Die Kulturgeschichte der Ampel ist noch nicht geschrieben worden. Ob dieses Unterfangen sich lohnen würde? Wenn man bedenkt, dass Ampel etymologisch von ‚Ampulle’ kommt und wir jede ‚Pulle’ als ein Gefäß umschreiben können, dann zeichnet sich womöglich eine spannende Spurensuche ab.

Im anglophonen Sprachraum regeln den Straßenverkehr ‚traffic lights’, also Lichter, in frankophonen Ländern sind es die ‚feux ’, also die Feuer, die aufleuchten. Insofern ist der offizielle Begriff Lichtzeichenanlage für eine Ampel einfach nur zu sperrig, doch die Kombination aus ‚Licht’ und ‚Zeichen’ trifft ja genau zu, wenn wir von ‚rot ’, ‚gelb’ und ‚grün’ sprechen.

Eigentlich ist das rote Signal, wenn man an die Eisenbahn denkt, ebenfalls nur eine Aufforderung, anzuhalten bzw. nicht weiterzufahren. Und doch liegt es nahe, eine Signalfarbe, also ein gut sichtbares Zeichen, bei bestimmtem Einsatz mit einer Warnfunktion zu verbinden. So frage ich mich, ob wirklich erst seit dem Jahr 2020 in Deutschland und Österreich von einer Warnampel die Rede ist. Ich stelle mir zugleich die große Schwierigkeit eines Dolmetschers vor, den Begriff adäquat zu übersetzen. Er leuchtet nämlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht sofort ein, denn eine Verkehrsampel als Zusammenschaltung von Signalfarben soll nicht allgemein warnen, sondern ein komplexes System besser regeln. Eine grün zeigende Ampel hat nicht das Geringste mit Gefahr zu tun, wohl aber dann, wenn die Ampel auf gelb und dann auf rot springt. Dieses Springen ist ja auch eine sprachliche Dynamisierung eines Farbwechsels, was sicher daran liegt, dass die Ampelfarben meist senkrecht angeordnet sind und das Springen nur mit einer gewissen Sprunghöhe vorstellbar ist.

Zum Glück ist den meisten klar, warum der Begriff der Warnampel 2020 geprägt wurde. Der dazugehörige Diskurs, nämlich die Bekämpfung einer Pandemie, wird in nicht allzu weiter Ferne sicher in Abschlussarbeiten skizziert. Bisweilen sind die Befürworter und die Skeptiker in einem Gremium vertreten: Der eine (Ministerpräsident von Bayern) wollte diese Warnampel unbedingt, die andere (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) wollte sie anfangs eher nicht, weil eine grün leuchtende Ampel nämlich keine Gefahr induziere, sondern eine „falsche Sicherheit“. Deswegen gibt es bei der rheinland-pfälzischen Version bis zum heutigen Tage überhaupt kein Grün bei den Warnstufen. Das Grün wurde hier durch vollkommen neutrales Weiß ausgetauscht. Außerdem sind die drei Ampel-Farben in den Augen vieler Entscheidungsträger nicht ausreichend, wenn man pandemische Warnhinweise bedenkt. Wird nicht ‚violett’ als die warnende Farbe schlechthin gesehen? Im Herbst 2020 hatten auch aus diesem Grund deutsche Bundesländer jeweils ein eigenes Ampelsystem zur Pandemiebekämpfung, was bisher nicht vereinheitlicht wurde. Berlin hat immer noch drei klassische „Leuchten“ und drei weitere sekundäre Ampeln, die den „Indikator für die Reproduktionsrate“, den „Indikator Neuinfektionen je 100000 Einwohner und den „Indikator Bettenbelegung der Intensivstationen” zusammenfassen. Hessen hat zusammen mit Orange und Dunkelrot fünf Farben, allerdings nur die Inzidenz, also die Fallzahlen, als Indikator.

Immerhin hat die EU international anerkannte Kriterien eingeführt, wobei keine (Warn-)Lichter im Englischen wiedergegeben werden, sondern einfach nur bestimmte Wertgrößen bestimmten Farben zugeordnet werden. An Farbenblinde wird auch gedacht: Beim „combined indicator“ (auch die Quote von Positivgetesteten wird einbezogen, nicht nur die absolute Anzahl)  werden neben den klassischen Farben grün, orange und rot in einer separaten Karte alternativ Blau-/Grautöne  eingesetzt.  Wer gerne Karten und studiert und sich auf die komplexe Datenlage einlässt, wird die eine oder andere Entdeckung machen. Allerdings werden hier 14 Tage und nicht 7 Tage als Betrachtungszeitraum gewählt. Insgeheim muss also etwas (um-)gerechnet werden.

