Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: April 2022

Raumzeiten: Über den “Raumfahrer” von Lukas Rietzschel

2017 sah ich im Guggenheim Museum von Bibao die Helden -Bilder von Georg Baselitz. Die verstörend dargestellten Figuren werden als vermeintliche Kriegshelden thematisiert, wodurch von allein das Heldenhafte in Frage gestellt wird. Ich nahm diese Kunst zur Kenntnis, indem ich eher oberflächlich draufschaute. Baselitz‘ Hauptwerk blieb mir somit bislang verschlossen.

Der junge sächsische Autor Lukas Rietzschel hat es mit seinem Roman Raumfahrer geschafft, mir das Baselitz-Universum ein Stück weit näherzubringen. Auch Kunsthistoriker dürften hier die eine oder andere Erkenntnis mitnehmen. Das Raumfahren hat hier nichts mit dem Weltall zu tun, sondern mit einem Dazwischen, das unterschiedliche Zeiträume und zugleich auch Raumzeiten zusammenbringt und die Figuren darin verwoben werden.

Der Roman spielt in Kamenz, östlich von Dresden, und dem Ortsteil Deutschbaselitz, nach dem Hans-Georg Kern sich Georg Baselitz benannt hat. Er tritt im Buch zusammen mit seinem Bruder Günter  auf, der in der Lausitz bleibt. Jener Günter vertraut sich mit einem Geheimnis aus der Vergangenheit seinem Pfleger Jan an, womit der Plot seinen Anfang nimmt. In seinem Privatarchiv finden sich Belege dafür, dass Jan mit der Familie Kern verbandelt ist. Wie genau, soll hier nicht verraten werden.  Der Autor bedankt sich ausdrücklich dafür, dass Günter Kern ihm authentische Dokumente zur Verfügung gestellt hat:

Er hat mir Einblicke in Akten, Briefe und Leben gegeben und dabei zugesehen und geduldet, wie ich sie arrangierte, umdichtete und nach meiner Vorstellung dramatisierte.

Man merkt dem Roman an, dass er sehr sorgfältig Materialien zusammen schichtet und natürlich auch die Ortskenntnisse des Autors mitsamt dem biografischen Hintergrund in sich aufnimmt. Das Covermotiv der Originalausgabe, von Rietzschel selbst gestaltet, zeigt eine Kulisse, die ein nicht real existierendes Nebeneinander mit jeweils zwei Fixpunkten (zwei Kirchen und zwei Laternen aus unterschiedlichen Zeiträumen und Raumzeiten) abbildet. Der mir in den Sinn gekommene Begriff Raumzeit – leider nicht als Wort gebräuchlich – ist für mich anschaulich, weil das Dreidimensionale gleichsam von der unsichtbaren Zeit geprägt wird. Sehr schön zeigt sich das in vielen Ortsbeschreibungen im Roman:

Mit der Zeit hatte sich der Asphalt, der über die Straßen aus Betonplatten gegossen worden war, mit jedem Reifen, der darüberfuhr, weiter abgetragen. Mittlerweile lagen die Platten wieder nackt da. Die Rillen dazwischen. Der Rhythmus der Straßen war zurück. Der Herzschlag. Egal, wie langsam oder schnell die Autos darüberfuhren. Auch jetzt schlug leise das Herz vor dem Block, das ewige Bum-Bum, Bum-Bum der Betonplattenrillen.

Rhythmus, undenkbar ohne Zeit, wird hier erst möglich durch einen gewissen Verfall, der in einem Zeitraum entstanden ist. Gerade in den Braunkohleabbaugebieten in der Lausitz ist die Raumzeit quasi eingeschrieben:

Senftenberg, Boxberg, Hoyerswerda, Schwarze Pumpe. Kern versuchte, diese ausgeschabte Gegend, die am Horizont begann, zu meiden. All die Löcher und Gruben, verbunden durch Förderbänder, die zu den Heizkesseln und Brikettfabriken führten, als hätte jemand Spinnenbeine auf die Landkarte gelegt.

Topographisch hat die Zivilisation Raum mitgestaltet und nicht nur genutzt. Es ist das Gegenteil einer Idylle, weil so gut wie keine Fläche unberührt scheint. Renaturierungsmaßnahmen schaffen wiederum eine neue Landschaft, wodurch sich nicht nur in der Lausitz Potential für neue Lebensformen ergibt.

Dabei stellt sich auch die Frage nach der Musealisierung von Kunst in Bezug auf einen spezifischen Ort. In Deutschbaselitz sieht Jan ein Namensschild mit der Aufschrift  Frau Koschmieder, tourist information, Baselitz museum and Deutschbaselitz history museum. Das Gespräch mit Frau Koschmieder fördert zutage, dass die Werke in der Welt sind, jedoch nicht vor Ort ausgestellt werden:

Die Idee mit dem Baselitz-Museum kommt von so ein paar jungen Leuten aus Leipzig. Die haben dem Ortsversteher einen sogenannten Maßnahmenkatalog überreicht, um die Gemeinde für Touristen interessanter zu machen. Die meinten, dass man unbedingt mit dem internationalen Aushängeschild Baselitz punkten müsste.

