zum Glück hat die 1991 wiedereröffnete Wasserschänke nach der vorübergehenden Schließung 2023 zum Jahreswechsel neue Pächter gefunden. Eine Einkehr im Biergarten oder in der originellen Gaststube ist empfehlenswert!

Im Amtsblatt der Gemeinde Lichtenau befindet sich in der Ausgabe Juni 2024 auf Seite 29 ein schöner historischer Abriss über die Querseilfähre, verfasst von Günter Teichert.

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