Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Dezember 2022

Besonders wachsam: Wenn es in den Ohren klingelt

Ende November hatte ich das Vergnügen, zum wiederholten Mal einen Künstler in seinem Atelier in der Nähe des sächsischen Waldenburg aufzusuchen, der durch seine Lebensgeschichte und seine Gemälde mich stets im positiven Sinne herausfordert. Frithjof Herrmann ist in einschlägigen Kreisen kein Unbekannter – zumindest nicht im Umkreis seiner Geburtsstadt Zwickau. Ich lernte sein Werk in einer Ausstellung in Meerane bei Glauchau kennen und war sofort von seinen Farbkompositionen in den Bann gezogen. An weiterführenden Schulen hat er sein künstlerisches Wissen über Jahrzehnte vermittelt; bis zum heutigen Tag unterrichtet er das eine oder andere junge Talent.

Atelier von Frithjof Herrmann
Das Atelier von Frithjof Herrmann in Niederwiera bei Waldenburg; November 2022.

Nachfolgend geht es um ein einziges Wort, das Frithjof aussprach und in meinen Ohren klingelte. Im leicht sächsisch gefärbtem Dialekt hörte ich so etwas wie „fischilant“; nur wenige Augenblicke später sprach ich ihn auf das Wort an, das er als „vigilant“ bestätigte und es im Kontext sicher auch korrekt für seine Selbstbeschreibung verwendete. Es war mir noch nie im Deutschen zu Ohren gekommen; dank des Französischen, das es neben dem Englischen in gleicher Schreibweise kennt, war mir klar, was er meinte. Nur dachte Frithjof, dass das Wort (weiterhin) recht geläufig sei. Da musste ich Zweifel anmelden. Und siehe da: Der Zusatz „veraltet“ wird bei wortbedeutung.info der Worterklärung vorangestellt. Als vigilant gilt bzw. galt jemand, der „eine hohe Intelligenz mit scharfem Verstand“ aufweist. Auf Frithjof Herrmann trifft das zu, denn er hat sein langes Leben auch dank dieser Eigenschaft eindrucksvoll gemeistert. Im Englischen und Französischen ist die Bedeutung etwas anders: Hier geht es darum, „mit Sorge und Hingabe“ auf etwas zu achten. Das trifft auch auf meine Erfahrungen mit diesem Wort in Frankreich zu: „Restez vigilants!“ kann man leicht mit „Bleiben Sie wachsam!“ übersetzen. Hierfür sollte man selbst Sorge tragen; mit Scharfsinn hat das weniger zu tun.

Seit den 1970er Jahren ist in unserem Nachbarland der „Plan Vigipirate“ in Kraft. Durch Museums- und Theaterbesuche ist mir der Begriff seit den 2000er Jahren vertraut, obwohl ich die eigentliche Bedeutung bislang nie recherchiert hatte.  Ich muss dabei stets an einen Piraten denken, auch wenn, wie ich kürzlich erfuhr, der Begriff ein vollständiges Akronym ist. „Vigi“ steht dabei für „vigilance“ (Wachsamkeit) und „pirate“ für „protection des installations contre les risques d’attentats terroristes à l’explosif“. Hier wird deutlich, dass das Französische auch bei sehr ernst zu nehmenden politischen Maßnahmen quasi spielerisch mit Sprache umgeht. Denn es liegt auf der Hand, dass sich gedanklich der Angesprochene  wachsam gegen Piraten verhalten sollte, auch wenn der Piratenbegriff eigentlich für Straftäter auf hoher See vorbehalten ist, wo nicht schnell staatliche Gewalt eingreifen kann. Würde man in Deutschland nicht lang darüber diskutieren, ob hier nicht Missverständnisse zu erwarten seien? Man könnte ja auch denken, dass man selbst zum Piraten wird – seit dem Aufkommen der Piratenpartei in den 2010er Jahren liegt dies nicht ausschließlich im Bereich der Fantasie.  Übrigens wird der Begriff „Vigilanz“ im Deutschen in der Neurologie  verwendet und bezeichnet einen Zustand der Wachheit bzw. Aufmerksamkeit, mit der der Mensch gewisse Leistungen absolvieren kann. Sowohl Wachsamkeit als auch Scharfsinnigkeit kommen hier als menschliche Grundfähigkeiten ins Spiel. 

Auch die Bibel erinnert uns öfter an unsre Wachsamkeit, am prominentesten im 24. Kapitel des Matthäus-Evangeliums: 

Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, zu welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht.

Dieses Gleichnis vom „wachsamen Hausherrn“ appelliert an das, was Frithjof Herrmann als „vigilant“ bezeichnete.  Man weiß ebenso wenig vorher, wann die Gefahren lauern und wann Christus uns begegnet. Man könnte sogar sagen: „Im Begriff der Wachsamkeit sind alle moralischen Einzelforderungen zusammengefasst.“ Jedenfalls hat mich wachsames Zuhören zu diesem Artikel geführt, der ohne das Schlüssel-Wort aus dem Mund eines  „vigilanten“  Künstlers nicht entstanden wäre…

Film-Fotografie: Sinnschärfende Bilder im Film “Tagundnachtgleiche” (2020)

Es wäre eine typische Einstiegsfrage in einem medienwissenschaftlichen Seminar: Wo liegen die Unterschiede zwischen Filmografie und Fotografie? Dass sich die Frage lohnen könnte, merkt man daran, dass im Abspann das lapidare Wort ‚Kamera’ im Englischen durch ‚Director of Photography’ wiedergegeben wird.

