Es könnte eine Szene aus einem film noir sein, wie ich sie kurz nach 22 Uhr am Karfreitag 2022 erlebt habe: Kurz vor meinem Ziel in Berlin musste ich auf der Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Köpenick und Kaulsdorf in einem Waldgebiet (in der Nähe des S-Bahnhofs Wuhlheide) einen Güterzug abwarten, der in einem quälend langsamen Tempo den Bahnübergang passierte. Und bei den im wahrsten Sinne des Wortes ungezählten Güterwaggons dachte ich mir, dass hier noch eine veritable Geduldsprobe auf mich wartete.
Der Liedermacher Sebastian Krämer hat das „Telefonlied“ eingeführt, und wahrscheinlich wird man ihn nicht dabei kopieren. Mit der einen Hand Klavier spielen und mit der anderen Hand telefonieren, das ist natürlich dämlich, doch es passt genau in sein „Güterzug“-Lied hinein. Es ist eine Realsatire genau auf das, was ich erlebt habe, nur mit dem Unterscheid, dass ich in Berlin unterwegs war und der Interpret in seiner Heimat Vlotho an der Weser. Auch wenn Krämer im Mitschnitt behauptet, real vor der Schranke nicht zum Smartphone gegriffen zu haben, so ist es ein plausibler Gedanke, während des Passieren-Lassens eines nicht aufhörenden Güterzugs live die Außenwelt über die Verspätung zu informieren. Auch das Filmische kommt zur Geltung. Erst ist es im Lied nur die Situation, die filmische Züge (Stichwort: Güterzug als störendes, womöglich retardierendes Motiv in der Handlung) trägt, dann werden die Waggons zur Projektionsfläche für filmische Bilder und damit zum Motiv:
Der Zug ist ein Kino, das mir einen Kurzfilm zeigt.
Auf den Planen der Wagen sind Bilder
zu einem Film angehäuft,
der hier mir vor mir als Spot
und gütiger Gott
in ‘ner Endlosschleife läuft.
Auch der Film zeigt ‘nen Güterzug und einen Mann.
Es hat was von Schlingensief:
Der Mann springt in den Zug;
Das ist nicht gerad’ sehr klug.
Denn Blut spritzt aufs Objektiv.
Doch stets wenn der Kurzfilm vorbei ist
entsteht eine Lücke im Lauf;
‘ne Sekunde lang
prangt nur Schienenstrang
Und der Zug hört für kurze Zeit auf.
(…)
Ich glaube, dass das meine Chance ist:
Ich schaff’ mir den Rhythmus drauf.
Es ist alles nur Timing,
ich springe mich frei,
bis dann Schatz, ich leg jetzt auf.
Als das Sänger-Ich auflegt, ist neben dem Lied, das in der Klavierstimme hämmernd den Güterzug nachahmt und die Singstimme einen gehetzten Tonfall anschlägt (auch das ist authentisch) – auch das Leben vorbei. Der Pianist fällt buchstäblich vom Hocker, als er sich frei springt! Hier könnte man an einen Filmriss denken. Diese Horrorvorstellung gehört zum film noir, sonst wären Genreerwartungen nicht erfüllt.
Das Fiktive in das Reale so einzuarbeiten, dass ein Güterzug geradezu surreale Züge erhält, lohnt eine nähere Untersuchung. Einen Kurzfilm als Endlosschleife vor sich zu sehen – besser lässt sich die in die Länge gezogene Wartezeit mitsamt der Ungeduld des Wartenden nicht bebildern. Die Filmlücke ist gleichsam eine Zeitlücke, die zur vermeintlichen Befreiung dient. Doch ein Ausbruch aus dem Lauf der Zeit, den der Zuglauf materialisiert, ist unmöglich. Auch wenn das Sänger-Ich Timing und Rhythmus plant, bleibt es buchstäblich auf der Strecke. Im Französischen ist übrigens „train“ mit „(Lebens-)Tempo“ und gleichsam als Doppel-Gespann (also „train-train“) mit Alltagstrott
gleichbedeutend , was ja auch ein gewisses Tempo suggeriert. Und da wären wir wieder bei der Musik. Ganz klar zeigt sich: In ihrer Vielschichtigkeit erschafft die Kleinkunst von Sebastian Krämer in kürzester Zeit großes Kino!
Dass der Westfale Sebastian Krämer im Vereinsheim Schwabing (der Mitschnitt vom Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2021 ist leider nicht mehr verfügbar) auftreten durfte, ist für einen „Preißn“ natürlich Ehre genug. Im „Feierabend TV“ gibt es ab 1 h 40 Min. etwas kürzere Alternative: Die knapp vier Minuten sind wirklich kurzweiliges Kabarett! Seine Tourneedaten lassen sich auf seiner Homepage einsehen.