Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Juli 2022

Kleinkunst – ganz groß: Über das Lied „Güterzug“ von Sebastian Krämer

Es könnte eine Szene aus einem film noir sein, wie ich sie kurz nach 22 Uhr am Karfreitag 2022 erlebt habe: Kurz vor meinem Ziel in Berlin musste ich auf der Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Köpenick und Kaulsdorf in einem Waldgebiet (in der Nähe des S-Bahnhofs Wuhlheide) einen Güterzug abwarten, der in einem quälend langsamen Tempo den Bahnübergang passierte. Und bei den im wahrsten Sinne des Wortes ungezählten Güterwaggons dachte ich mir, dass hier noch eine veritable Geduldsprobe auf mich wartete.

Der Liedermacher Sebastian Krämer hat das „Telefonlied“  eingeführt, und wahrscheinlich wird man ihn nicht dabei kopieren.  Mit der einen Hand Klavier spielen und mit der anderen Hand telefonieren,  das ist natürlich dämlich, doch es passt genau in sein „Güterzug“-Lied hinein. Es  ist eine Realsatire genau auf das, was ich erlebt habe, nur mit dem Unterscheid, dass ich in Berlin unterwegs war und der Interpret in seiner Heimat Vlotho an der Weser. Auch wenn Krämer im Mitschnitt behauptet, real vor der Schranke nicht zum Smartphone gegriffen zu haben, so ist es ein plausibler  Gedanke, während des Passieren-Lassens eines nicht aufhörenden Güterzugs live die Außenwelt über die Verspätung zu informieren. Auch das Filmische kommt zur Geltung. Erst ist es im Lied nur die Situation, die filmische Züge (Stichwort: Güterzug als störendes, womöglich retardierendes Motiv in der Handlung) trägt, dann werden die Waggons zur Projektionsfläche für filmische Bilder und damit zum Motiv:

Der Zug ist ein Kino, das mir einen Kurzfilm zeigt.

Auf den Planen der Wagen sind Bilder

zu einem Film angehäuft,

der hier mir vor mir als Spot

und gütiger Gott

in ‘ner Endlosschleife läuft.

Auch der Film zeigt ‘nen Güterzug und einen Mann.

Es hat was von Schlingensief:

Der Mann springt in den Zug;

Das ist nicht gerad’ sehr klug.

Denn Blut spritzt aufs Objektiv.

Doch stets wenn der Kurzfilm vorbei ist

entsteht eine Lücke im Lauf;

‘ne Sekunde lang

prangt nur Schienenstrang

Und der Zug hört für kurze Zeit auf.

(…)

Ich glaube, dass das meine Chance ist:

Ich schaff’ mir den Rhythmus drauf.

Es ist alles nur Timing,

ich springe mich frei,

bis dann Schatz, ich leg jetzt auf.

Als das Sänger-Ich auflegt, ist neben dem Lied, das in der Klavierstimme hämmernd den Güterzug nachahmt und die Singstimme einen  gehetzten Tonfall anschlägt (auch das ist authentisch) – auch das Leben vorbei.  Der Pianist fällt buchstäblich vom Hocker, als er sich frei springt! Hier könnte man an einen Filmriss denken.  Diese Horrorvorstellung gehört zum film noir, sonst wären Genreerwartungen nicht erfüllt.

Das Fiktive in das Reale so einzuarbeiten, dass ein Güterzug geradezu surreale Züge erhält, lohnt eine nähere Untersuchung. Einen Kurzfilm als Endlosschleife vor sich zu sehen – besser lässt sich die in die Länge gezogene Wartezeit mitsamt der Ungeduld des Wartenden nicht bebildern. Die Filmlücke ist gleichsam eine Zeitlücke, die zur vermeintlichen Befreiung dient. Doch ein Ausbruch aus dem Lauf der Zeit, den der Zuglauf materialisiert, ist unmöglich. Auch wenn das Sänger-Ich Timing und Rhythmus plant, bleibt es buchstäblich auf der Strecke. Im Französischen ist übrigens „train“ mit „(Lebens-)Tempo“ und gleichsam als Doppel-Gespann (also „train-train“) mit Alltagstrott
gleichbedeutend , was ja auch ein gewisses Tempo suggeriert. Und da wären wir wieder bei der Musik. Ganz klar zeigt sich: In ihrer Vielschichtigkeit erschafft die Kleinkunst von Sebastian Krämer in kürzester Zeit großes Kino!

Dass der Westfale Sebastian Krämer im Vereinsheim Schwabing (der Mitschnitt vom Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2021 ist leider nicht mehr verfügbar) auftreten durfte, ist für einen „Preißn“ natürlich Ehre genug. Im „Feierabend TV“ gibt es ab 1 h 40 Min. etwas kürzere Alternative: Die knapp vier Minuten sind wirklich kurzweiliges Kabarett! Seine Tourneedaten lassen sich auf seiner Homepage einsehen.