Heißt das, Sie haben hier gar keine Gemälde?

Ich kann Ihnen ein paar Kataloge von seinen Ausstellungen geben. New York, Paris oder Kunsthalle Meppen.

Die (internationale) Vermarktung einer Region hat durchaus etwas Aufgepfropftes, was alles andere als authentisch ist. Und doch ist es Ziel eines Tourismus, Lockmittel anzubieten, auch wenn die Kunst selber nicht locken kann. Hier zeigt sich sehr schön die Frage nach dem richtigen Weg, kulturelle Raumzeiten zu schaffen. Der Roman ist ein Zeugnis einer raffiniert durchgeführten Spurensuche, die sich dem Leser offenbart. Dabei steht ein prominenter Künstler mit seinem Bruder genauso im Vordergrund wie die Biografie des Suchenden. Jan bewegt sich physisch als „Raumfahrer“ durch die Lausitz und mental durch verschiedene erzählte Räume. Ein wunderbares Bild, das sich im Text eindrucksvoll wie ein Abzeichen bemerkbar macht. Sind wir nicht alle Raumfahrer?

Ein Video mit Lukas Rietzschel zum Buch ist genauso interessant wie eine Deutschlandfunk-Rezension. Der Roman lässt sich bei dtv bestellen. Die Zitate stehen (nach aufsteigender Seitenzahl geordnet) auf S.45, S.65, S.241, S. 282 und S. 287. Das kurze siebte Kapitel (S.46/47) widmet sich vollständig den Heldenbildern von Georg Baselitz. Die Heldenbilder waren 2016 unter anderem im Städel-Museum Frankfurt am Main zu sehen. Hierzu gibt es einem kurzen Einführungstext mit einigen biografischen Angaben zu Georg Baselitz.

Samt und sonders: Ein Allerlei von vermeintlich Naheliegendem

Kann das Sonderbare nicht auch naheliegend sein?

Diese Frage lässt sich wohl nicht ganz ernsthaft beantworten. Mich interessiert das Wort „naheliegend“, weil das scheinbar leicht zu Erklärende auch eine topographische Komponente hat: Die buchstäblich nahe Lage ist eben trügerisch, wie wir sehen werden. Denn manchmal überwiegt gerade in der vermeintlichen Selbstverständlichkeit das Unverständliche, das sogar als sonderbar aufgefasst werden kann. Drei unterschiedlich lange Miniaturen aus der Tiroler Urlaubsregion Seefeld zeugen davon:

1. Sondermarke?

Mehrere Postkarten ins nahegelegene Deutschland frankierte ich mit einfach gestalteten Postwertzeichen, auf denen über einem Blumenmotiv das Wort „Sonderpostamt“ steht. Naheliegend wäre in Zeiten offener Grenzen, teurere Postdienstleistungen ins Ausland ohne  jegliche „Sonder“-kategorie laufen zu lassen, gerade weil doch der Begriff „Sondermarke“ bereits für die Philatelie reserviert ist. Und um eine (hoch)amtliche Zustellung handelte es sich auf keinen Fall!

Sonderpostamt
Sonderpostamt aus Seefeld in Tirol (März 2022)

2. Sonderzug?

Wenige ICE-Züge mit dem Traditions(zug)namen Karwendel fahren seit 2007 (vorher gab es Intercity-Züge)  saisonal grenzüberschreitend bis nach Innsbruck, und zwar postkartentauglich direkt über die Berge und nicht durchs Inntal.  Dabei werden Höhen über 1000 m und eben auch Seefeld passiert, wo selbst-verständlich auch ein Fahrplanhalt vorgesehen ist. Höher kann man mit dem ICE nirgendwohin gelangen. Die Deutsche Bahn war nicht sonderlich angetan von der Verlängerung durch die Berge und beschloss, mit dem Fahrplanwechsel 2017/18 alle ICEs dieser Route in München bzw. Garmisch-Partenkirchen enden zu lassen. Kaum verständlich passte die eingeweihte Neubaustrecke durch den Thüringer Wald laut Bahnangaben nicht mehr zur „peripheren Strecke“ durch die Nordalpen. Zum Glück wurde dieses Vorhaben nach einem Jahr wieder revidiert und in der neuen Streckenplanung einfach der Umweg über Berlin (und den Thüringer Wald) gestrichen. Eine Alternative wäre es, gewisse Nebenstrecken aufgrund des fehlenden Umsteigeaufwands in den Premiumbereich mit aufzunehmen, anstatt sie als „peripher“ abzustempeln. Zentraler in Europa könnte die Karwendelbahn kaum liegen! Welche schönen Luftaufnahmen können hier entstehen! Allein der zufällige Anblick eines in Seefeld ausfahrenden ICEs war für mich im positiven Sinne sonderbar. Das Ungewöhnliche – ein Schnellzug  und kein Sonderzug inmitten dieser  Kulisse – sollte naheliegend sein, gerade wenn man bedenkt, dass jeder Reisende, der nicht mit dem Auto nach Seefeld kommt, besonders erwünscht sein soll. Im Frühjahr 2022 fährt samstags einzig der ICE 1207 direkt von Hamburg über Seefeld nach Innsbruck (direkt zurück fährt ebenfalls samstags ICE 1206). Ab dem Sommer 2020 wurde die Direktverbindung von Berlin nach Innsbruck (nicht über Seefeld!) als einer von mehreren neuen touristischen Fernverkehrszügenangeboten (saisonal samstags).