In Tschechien  ist man übrigens im doppelten Sinne auf den Hund gekommen. Denn das dortige Warnsystem („Protiepidemický systém“), kurz PES, lässt einen an keine Ampel, sondern an einen Vierbeiner denken, denn die Abkürzung heißt im Tschechischen zugleich „Hund“.  Und deswegen verwundert es nicht, dass auf der offiziellen Seite des tschechischen Gesundheitsministeriums die Warnstufen auch mit bildlichen Hundemotiven angereichert sind. Sie warnen so deutlich, dass Erklärungen fast entbehrlich sind: Ein (Wach-)Hund signalisiert keine absolute Sicherheit, höchstens eine Entspannungsphase, wenn die Zunge raushängt; und sein Sensorium ist zu scharf eingestellt, als dass er in der geringsten Warnstufe nicht aufmerksam genug wäre:

Warnskala
Das Covid-Warnsystem in Tschechien ist auf den Hund gekommen

Angesichts der vielen Ampel-System-Unterschiede in der föderalen Bundesrepublik Deutschland ist diese Farbskala mit bildlicher Schärfe eine klare Ansage. In der deutlich kleineren Bundesrepublik Österreich ist die Ampel übrigens schon seit dem Herbst landesweit in Anwendung, sie zeigt aktuelle überall dauerrot an, während in Tschechien der Hund zur Zeit im Gesamtüberblick violett-bissig dreinschaut.

Und noch etwas Brandaktuelles: Just in dieser Woche leuchtete eine Signalfarbe mit gravierenden Folgen falsch auf. Die F.A.Z. meldete am 27.01.21, dass aufgrund einer „Datenpanne“ die Lombardei ab dem 17.01.21 „als rote Zone eingestuft“ worden sei, obwohl sie hier mit den korrekten Werten gleich zwei Stufen besser hätte da stehen müssen, nämlich als gelbe Zone. Schadenersatzsummen von bis zu 600 Millionen Euro könne dies zur Folge haben. Denn nicht nur hätten hier wie in einer orangenen Zone (wie aktuell im Großteil Italiens) Geschäfte öffnen dürfen, sondern auch die Gastronomie. Stattdessen durfte keiner in dieser Region ohne triftigen Grund vor die Tür treten. Es kommt noch ärger: Am gleichen Tag gab es einen Rücktritt zu vermelden, nämlich den des italienischen Ministerpräsidenten! Das tut weh: Falsche Signale im doppelten Sinne werden hier ausgesandt. Eine italo-schweizerische Beobachterin hat in einem Blog-Artikel bereits beschrieben, dass in Italien Anfang 2021 „Farbnuancen“ eingeführt wurden, so dass beispielsweise von „verstärktem Gelb“ gesprochen werde könne. So kräftig wurde selten von offizieller Seite im „Farbtopf“ gerührt! In Italien scheint ein zentrales Warnsystem regionale Ausdifferenzierungen zuzulassen, während in Deutschland aktuell (fast) alles daran gesetzt wird, verschiedene Warnampel-Systeme nur dann einzusetzen, wenn die größten Gefahren gebannt sind. Die Debatte um dieses hochkomplexe Thema wird zurecht kontrovers (weiter-)geführt.

Und es gibt noch eine Pointe zu Warnhinweisen: Neulich verweis ein lieber Freund auf das Unterfangen des ehemaligen Tübinger Professors Jürgen Wertheimer, der ein begeisterter Forscher zum Kassandra-Mythos ist, ohne vermutlich einen direkten Draht zu Kassandra-Rufen zu haben. Wertheimer durfte Kontakt zum Bundesverteidigungsministerium aufnehmen, wo er das Sensorium der Warnrufe jener mythologischen Figur erklären durfte. Er hatte die Idee, „eine literarische Konflikt-Map für Krisenregionen“ einzuführen, die „narrative Erschütterungen in der Literatur auf diese Weise politische Eskalationen vorhersagt“, wie Benedikt Herber Anfang des Jahres in der Zeit schrieb.  Also ergibt sich daraus eine Art Seismografie, die eben auch Gesundheitskrisen wie die derzeitige Pandemie erfasst.  Es geht um „Prognostik“ und damit auch um „Maßnahmenketten“. Weder Wirtschafts-, noch Finanzkrisen und erst recht keine Flüchtlingskrisen machen vor Ländergrenzen Halt; und es ist fraglich, ob kommende Krisen auch dank literarischer Erzeugnisse besser prognostiziert werden können. Natürlich lässt sich ohne stichfeste Indikatoren keine Skala errichten, doch wird sich zeigen, wie man in Zukunft mit subtilen Signalen Unheil heraufziehen sehen und womöglich schnell(er) eindämmen kann. Kassandra misst nicht, sie wittert etwas. Folglich ist jede Warnfunktion nur dann sinnvoll, wenn frühzeitig gewisse Zeichen der Zeit erkannt werden; und nicht erst, wenn operativ gehandelt werden muss. Am besten wäre es, wenn es unabhängig von grün noch gelb, von rot und violett als Warnstufen ausreichend Wachsamkeit gäbe. Die sollte bekanntlich auch dann gegeben sein, wenn alles in geregelten Bahnen zu laufen scheint. Es ist nun mal so: Der Mensch ist stets mal niedrigeren, mal höheren Gefahrenstufen ausgesetzt, ohne dass klar wäre, welche Stufe genau wann betreten wird.

Der zitierte Artikel aus der Zeit (Ausgabe 2, 2021, Seite 45) ist als „Arbeitsprobe“ von Benedikt Herber hier nachzulesen.