Spionagethriller gibt es en masse, doch wie es sieht es filmisch im zwischenmenschlichen Abhör-Bereich aus? Man würde hier wohl von Psycho-Drama sprechen.
Zu DDR-Zeiten spionierte man mit ausgebufften Abhörmethoden, die der Oscar-prämierte Film Das Leben der anderen (2006) eindrucksvoll zeigt. Und im 21. Jahrhundert findet besonders dank offener digitaler Kanäle das Beschatten wohl mehr denn je statt. Neudeutsch spricht ja auch von Stalking. Wie das sich kammerspielartig darstellt, vermittelt der Film Nebenan, in dem Daniel Brühl zum ersten Mal als Regisseur hinter den Kulissen und als Hauptdarsteller vor der Kamera in Erscheinung tritt. Der gefeierte Schriftsteller Daniel Kehlmann verfasste das Drehbuch, das es in sich hat.
Brühl spielt in seinen Teilen sich selbst – einen Schauspieler namens Daniel, der seinem wichtigsten Gesprächspartner im Film, dem Nachbarn Bruno gegenüber überheblich und auf den ersten Blick desinteressiert auftritt. Handlungsort ist die Kneipe Zur Brust irgendwo im Prenzlauer Berg.
Bevor er zu einem Casting in Großbritannien aufbricht, möchte er sich noch kurz in jener Stammkneipe auf den Termin vorbereiten, doch er kommt aufgrund von Bruno nicht von diesem Ort los: Sein Nachbar, der ihm eigentlich zuvor in seiner Unscheinbarkeit über die Hinterhof-Distanz nichts bedeutete, führt ihm sein eigenes verruchtes Privatleben vor die Augen. Dabei ist Bruno alles andere als ein Spion, denn er muss sich größtenteils gar nicht bemühen, die Dialoge zwischen Daniel und seiner Partnerin Clara mitzuhören. Eine bizarre Wissensasymmetrie wird offenbar: Während Daniel nichts über Brunos Leben vorher wusste, kann Bruno genaustens über Daniels Filmschaffen und über seine Machenschaften Auskunft geben.
Was mich an dem Film (erst im Nachhinein) begeistert, ist das Ausloten von Nähe und Distanz. Nachbarschaft erlaubt einerseits das Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen, ohne dass sich das Gefühl der Freundschaft oder der Sympathie einstellt. Peter Kurth spielt diese ambivalente Figur äußerst gekonnt. Mehrheitlich fokussieren sich die Dialoge auf die Problematik zweier ganz verschiedener Lebenssituationen, die sich im Schlagwort ‚Gentrifizierung’ (der Begriff fällt auch im Film) widerspiegeln. Der erfolgsverwöhnte und abgehobene Schauspieler auf der einen Seite aus dem Westen der Republik, auf der anderen Seite der ausgebildete Programmierer als Call-Center-Agent, der in einem „Help Center“ arbeitet, zu DDR-Seiten in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde, und dessen Vater vor der Jahrtausendwende aus der Altbauwohnung von einem Spekulanten für billiges Geld „herausgekauft“ wurde, bevor man sie in eine schicke Maisonette-Wohnung umbaute, in die sich Daniel einquartieren sollte. Das Psycho-Drama wird stellenweise zum Sozialdrama, en miniature auch zum Nachbarschaftsdrama.
Bruno kann dank seines Berufs die Kontobewegungen von Daniels Partnerin Clara bestens durchleuchten und kann von ihren Seitensprüngen berichten. Dabei schwirrt im Film eine Fliege zuerst auf Brunos Stirn und dann auf den mitgebrachten Kontoauszug; sogleich wird sie von Daniel gekillt. Auf dem zahlenlastigen Dokument hinterlässt diese Todes-Spur etwas Morbides; gleichsam wie die Auflistung der Umsätze, die eigentlich nur pralles Leben vorspiegeln:
Insgesamt wirken die Kneipen-Gäste einsam, was die folgende Einstellung eindrucksvoll zeigt:
Die weiten Abstände zwischen den Akteuren erinnert an die Pandemiezeit, in der der Film entstand, ohne dass davon die Rede wäre. Jegliches Handeln scheint für wenige Sekunden stillzustehen.
Neben den Kontoauszügen bekam Bruno dank eines Blumengieß-Jobs Zutritt zu Daniels Wohnung und damit zu dessen I-Pad, auf dem er dessen schmutzige Online-Techtelmechtel mit einer gewisse Denise nachlesen kann. Das I-Pad als enthüllendes Speichermedium gibt er dann im verschlossenen Umschlag in der Kneipe über einen Kinder-Boten, der ein Fan von Daniel ist und als Verwandter der Kneipenbesitzerin den Handlungsort aufsucht, gegen geldwerte Belohnung an Klara weiter. Auch hier kann man von einem schmutzigen Geschäft sprechen.
So spielt der Schauspieler Daniel in seinem Privatleben gleichzeitig eine Täter- und eine Opferrolle, die man auch Bruno zuschreiben könnte. Sein Agieren als Beschaffer von indiskreten Informationen ist überdies zweideutig, da er ja trotz seiner kriminellen Energie Licht ins Dunkel bringt und Lebenslügen im wahrsten Sinne des Wortes auftischt. Dabei verheimlicht er nicht, dass auch er Opfer eines Betrugsfalls geworden ist (nämlich von seiner Frau).
Am Filmende erfahren wir als Schlusspointe, dass Daniel mit seiner Familie nicht mehr in der schicken Maisonette-Wohnung lebt. Stattdessen ist es eine Schauspielerin: Brunos Vorhang öffnet sich nun in eine neue Wohn-Welt:
Der Film konzentriert sich auf die Macht der Sprache, die über ausschweifend geführten Dialoge an einem Handlungsort Lug und Betrug enthüllt und dabei verborgene Lebenswelten aufdeckt. Zusammen mit der subtilen Zusammenführung deutsch-deutscher Lebensgeschichten ist dieses Kammerspiel mitten in Berlin ein ganz wichtiges Zeit-Zeugnis gut zwei Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende.
Ein Interview mit Daniel Brühl bietet Wissenswertes zur Filmidee. Eine ausführliche Kritik findet sich bei in der Online-Zeitschrift epd film. Der Film kann hier über verschiedene Anbieter heruntergeladen werden. Noch ein wichtiges Detail: 2022 wurde die Theaterfassung am Wiener Burgtheater uraufgeführt.
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