ICE-Tourismus
Neue touristische Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn (Stand: 2020)

3. Sonderski?

Mit dem extra für das Seefelder Loipenparadies angeschafften Rossignol Delta Sport-Skating-Ski verlustierte ich mich kilometerlang in der einzigartigen Tiroler Berglandschaft. 3 Stunden lang gab es jedoch unerwarteten Nervenkitzel: Während eines Pausenstopps an der Polis Hütte direkt an der Loipe in Leutasch entwendete augenscheinlich jemand nur wenige Meter von dem von mir in Besitz genommenen Liegestuhl meine neuen Skier samt der schon ziemlich alten Stöcke. Das konnte doch nicht wahr sein! Eine geschlagene Stunde lang lief ich wie ein verdattertes Hühnchen zwischen den Ansammlung von Stühlen und der Speisenausgabe umher, befragte Leute, schaute genau auf die Skier vieler vorbeifahrender Langläufer und hielt lautstark als eine Art Ultimatum ein schon lang anvisiertes verdächtiges Paar der Marke Atomic hoch, um danach schon hoffnungsvoll festzustellen, dass es keinem Anwesenden gehörte.  Es musste also eine Verwechslung gegeben haben! Zum Glück handelte es sich eindeutig um Leihski eines nahen Sportgeschäfts. So schnallte ich vor vielen, mich moralisch stützenden Zeugen in Liegenstühlen das fremde Damen-Skipaar an, was auch wegen unterschiedlicher Bindungssysteme nicht selbstverständlich war, und lief zügig (nicht ohne einen gewissen Umweg!) in Richtung Sport Wedl im Leutascher Ortsteil Weidach. Nein, ein Diebstahl war ausgeschlossen – dafür ist der Atomic Redster S7, laut Skiverleih ein „Top-Ski“, spürbar einfach zu gut! Mit Hilfe von Karteikarten wurde innerhalb von einer Stunde die Übeltäterin aus Berlin, die mit ihrer Familie in einer nah gelegenen Ferienwohnung logierte, ausfindig gemacht. Geduldig nahm ich in einem Ledersessel am Ladeneingang Platz und versuchte, einen Roman weiterzulesen. Als Beschallung kam passend zum Ereignis Supertramps alles andere als verträumtes Lied „Dreamer“ !  Zehn Minuten vor Ladenschluss – fast wie in einem Drehbuch – kam jene Dame mit Anhang in den Laden und entschuldigte sich mit einer kaum zu toppenden Unschuldsgeste, weil sie wohl erst jetzt verstand, dass sie einer saublöden Verwechslung aufsaß. Beide Ski-Paare sind sich auch in der Farbgestaltung trotz eines vergleichbaren Rottons nicht wirklich ähnlich (der Rossignol-Hahn hat nichts mit dem Atomic-Zacken zu tun!), ganz zu schweigen von den Stöcken. Die im Langlauf-Sport sicher Versierte hatte das physisch Naheliegende –mein Paar – einfach vom Café  von Blindheit geschlagen in Richtung Ferienwohnung geschleppt.  Das gute Ende nahm also seinen Lauf, und es kam noch besser:  Vom Ladenbesitzer wurde ich als „angenehmer Zeitgenosse“ hoch bewertet. Er hätte mich sogar von Leutasch nach Seefeld gefahren, wäre ich nicht motorisiert gewesen!  Das war für mich Genugtuung genug, so dass aus meinem Mund insgesamt nur Verständnisvolles herauskam und ich als kleines Dankeschön letztlich noch von der Mutter der (Schnee-)Blindgeschlagenen zu meinem fahrbaren Untersatz chauffiert wurde. Unterm Strich ein nachmittagsfüllendes Dramolett, in dem ein „Top-Ski“ vorübergehend für mich zu einem ungewollten „Sonderski“ wurde!

Rossignol-Skating Ski
Der eigentlich unverwechselbare Rossignol Delta Sport – Skating – Ski




Ein herzliches Dankeschön an die Familie Wedl für ihre tatkräftige Suche nach den verschleppten Rossignol-Skiern! Bei meinem nächsten Besuch in Leutasch werde ich Sport Wedl als Kunde aufsuchen!

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