Wer schon einmal eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreiben musste, weiß, wie wichtig prägnante Fragestellungen sind. Nicht immer geht es dabei um Lösungsansätze, da längst nicht jede Frage eine klassische Aufgabenstellung beinhaltet.
Als ich neulich aus Interesse die im Herbst 2019 mit einer Rüge versehende Dissertation der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey überflog, kam mir schnell in den Sinn, dass ein Unterfangen namens Promotionsschrift fragwürdig sein kann, wenn praktische Lösungsansätze mit wissenschaftlichen Lösungsansätzen kombiniert werden. Es sind zwei unterschiedlich geartete Sphären, die sogar wie zwei Billardkugeln kollidieren können. Ich denke vor allem an die (Diskurs-) Felder Politik und Politikwissenschaft. (Tages-)Politik kommt im Grunde ohne Politikwissenschaft aus, wenngleich eine Trennschärfe nicht immer möglich sind. Es steht außer Frage, dass Politikgestalterinnen und -gestalter wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen sollen, wie es in der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist. Doch ist es realistisch anzunehmen, dass Giffeys politikwissenschaftliche Dissertation auch in der politischen Gestaltungsarbeit berücksichtigt wird?
Diese Fragestellung ist keinesfalls hypothetisch, versucht die Arbeit doch, europapolitische „Beteiligungsinstrumente“ der Europäischen Kommission auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die lokalpolitische Akzeptanz in Berlin-Neukölln zu prüfen. Die Prüfung dieser Instrumente ist als ein Eignungstest zu verstehen, der für drei verschiedene „Eignungsdimensionen“ jeweils drei weitere „Bewertungsindikatoren“ vorsieht. Einen Überblick dazu gibt die Tabelle, die am Ende von Giffeys Arbeit dargestellt ist und quasi einen Überblick über die Analyseergebnisse bietet:
Die dreistufige Bewertungsskala zeigt an, ob die skizzierten Instrumente sich mehr oder weniger für bestimmte lokal zivilgesellschaftliche Maßnahmen vor Ort bzw. an der Basis, wie es in der Politik oft heißt, eignen. Der wissenschaftliche Leser kann schon an diesem Tableau erkennen, dass die sechste Kategorie, nämlich multiplikatorenbasierte Beteiligungsinstrumente, am besten abschneidet.
Ohne weiter ins Detail zu gehen, frage ich mich, ob hier der Faktor Vergleichbarkeit zwischen mehreren Instrumenten gegeben ist. Lassen sich rein mediale, nämlich die printbasierten, audiobasierten und webbasierten Instrumente mit denen vergleichen, wo Personen mit oder ohne Unterstützung leibhaftig in Aktion treten? Liegt es nicht nahe, wie das Wort „Multiplikator“ bereits anzeigt, dass hier beabsichtigte Wirkungen wie in einem Resonanzraum verstärkt werden? Die Autorin stützt sich vorwiegend auf Aussagen vor Ort, was bedeutet, dass hier auch Statements politischer Akteure einfließen. Das ist für eine Feldstudie natürlich ein probates Mittel, doch wie valide ist eine wissenschaftliche Untersuchung in diesem Kontext?
Ich lasse die Fragen bewusst offen, weil ich hier keine abschließende Bewertung abgeben kann und dies auch nicht möchte. Eine von der FU Berlin erteilte Rüge – ein wahrlich bizarres Vorgehen – beweist, dass die Autorin ihren eigenen Eignungstest eigentlich nicht bestanden hat. Und so leidet auch der Eignungstest europapolitischer Maßnahmen. Diese beiden Eignungstests lassen sich eben nicht feinsäuberlich trennen.
Nach einem Jahr, wo es spätestens ab dem Frühjahr täglich um Tests und Testungen ging, bei denen das Ergebnis neben dem gewöhnlichen Ergebnis
„positiv“ und „ negativ“ auch mal in der Schwebe hing, sehen wir womöglich in Zukunft noch eindringlicher, wie sensibel auch die Interpretation von Testergebnissen vorgenommen werden muss. Natürlich geht es in der Dissertation der Bundesministerin weniger um Tests im herkömmlichen Sinne als um Bewertungen von Maßnahmen in Bezug auf bestimmte erfüllbare Indikatoren, die als Kriterien fungieren. Die vorgelegte Arbeit ist quasi der Test-Kit. Wenn er etwas taugen sollte (dies wäre zuvorderst in der Politikwissenschaft zu diskutieren) würden die abgeleiteten Empfehlungen womöglich nicht nur in Berlin-Neukölln Schule machen. Ich bin jedoch weiterhin skeptisch, ob der Test-Kit gut genug dafür ist, lasse mich aber gern eines Besseren überzeugen.
Ich wünsche der Autorin, wie es in Absageschreiben so schön formell heißt, jedenfalls alles Gute für ihren weiteren Lebensweg, und das meine ich bewusst nicht lapidar. Nächstes Jahr steht ja die Wahl zur Regierenden Bürgermeisterin in Berlin an. Das sollte für Franziska Giffey ausgemachte Sache sein! Eine Dissertation ist für dieses Amt jedenfalls keine Voraussetzung. Schließlich würde ich mir wünschen, wenn europapolitische Akteure in Zukunft wirklich als Multiplikatoren aktiv(er) werden, damit das Bauwerk Europa auch transparenter wird. Es braucht neben genügend Fördertöpfen Mittler, die überparteilich den Geist Europas wie einen Luftstoß in lokale Gefilde bringen. Nach einem reise- und begegnungsarmen Jahr 2020 ist das wichtiger denn je!