Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Oktober 2024

Abenteuerliche Lektüre – Zu einem Jugendbuch von Robert Habeck und Andrea Paluch

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Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.

Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:

Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.

Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt). 

Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle  Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte.  Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping –  verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen!  Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.

Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).

Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:

Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.

Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??

Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:

Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.

Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.  

Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden.  Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.

Handfestes Übersetzen – Über eine Fahrt auf der Querseilfähre im Zschopautal

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„Hamburg oder Dresden?“ fragt mich deutlich der Fährmann, als er mich am gegenüberliegenden Ufer der Zschopau wahrnimmt. Ernst kann die Frage nicht gemeint sein, denn nach Dresden lässt sich beileibe auf der Zschopau nicht schippern, auch nicht stromaufwärts. Gen Hamburg ginge es mit ein wenig Phantasie schon, zumindest mit einem Kanu (wenngleich unklar ist, wie viele Meter man davon umtragen muss).

Auf einer knapp zweistündigen Wanderung vom Ausgangspunkt Sachsenburg (mit kurzer Besichtigung einer noch in Ausbauplänen steckenden Gedenkstätte, die auf dem Grund eines der ersten NS-Internierungslager liegt) steuere ich Anfang September zu Fuß die mir noch unbekannte Querseilfähre „Anna“ an, die mich auf das westliche Ufer bringen soll, nachdem ich mit dem Läuten einer Glocke auf meinen Transfer-Wunsch aufmerksam gemacht habe. Ich hatte mich extra telefonisch vorher erkundigt: bis 17 Uhr würde sie in Betrieb sein; in der benachbarten Gaststätte „Wasserschänke“ würde dann auch noch an jenem ersten Septemberfreitag eine Erfrischung bereitstehen, bevor ich dann wieder am anderen Ufer eine knappe Stunde zurücklaufen und mich mit einem Sprung ins Freibad Sachsenburg abkühlen würde.

Der Fährmann bezeichnet sich, als er mich zusammen mit zwei freundlichen Passagieren innerhalb weniger Minuten in der Querseilfähre übersetzt (in diesem wunderschönen Landschaftspanoraoma natürlich viel zu kurz!) als „Queraussteiger“. Das passt sowohl zu seinem Lebenslauf als auch zum Verkehrsmittel: Seinen Lehrerberuf hat er an den Nagel gehängt, und nun steuert er händisch, ohne jede PS-Kraft, die Querseilfähre namens Anna. Diese ist an einem zwischen den Ufern gespannten Führungseil befestigt: Die Muskelkraft reicht aus, um sie mittels einer Hangelbewegung sicher überzusetzen. Manchmal scheint der Mensch in seinem Erfindergeist einfach nur genial zu sein, vor allem angesichts der nicht nur scheinbaren Einfachheit dieser Mechanik und der Physik.

Querseilfähre
Querseilfähre Anna vom westlichen Zschopauufer aus gesehen

Die Querseilfähre gibt es schon seit den 1820er Jahren, steuert also auf das 200-jährige Jubiläum zu. Anna Erler war in den 1930er und 1940 Jahren für die Gastwirtschaft zuständig; sie ist als direkte Vorfahrin der heutigen Inhaber Namenspatin der Querseilfähre. Als erneut Verheiratete mit dem Nachnamen Ahner musste sie 1939 auch den Tod ihres zweiten Ehemanns verkraften, der bei Hochwasser in der Zschopau ertrank. Anschließend gab es zu DDR-Zeiten keine Gaststätte, die als Dreh- und Angelpunkt dieses Tal hätte aufwerten können. Zum Glück hat die 1991 wiedereröffnete Wasserschänke nach der vorübergehenden Schließung 2023 zum Jahreswechsel neue Pächter gefunden. Eine Einkehr im Biergarten oder in der originellen Gaststube ist empfehlenswert!

Im Amtsblatt der Gemeinde Lichtenau befindet sich in der Ausgabe Juni 2024 auf Seite 29 ein schöner historischer Abriss über die Querseilfähre, verfasst von Günter Teichert.

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