Der Debütfilm Tagundnachtgleiche von Lena Knauss besticht nicht zuletzt durch Kamerabilder, die Licht und Dunkel in ein wundersames Mischverhältnis bannen. So ist es passend, dass im Abspann der Begriff „Bildgestaltung“ (Eva Katharina Bühler ) verwendet wird.  Der Titel ist bereits ein Verweis auf die „sinnlich-poetische Atmosphäre, die sich in der Visualität spiegelt“, um Worte von Knauss zu ihrem Film wiederaufzunehmen.  Die Geschichte des kontaktscheuen Alexander (Thomas Niehaus), der sich hemmungslos in die  Variété-Künstlerin Paula Clarin (Aenne Schwarz) verliebt, bevor sie mysteriös aus dem Leben scheidet, ohne dass er sie näher kennenlernen konnte, nimmt erst durch Paulas Schwester Marlene (Sarah Hostettler) Gestalt an. Die Liebe kann sich erst dank Marlenes Einfühlungsgabe in ihrer Rolle als Radiomoderatorin vollends entfalten. Während Paula den Augen der Regisseurin als „Projektionsfläche“ dient,  ist ihre Schwester als Radiomoderatorin trotz ihrer Unsichtbarkeit Alexanders Lebenswirklichkeit viel näher. Das liegt auch daran, dass Alexander ein großer Liebhaber klassischer Musik ist.

Ein Dialog bleibt dabei besonders in Erinnerung, als Marlene Alexander ihren Arbeitsplatz im Funkhaus zeigt:

[Alexander:] Hier kommt das alles her, was ich jeden Tag höre. Das ist schon irgendwie ein kleines Wunder. Du setzt dich hin, und wenn man will, kann man nun überall da draußen deine Stimme hören.

[Marlene:] Ich liebe das. Alles wird verschluckt. Als gäbe es da draußen die Welt gar nicht – nur noch das Hier und Jetzt. Für die da draußen bin ich unsichtbar: Keiner sieht mich – trotzdem bin ich da!

Eigentlich ist Marlenes Stimme zusammen mit den angekündigten Musikstücken – darunter Ohrwürmer wie die Vocalise von Sergej Rachmaninoff in einer Version für gemischten Chor mit heller Solo-Stimme – der Impuls für eine Annäherung Alexanders. In einem Kammerkonzert hören die beiden live die 1. Gnossienne von Erik Satie in einer Version für Klavier und Cello, wobei Alexander sich noch immer Paula an seiner Seite vorstellt (im Film sehen wir abwechselnd die beiden Schwestern neben ihm).

Zwei Film-Bilder zeigen die präzise Beleuchtung des Films. Ganz zu Anfang sehen wir Alexanders Arbeitsplatz  – seine Fahrradwerkstatt neben einem Café – mit dessen Besitzerin er hin- und wieder anbandelt:

Filmszene aus "Tagundnachtgleiche"
Alexanders Lebenswelt: Fahrradwerkstatt & Café; Tagundnachtgleiche, Regie: Lena Knauss, Tamtam Film (2020), 1’26”

In wenigen Sekunden wird das opake Nebeneinander von Arbeit und Unterhaltung in Hell und Dunkel gehüllt. Das bewegte Bild zoomt in Alexanders Werkstatt hinein, so dass der Zuschauer in die Lebenswelt von Alexander eintaucht.

Die andere Einstellung zeigt, wie Alexander auf den Fersen von Paula ist. Er verfolgt sie bis zu ihrem Arbeitsplatz, dem Variété Tagundnachtgleiche:

Nachtszene in "Tagundnachtgleiche"
Alexander folgt Paula zu ihrem Arbeitsplatz; Tagundnachtgleiche, Regie: Lena Knauss, Tamtam Film (2020), 10’36”

Auch hier sind es wenige Sekunden, in denen die Einstellung unvergesslich wird. Gerade die wenigen hellen Stellen  rund um die Theaterkasse haben zusammen mit dem leuchtend weißen, vertikal angeordneten Schriftzug „Tagundnachtgleiche“ etwas Traum-haftes. Hier spiegelt sich Kunst auch in der Kunst, da hier offensichtlich das Eingangstor zu einem Variété-Theater im Film als Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum ein besonderes Gewicht erhält.

Auch im weiteren Verlauf des Films gibt es viele buchstäblich traumhafte Einstellungen. Da auch Liebe etwas Unerklärliches ist, bleibt die Beziehung zwischen Alexander und Marlen in der Schwebe. Der Hör- und Sehgenuss hält bis zum Abspann vor – allein dies ist Grund genug, den Film in einer schwärmerischen Einstellung anzuschauen; gerade dann ist es nicht mehr weit, von diesem Film zu schwärmen!

Die Zitate sind im Film an Position 46‘49‘‘ bzw. an 47‘24‘‘ zu hören. Das Interview mit Lena Knauss ist hier nachzuhören (Zitate folgen an Position 1’37” bzw. an Position 2’23”). Bis Ende Februar 2023 ist der Film in der ard-Mediathek verfügbar. Die DVD kann zum Beispiel bei Weltbild bestellt werden.

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