Picknickkonzerte sind 2020 sicher keine neue Erfindung, doch wurden sie zu einer fast sicheren Bank, um Live-Auftritte von Künstlern zu ermöglichen. Auf der grünen Wiese können Abstandregelungen einfach besser markiert und so Veranstaltungen einfach genehmigt werden. Die Picknick-Decken in Reih und Glied anzuordnen ist eine leichte Übung; man fühlt sich fast ein wenig eingeparkt (nicht eingepackt!). Wo genau die grüne Wiese sich befindet, steht auf einem anderen Blatt Papier. Im äußersten Süden von Leipzig liegt der agra-Messepark, der neben dem schönen, bereits auf Markkleeberger Boden angelegten agra-Park liegt. Für Auswärtige ist dies verwirrend, denn die wahrlich grünen Wiesen befinden sich nur im agra-Park. Im agra-Messepark gibt es eigentlich nur Freiflächen neben den (ehemaligen) Messegebäuden, unauffällig und keinesfalls besonders angelegt. Nun musste ich aber einsehen, dass Veranstaltungsgenehmigungen nicht auf die Schönheit von Veranstaltungsorten angewiesen sind. Und hauptsächlich ging es ja um Dota Kehr und Band, die dem Publikum einen wunderschönen Musikabend bescherten.
Der „akademische“ Teil rund um das neue Album, auf denen Texte der jüdischen Lyrikerin Mascha Kaléko vertont sind, ist für ein Freilichtkonzert fast zu intim und leise. Hier wäre sicherlich ein Kammermusiksaal genau der richtige Ort zum genauen Hinhören. Die Exilerfahrung und das erlebte Unglück sind sprachlich und musikalisch von einer enormen Tiefe. Kalékos Lyrik enthält kein Wort zu viel und ist bereits liedreif geschrieben. Die Musik ergibt sich aus dem Wort, so dass meist die gewohnten Liedlängen deutlich unterschritten werden. Die Stücke aus früheren Alben sind tanzbarer, auch mit eingeschränktem Platzangebot auf und an den Picknickdecken. Sie sprühen vor Wortwitz und Esprit. Ohne einen Takt zu lang sein, verzaubern sie dank Dotas Stimme, die faszinierend klar und sanft hinüberschallt. Im Radio wird nach wenigen Sekunden deutlich, dass nur sie es sein kann: Ihre Stimme ist wie ein Erkennungszeichen.
Kein klassischer Sommerhit ist das Lied „Sommer“. In seiner Tiefe lädt es den Hörer ein, einfach nur zu verharren und das Dasein zu zweit in seiner Schönheit als „Tagtraum“ zu genießen, auch wenn er wie das Picknickkonzert „mückenstichreich“ zu Ende geht. Mitten im Lied heißt es:
Der Tag zieht noch lange auf seinen Schwingen
dahin.
Wir rücken Stück für Stück weiter, immer wenn ich im Schatten
bin.
Ich trag die Sonne auf den Schultern. Und den
Sommer unter den Nägeln mit nach Haus.
Im letzten Licht gehen die anderen schon voraus.
Vier Füße in Turnschuhen auf der Umgehungsstraße bei wenig Verkehr.
Und ich will nie wieder glauben, Glück sei irgendwie anders und irgendwie
mehr.
Dota Kehr hat als Medizinerin Gespür für den Takt und den Text, ohne allzu viele Emotionen hochkochen zu lassen. Als „Kleingeldprinzessin“ trat sie früher auf; nun ist sie ein Aushängeschild der Kleinkunstszene. Mit ihren Texten öffnen sich strahlend so manche Augen, ohne Tränen und Herzschmerz anzurufen. Niemals hört es sich süßlich an; ihr Lied-Kosmos ist dafür zu originell. Im Herbst 2020 soll ihr Liederbuch erscheinen – wir dürfen gespannt sein, wie es gestaltet sein wird. Hoffentlich werden dann wieder Kleinkunstkonzerte möglich sein.
Alle wesentlichen Informationen über Dotas Musik und fünf ihrer Lieder sind hier verfügbar.
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