Wenn in einem Roman ein Lebenslauf mit Zeitläuften (warum heißt es eigentlich nicht „Zeitläufe“ ohne diese merkwürdige „t“?) gewissermaßen verknotet wird, dann gibt es sofort einen doppelten Boden. Das Schicksal eines Individuums wird mit dem Schicksal einer ganzen Gesellschaft in einer Parallelschau literarisch verarbeitet. Franzisk Lukitsch ist die Hauptfigur des Romans Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko, der letztes Jahr endlich auf Deutsch bei Diogenes erschienen ist; die Originalausgabe stammt aus dem Jahr 2014. Sein Lebenslauf wird durch zehn Jahre lang quasi angehalten: Er fällt nämlich an einem Rockkonzertabend bei einer Massenpanik in einer U-Bahnunterführung ins Koma. Vorher – bis 1999 – genoss er in Minsk am Staatlichen Lyzeum für Künste eine Celloausbildung, danach – ab 2009 – kann er immerhin als Verkäufer von „Sanitärkeramik“ arbeiten, auch wenn er in seinem Leben etwas anderes vorhatte, als seinen Arbeitsplatz zwischen „Mischmaschinen, Waschbecken und Klomuscheln“ einzunehmen.
Anders als seine ihm fremd gewordene Mutter und sein Stiefvater, der als behandelnder Chefarzt sich wenig fürsorglich verhält, ist seine Großmutter ihm rührend zugeneigt. Die meisten Erzählungen am Krankenbett entführen den Leser in eine Welt, die gewisse Werte transportiert. Als Übersetzerin ist sie nicht nur sprachmächtig, sondern vermittelt auch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Tragischerweise verstirbt die „Babuschka“ drei Tage, bevor Franzisk aus dem Koma erwacht. Immerhin hinterlässt sie ihm neben Geld auch Kontaktlisten, so dass sie ihm auch nach ihrem Tod behilflich sein kann. Aus Dankbarkeit und einer gewissen Ehrfurcht besucht der genesene Enkel oft ihr Grab, um den Dialog zwischen Diesseits und Jenseits fortzuführen. Da Franzisk auch Gasteltern in Deutschland hat und deswegen leichter als andere an ein Visum kommt, endet das Buch recht beschwingt mit einem Celloauftritt in einer deutschen „Hafenstadt, auf einer Straße nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt“.
Jene von Franzisk als deutsche Mama und deutschen Papa bezeichneten Gasteltern – Jürgen und Claudia – wurden in den 1990er Jahren nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl vermittelt, jedoch weniger aus humanitären, sondern vielmehr aus kommerziellen Interessen. Damals wurden für Kinder und Jugendliche „Gesundheitsferien“ im „Gesundheitsbusiness“ für mehrere Hundert Dollar verkauft, ein Vermögen für die meisten Weißrussen. Ohne Dolmetscher kann sich das Ehepaar bei ihrem zweiwöchigen (Kranken-)Besuch nicht verständigen, so dass Franzisks Großmutter ihre teils ungeschickten Äußerungen nur gefiltert aufnehmen kann. Leicht klischeehaft wird vor Ort aus deutscher Perspektive von Jürgen „die schlechte Laune“ vieler Leute und von Claudia fehlende „gute Putzmittel“ bemängelt – ein No-Go in einer ihr vertrauten „Kultur des Wäschewaschens“. Teils aus Fürsorge, teils aus Eigennutz wird Franzisk von Jürgen als „sein Kind“ angesehen, was nicht unbedingt die Verständigung zwischen zwei Familien fördert. Dass humanitäre Prinzipien auch heute weniger eine Rolle spielen, macht der Autor sehr deutlich. Denn nach dem Erwachen aus dem Koma hat sich für Weißrussland wenig verändert. Franzisks Freund Stassik meint sicher zurecht:
Für die Europäer sind wir Menschen zweiter Klasse aus einem Dritte-Welt-Land. Alle sagen immer nur, man müsse uns helfen, die Tür aufmachen, wir seien so wie sie, würden uns durch nichts unterscheiden, aber sobald es um das Thema Visum geht – ziehen sie zwischen uns eine riesige Panzerglasscheibe hoch.
