Am Rande eines Erasmus+ – Aufenthaltes besuchte ich Anfang November die im April 2024 für Besucher eröffnete Vila Grossmann an einer wichtigen Ausfallstraße in Ostrava. Nur ein aufmerksamer Blick auf Google Maps verriet mir von deren Existenz:
Ganz allein wurde ich durch das imposante, von 1922 bis 1924 erbaute Gebäude geführt. Dort erzählte man mir, dass ich der erste Besucher sei, der sich für eine Führung auf Deutsch interessiere. Da ich nur drei Tage im Voraus die Führung gebucht hatte, schien das freundliche Personal nicht auf diese Herausforderung vorbereitet gewesen zu sein. Jedenfalls war die knapp sehr interessante 60-minütige Führung in zwei sprachliche Abschnitte aufgeteilt: Während der ersten Hälfte versuchte ich, die Erläuterungen in langsam vorgetragenem Tschechisch (inklusive mir eher vertrauten slowakischen Einsprengseln) zu verstehen, die zweite Hälfte spielte sich dann auf Deutsch ab, das den Mitarbeiter nicht allzu sehr herauszufordern schien (Vielleicht merkte er auch, dass ich ihn nicht mit Detailfragen herausfordern wollte…).
Die Führung war fast zu Ende, als ich das tragische Ende von František Grossmann erfuhr. Er nahm sich durch einströmendes Gas im November 1933 in seiner eigenen Villa das Leben, als sein Bauunternehmen infolge einer Wirtschaftskrise überschuldet war. Seine Frau wollte im gleichen Zug Selbstmord begehen, doch das misslang, da sie im Krankenhaus wiederbelebt werden konnte. Ich meine verstanden zu haben, dass sie einen weiteren Selbstmordversuch (ebenfalls vor Ort) nicht überlebte. Ganz genau will und muss ich dies auch nicht wissen. Das Jahr 1933 muss ein tragisches Jahr gewesen sein, denn diese Aktion war sicher vorbereitet worden. So konnte ich die Vila Grossmann trotz ihrer Pracht nur betrübt verlassen.
Es gibt wohl (noch) keinen im Internet zugänglichen längeren Artikel zur Villa Grossmann in deutscher Sprache. Dieser Informationsmangel sollte von einem Architekturkenner in den nächsten Jahren behoben werden, gerade auch weil František Grossmann in seiner Doppelrolle als tschechischer Bauherr und Architekt noch einige andere interessante Bauwerke vor Ort entwarf, unter anderem das Wasserwerk, das an der gleichen Ausfallstraße wie sein Wohnhaus liegt. Außerdem ist die Villa mit einem repräsentativen Bürogebäude nebenan verbunden gewesen, das leider aufgrund von Privatbesitz nicht mit in die Renovierung einbezogen werden konnte.
Die Recherchen zeigen, dass eine tschechische Webseite, die drei Lost Places in Ostrava dokumentierte, auch auf den Zustand der Villa vor der Renovierung explizit hinwies. Die Fotos belegen den tristen Zustand vor 2021. Lange war die Villa im Besitz von Unternehmern, bis sie in den 1960er Jahren in städtischem Besitz zum Kindergarten umfunktioniert wurde. Seit 2005, also mehr als 15 Jahre, stand das Haus leer. Drei Jahre Rekonstruktion kosteten die Stadt umgerechnet mehr als 5 Millionen Euro. Das ist vergleichbar mit einem Neubau von zwei Wohnhäusern in einer mittleren Preislage irgendwo in Deutschland (z.B. in Chemnitz).
Eine tschechische Webseite, die sich auf regionale Bauprojekte spezialisiert hat, zeigt die Schönheit des restaurierten Zustands, vor allem die vielen dekorativen Elemente, die sicher auch für Kunsthistoriker interessant ist. Ein Mikrokosmos, der noch vollkommen unmöbliert ist. Das wird sich in der Zukunft womöglich ändern.
Ich bin gespannt, welche Online-Artikel in den nächsten Jahren auf Deutsch, Englisch und Französisch entstehen werden. In diesem Jahr, also ziemlich genau 100 Jahre nach seiner Fertigstellung, ist die Quellenlage außerhalb des tschechischen Sprachgebietes noch äußerst dürftig. Auch diese Leerstelle wird sich auffüllen lassen. Und womöglich werden weitere historische Quellen noch ausgegraben und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Und wer einmal nach Ostrava kommt und die ganz besondere Industriekultur im Süden der Stadt besichtigen möchte, kommt, landläufig gesagt, an der Villa Grossmann nicht vorbei! Im Klartext müsste es heißen: Er sollte unbedingt unbedingt vorbeikommen!
Aktuelle Infos (auch auf Englisch) zur Villa Grossmann finden sich auf der Homepage.
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