In den Jahren 2006 / 2007 bin ich bei Casino sicherlich einige Hundert Euro losgeworden. Wohlgemerkt nicht im Casino! Ich meine nämlich die französische Supermarktkette, die knapp ein Jahr meines Lebens oft eine Anlaufstelle für Besorgungen im Alltag war.
Erst kürzlich, nach der Lektüre von Selbstporträt mit Bonaparte (2012) von Julia Schoch, bin ich auf diesen Gedanken gekommen, dass auch der Gang ins richtige Casino zur Routine werden kann. Eigentlich habe ich dieses Buch ohne große Begeisterung gelesen, doch die Nachbetrachtung bringt mich zu dem Ergebnis, dass die Inhalte sich ohne jegliches Pathos um die großen Themen Liebe, Spiel und Glück drehen. Das Casino dient dabei als geeignete Kulisse.
Schon auf der ersten Seite steht die Zahl 688. So oft war die Ich-Erzählerin im Casino zu Gast. Das muss man erst einmal schaffen. Die wenigen Zeilen zuvor sind als Romananfang ganz besonders gut gewählt:
Und dann, in jener langen Sekunde, wenn die Kugel noch unterwegs ist, wenn sie sich noch nicht entschieden hat für eine Zahl, ist alle Zeit ausgelöscht. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Für diesen einen Moment kann man beruhigt sein, die Welt, sie wartet noch. In welch sonderbarer Zeit spielt das, was ich erzähle?
Der Roman verweigert sich einer chronologischen Handlung; dafür ist er auch nicht geschrieben. Wie das Cover schön darstellt, haben wir es mit Momentaufnahmen einer Liebe zu tun, die nicht mehr existiert:
Ganz zum Schluss wird die Gegenwart mit einem „undurchdringlichen Später“ und das Leben mit einem „Dasein in solch einem Hotelzimmer“ verglichen, „in dem man auf dem Bett unter einem geöffneten Fenster liegt.“ Das dortige Warten füllt eine „erschöpfte, auf jeden Fall übrig gebliebene Leidenschaft“ aus, so dass das Früher mit hineinragt. Die Erzählerin folgt hier dem legendären österreichischen Roulettespieler Erich Puch, der sich angeblich nach dem Spielrausch in Hotelzimmer flüchtete, um erfolglos zu versuchen, „an die Zukunft zu denken, an etwas, das das GANZ ANDERE wäre, etwas noch Unvorstellbares“.
So liegt es nahe, das Vergangene, also das Früher in Worte zu fassen. Laut der Erzählerin gebe es eine „Art rückwärtiger Existenz“, „auf die es tatsächlich ankommt.“ Weniger würde diese lebenslaufrelevante Einzelheiten beinhalten als vielmehr Nebensächlichkeiten, wie zum Beispiel Casinobesuche. Deswegen wird das Casino als Ort auch nicht umfassend als Schauplatz beschrieben; es wirkt mehr wie ein Routine-Ort („kein Klub oder Geheimbund“), der sich nicht von anderen abheben soll. Erzählerisch ist dies eben unauffällig und zugleich überzeugend gelöst. Nicht der Ort, sondern das Spiel namens Roulette ist „der Inbegriff einer gänzlichen anderen Welt“, anders als das „Leben in einer verschlafenen Kleinstadt am äußersten Rand eines verriegelten Landes“, in dem die aus Bad Saarow in Brandenburg stammende Autorin Julia Schoch durchscheint. Da ich zu Pandemiezeiten Bad Saarow besuchte, habe ich eine lebhafte Vorstellung davon, wie man als Schriftstellerin zu solch einem Satz kommt. Das soll als biografische Randnotiz genügen.
Außerdem wird das Spiel als „das Ritual“ der geschilderten Liebe angesehen. Es ist eben keine bloße „Metapher“ und es steht auch nicht für „Verirrung“. Man hat als stets den Eindruck, die beiden Spieler behalten die Kontrolle über das, was sie tun. Kein Spielrausch, keine Spielsucht ist zu erkennen. Insofern gibt es auch keine Dramatik in diesem Text. Erklärungsversuche zur gescheiterten Liebesbeziehung unterbleiben, so wie auch Spielserien im Casino eher Chaos widerspiegeln als irgendeine logische Ordnung.
Kennengelernt haben sich die beiden Protagonisten ironischerweise auf einer „Konferenz für Historiker, die den Titel trug Ansichten der Vergangenheit oder Vergangene Ansichten, vielleicht auch Angesichts des Vergangenen.“ Von Chaos ist also beruflich keinesfalls die Rede, eher von einer mangelnden Präzisierung bestimmter Ereignisse! Hier wird deutlich, dass es programmatisch im Roman darum geht, wahrheitsstiftende Bilder der Vergangenheit zu erzeugen, wobei das Vergangene im Titel bewusst unscharf bleibt. Und somit sind auch die Bilder nicht vollkommen scharf zu stellen. Dass Bonaparte daheim mit einer ungewöhnlich gestalteten, beim ersten Rendezvous mit dem Erzählerin-Ich kaum auffälligen Napoleon-Büste aufwarten kann, ist geschickt inszeniert, da die Ähnlichkeit mit dem Herrscher sich keineswegs aufdrängt („Er sei mindestens drei Köpfe größer und habe daher keinerlei Lust zu erobern, was oder wen auch immer“). Sein wirklicher Name bleibt dem Leser verborgen; Bonaparte ist ein Einfall der Erzählerin. Auch hier entzieht sich der Roman des bloßen Abbildhaften und versucht bewusst, mentale Bilder zu verzerren. Er hinterfragt chronologische Zusammenhänge und sicherlich Ursache-Wirkungsbeziehungen. So wie man in Spiel auch nicht klar Erfolge begründen kann: Spielglück kennt einfach keine Ursache!
Anschlussfrage: Ist das Schreiben in der Auswahl der Worte nicht auch ein Spiel? In einem Seminar zum Spiel in der Literatur hätte Selbstporträt mit Bonaparte einen Ehrenplatz sicher!
Auf der Homepage des Piper Verlags ist das Buch nur noch als E-Book lieferbar. Lesenswert sind die Rezensionen im Deutschlandfunk und im Spiegel. Die Zitate stehen (nach aufsteigender Seitenzahl geordnet) auf den Seiten 9, 12, 17, 19, 28, 50, 54, 141, 142. Die kursiven und in Großbuchstaben gedruckten Wörter stehen auch so im Original.
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