Ungezügelte Privatwirtschaft auf der einen Seite, mentale und politische Mauern auf der anderen Seite machen die zeitgeschichtliche Ebene als Konstanten seit Mitte der 90er Jahre aus. Vor dem Fall ins Koma wird ein Rückfall in den pränatalen Zustand beschrieben, der eben nicht nur auf Franzisk zutrifft, sondern sinnbildlich auch auf den Zustand von Belarus um die Jahrtausendwende herum:
Wie ein Baby im Mutterleib drehte es ihn wieder und wieder. Er wusste nicht mehr, wo der Boden war und wo die Decke; eine unsichtbare Nabelschnur, Rettung oder Untergang, zog ihn weiter.
Handelt es sich hier um den unkontrolliert erlebten Fall ins Unbewusste, beobachtet Franzisk in seinem Badezimmer ganz bewusst einen weiteren, deutlich längeren Drehmoment am denkwürdigen Präsidentschaftswahlabend 2010:
Während Tränen über sein Gesicht strömten, sah er zu, wie Kleidungsstücke übereinanderpurzelten und -wirbelten. Wie vorhin der nasse Schnee die Stadt füllte Schaum die Trommel an. Das runde Glas beschlug, die Maschine nahm Schwung auf und wackelte. Dann blieb sie plötzlich stehen, die Jeans und der Sweater plumpsten auf den Boden der metallenen Trommel wie auf nasse Stufen, und die Trommel dreht sich in die andere Richtung. Sensoren sorgten für die richtige Temperatur, während Franzisk die Temperatur seiner Tränen nicht steuern konnte. Die Maschine pumpte nun die Lauge ab, und der Schleudergang setzte ein. Zisk sah zu, die die nassen Kleider an die Wände gepresst wurden. Er dachte daran, dass er an diesem Tag zum Verräter geworden war und das nie mehr würde abwaschen können.
Das Davonrennen als Demonstrant gegen die herrschende Staatsgewalt, um einer Festnahme zu entgehen, bildet für den Romanhelden einen Makel. Die Kraft der politischen Bewegung kann dem Schleudergang der machtvolleren Staatsmaschine nicht standhalten. Der Oppositionelle mag sich daher wie ein Kleidungsstück fühlen, dass im schlechten Sinne gesäubert wird, nämlich von jeglichen Bestrebungen, an Umsturzversuchen festzuhalten. Doch die Bevölkerung ließ sich nicht einschüchtern. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006, 2010 und 2020 wuchsen die Protestaktionen an, wenn man unabhängigen Quellen glaubt: Sollen es in Minsk etwa 10000 Demonstranten im Jahr 2006 gewesen sein, gingen angeblich vier Jahre später ca. 20000 und 2020 mindestens 100000 Menschen auf die Straße.
Dass „Musik die beste Methode zur Rettung“ für Franzisk ist, stimmt am Ende versöhnlich. Im Notensystem geht es geordnet zu; dort finden keine Revolutionen statt. Am Ende haben die Töne die Sagen – mit oder ohne Worte.
Hier geht es zu einer Leseprobe auf die Homepage des Diogenes-Verlages. Die Übersetzerin hat in einem Nachwort noch einige wissenswerte Anmerkungen gemacht. Nur eine Notiz daraus: Der Name des Protagonisten „geht auf den ‚ersten belarussischen Buchdrucker’ zurück, den Universalgelehrten Francysk Lukitsch Skaryna“. Die Neue Zürcher Zeitung bietet noch einige interessante Details zum weißrussischen Autoren, der seit vielen Jahren in Sankt Petersburg lebt.
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