Ein Kurzausflug auf die Schiene – Über eine Fahrt mit der Wisentatalbahn

Das Jahr 2022 wird noch lange in Erinnerung bleiben: Die Stichwörter „Tankrabatt“ und „9-Euro-Ticket“ sind unter anderem für mich schon jetzt Kandidaten für das Wort des Jahres. Als Anfang Juni diese Vergünstigungen im wahrsten Sinne des Wortes in den Verkehr kamen, zahlte ich gerne extra: Auf der Wisentatalbahn gab ich 8 Euro für eine Fahrt aus, und ich fühlte mich mit diesem Preis so richtig glücklich.

Wisentatalbahn
Fahrkarte für die Wisentatalbahn

Ich nahm an dem Tag gegen 17 Uhr den letzten Schienenbus, der sich von Schönberg im sächsischen Vogtland (Bahnhof auf der Strecke Hof-Zwickau) auf den ca. 16 Kilometer langen Weg ins thüringische Schleiz machte. Im Grunde waren außer mir nur Vereinsmitglieder und -sympathisanten an Bord, die sich mit großem Engagement seit 2007 um die reaktivierte Wisentatalbahn kümmern. Sie sorgen sich auch um das leibliche Wohl ihrer Fahrgäste. Aufgrund des leeren Wagens durfte ich direkt hinter dem Lokführer Platz nehmen – direkt neben meinem aufgehängten Fahrrad. Das war eine große Freude für mich! Die Leere erschien bizarr angesichts der oft überfüllten Regionalzüge an jenem Pfingstwochenende.

Langsamfahrstelle
Abzweig von der Hauptstecke Hof-Zwickau (Langsamfahrstelle!)
Freies Plätzchen
Ein freies Plätzchen direkt hinter dem Triebfahrzeugführer!

Man merkt es bereits an der Homepage und den ausliegenden Flyern an, dass hier Eisenbahnliebhaber mit Leidenschaft am Werk in einer Region sind, die touristisch unterbelichtet ist. In einem Sommer mancher Engpässe ist es auch ein Vorteil, dass trotz des naheliegenden „Thüringer Meers“ (Bleilochtalsperre) und Schloss Burgk der Ort Schleiz überregional unbekannt ist, obwohl er auf der Autobahn A9 eine eigene Ausfahrt besitzt.

Drei bis viermal am Tag fahren meist zweimal im Monat jeweils samstags die Uerdinger Schienenbusse aus den 1950er Jahren auf der idyllischen Strecke, die von der Deutschen Regionaleisenbahn (DRE) gepachtet wurde.  Jeder einzelne Zug muss, auch wenn kein Gegenverkehr zu erwarten ist, in Kommunikation mit dem Fahrdienstleiter in Pretsch an der Elbe (Sachsen-Anhalt) stehen, der auch andere Nebenbahnen beaufsichtigt, die nicht von der Deutschen Bahn betrieben werden.

Die Rangierfahrt in den Lokschuppen wurde mir am Fahrtende kurz vor Schleiz auch gezeigt. Ich staubte anschließend die letzte Frikadelle ab und schwang mich bei angenehmen Temperaturen aufs Rad.  Dafür brauchte ich gutes Kartenmaterial, da ein lückenloser Radweg zum Startpunkt nicht ausgeschildert ist. Das konnte ich auch nicht erwarten. Hauptsache, ich machte mir ein schönes Bild von der Landschaft. Manchmal sind es 2-3 Aufnahmen, die in Erinnerung bleiben. Im Nachhinein muss ich sagen, dass die Strecke Schleiz-Schönberg am besten wandernd in ca. 3-4 Stunden zurückgelegt werden kann.  Es rollt sich einfach nicht so gut im recht langen Waldstück zwischen Oberböhmsdorf und Mühltroff.   Wer auf den Europäischen Bergwanderweg  (EB) gerät, der ist ganz sicher gut unterwegs. Auf der Karte ist die „Alte Mühltroffer Straße“ zur Orientierung gut. Ein malerischer Ausblick zwischen Wald, Feld und Gewässer steht für die Freude, das Abendlicht von seiner schönsten Seite zu erwischen:

Abendstimmung
Abendstimmung einige Kilometer südöstlich von Schleiz (bei Oberböhmsdorf)

Nachdem die Fahrt es am späteren Nachmittag losging, fühlte es sich geradezu kurzweilig an, wieder gegen 20 Uhr zurück am Auto in Schönberg anzukommen. Das Abendlicht ist an langen Sommertagen besonders wertvoll, weil es so lange vorherrscht und man gerade bei Sonnenschein noch mehr die Ruhe der Region genießen kann.  Zudem ist es ein zusätzlicher Luxus, dass das Auto unweit des Bahnhofsganz ohne Fahrplan auf mich wartet.  Und auch die Rückfahrt hielt noch die eine oder andere Entdeckung bereit….

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