Unruhe und klassische Musik passen eigentlich nicht zusammen. Klassik Radio wirbt deswegen mit dem Slogan „Bleiben Sie entspannt“. Insofern steht das Prélude Opus 67 Nr. 2 von Alexander Skriabin (1871-1915) dort sicher auf keiner Musikliste, denn Ausgeglichenheit, Ruhe und fühlbare Melodik sind hier fehl am Platze. Die Spielanweisung „inquiet“ bringt es auf den Punkt:
Das Stück ist von 1912 / 13 und fällt damit in eine Zeit, die eher von Aufbruchstimmung, aber teils auch von düsteren Tönen (Stichwort: fin de siècle) bestimmt ist. Manch einer hat gesagt, dass das 19. Jahrhundert bis 1914 dauerte, also bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs. Leider ist Alexander Skriabin viel zu früh gestorben, so dass er kein Spätwerk hinterlassen konnte. Sein Frühwerk ist sicher noch romantisch geprägt, doch davon konnte Anfang des 20. Jahrhunderts keine Rede mehr sein. Was ihn auszeichnete, war die ungewöhnliche Begabung, zu Tönen bestimmte Farben zu sehen. Dieses synästhetische Klangerlebnis lässt seine Klavierkompositionen schillernd erscheinen; der mit seit Jahren liebgewonnene Band mit seinen Klavierstücken (aus dem Schott-Verlag) zeigt schon von den Notenbildern her, wie innovativ er komponiert hat.
Ich habe das Prélude so eingeübt, dass ich es zwar nicht „presto“, jedoch immer noch „allegro“ spielen kann. Warum fasziniert es mich so? Ich denke beim Spielen nicht an Farben (scheinbar bin ich kein Synästhet!), sondern an ein dynamisches, quasi vitalisierendes Auf und Ab, dass in einer YouTube-Aufnahme von Steven Malinowski sehr schön mit Farbquadraten visualisiert wurde. Allein eine zweidimensionale Darstellung von sich ändernden Tonhöhen steigert den Höreindruck. Hier ist das Klavierspiel wie ein komplexer Treppengang quasi in der imaginierten Bewegung erlebbar. Skriabin hätte wahrscheinlich auch Computer-Technik eingesetzt, zumindest hätte er solche wahrhaftigen Klang-Bilder gerne angeschaut.
Vom Ton-Material her denke ich oft an Jazz-Akkorde, weil gerade in der rechten Hand die Akkorde „schräg“ klingen. Der Rhythmus ist zu gleichmäßig, als dass man ans Wippen, geschweige denn ans Tanzen denken würde. Die linke Hand ist auch eben keine Rhythmus-Maschine, sondern erfüllt unablässig die ständig wechselnde Aufwärts-Abwärts-Bewegung in Triolen. Auf eine „Auf-Ab“-Triole (natürlich kein Fachbegriff!) folgt eine Ab-Auf-Triole; in einem Takt gibt es davon bis kurz vor dem Ende je zwei. Nur die letzten zwei Schlusstakte lassen die unruhige, unstete Bewegung hinter sich; der Schlussakkord hört sich wie ein großes Fragezeichen an, das wie sich ein Zwischenfazit anhört und in ein neues Stück übergehen könnte. Bei knapp 100 Sekunden Spieldauer in meinem „nur“ schnellen Tempo hat die linke Hand fast 400 Töne angeschlagen, was für das Publikum bei der Tonfolge alles andere als leicht konsumierbar ist. Man kann allerdings in der rechten Hand eine Art Melodie ausmachen, die jedoch sehr vage bleibt. Ab welchen Tonfolgen kann eine Melodie eigentlich als solche herausgehört werden? Klar ist, dass hier kein Beat hineinkomponiert ist, an dem man sich akustisch festhalten könnte. Es ist eher eine unruhige Suchbewegung, die in der rechten Hand dank der Akkorde eine gewisse Tiefenstruktur und in der linken Hand eine horizontale Dynamik als Vorwärtsbewegung erhält. Dieses kurze Stück hat für mich auch nach mehr als 100 Jahren etwas Zeitloses an sich; könnte man es vom Klang her nicht auch als Nachkriegswerk einordnen?
Für seine sinfonische Dichtung Prométhée. Le Poète du Feu ließ Skriabin ein visionäres Farbenklavier entwickeln, das es leider nie zur Marktreife geschafft hat. Für eine Vorführung eines solchen Lichtklaviers reichte es ebenfalls nur selten, wohl auch wegen der technisch schwierigen Umsetzbarkeit. Heutzutage sind Lichtshows an der Tagesordnung; und natürlich braucht man für Lichteffekte auf und an der Bühne keine Tasten. Und doch wäre es interessant zu sehen, wie Töne mit zugeordneten Farben wirken. Ich werde bei der nächsten Gelegenheit noch mehr darauf achten, wie Klangfarben im wahrsten Sinne des Wortes untermalt werden…
Das vollständige Notenbild des Préludes ist auch in einer Datei im pdf-Format zugänglich.