Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Juni 2020

Zwischen Filmreife und Postkarten-tauglichkeit: Über eine Erzählung von Doris Dörrie

Bisher habe ich immer einen Bogen um Doris Dörrie und ihre Bücher gemacht. Das kann auch daran liegen, dass für ihr Werk die deplazierte Kategorie „Frauenliteratur“ verwendet wird, die man nicht ernst nehmen kann: Man stelle sich einmal vor, man würde seriös über Männerliteratur sprechen – die Lacher wären einem sicher!

Dörries Erzählung mit dem kitschig anmutenden Titel Der Mann meiner Träume fischte ich neulich aus der Zwickauer Stadtbibliothek. Es war ein guter Fang, denn nun weiß ich, dass Doris Dörrie das Multimediale erzählerisch vereint. Als Professorin für creative writing an der Hochschule für Film und Fernsehen in München schafft sie es wirklich, schreibend zu kreieren, und damit meine ich nicht nur Geschichten, sondern auch Stoff für Bilder, Filme, Tanz und Theater. Selten ist mir das so deutlich geworden wie in dieser Erzählung, in der tatsächlich eine ästhetische Postkarte die Handlung vorantreibt.

Das Fotomodel Antonia achtet am Rande einer Dienstreise in den riesigen Uffizien in Florenz erst im Souvenirbereich auf ein Gemälde, das als Postkartenmotiv abgedruckt ist. Es stammt von Sandro Botticelli und zeigt einen namentlich nicht bekannten Mann:


Sandro Botticelli: Porträt eines Mannes mit der Medaille Cosimos d. Ä. (ca. 1474)

Der abgebildete Herr fasziniert sie, weil es ihr scheint, dass er eben nicht völlig aus der Zeit gefallen ist, ein sympathischer, gut aussehender Mann eben.

Es war für Antonia unvorstellbar, dass er mehr als vor 500 Jahren gelebt haben sollte. (…) Er sah doch aus wie jemand, dem sie heute auf der Straße begegnen könnte, ein etwa dreißigjähriger linker Politologiedozent, ein Filmemacher vielleicht oder Journalist, ein Mann, dem sie nach dem ersten Espresso alles von sich erzählt hätte, ein schöner Mann, der sie verstand, der Mann ihrer Träume.

Antonia vergegenwärtigt sich diesen gar nicht so fremd erscheinenden Mann und imaginiert auf ihrem Hotelbett einen Dialog mit ihm:

Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, die Liebe sei wie ein Sandsack, und jeder Mann, mit dem man ins Bett geht, macht ein Loch hinein, und jedesmal sickert ein bisschen mehr Sand aus dem Sack, bis am Ende nur eine leere, alte Hülle zurückbleibt. Meinst du, dass das stimmt?“ Ja, sagte, der Mann, aber manche haben einen größeren Sandsack als andere.“ „Danke“, sagte Antonia,
du bist der erste Mann, mit dem man wirklich reden kann.  

Zurück in München sieht sie an einem Kaufhauseingang einen „Penner“ , der in ihren Augen stark Botticellis Unbekanntem ähnelt. Da muss als Requisite nur noch eine auf der Postkarte unübersehbare rote Samtkappe und als Medaillenersatz ein mit Stanniolpapier umwickelter Schokoladentaler her, um mit einer im Kaufhaus auch erhältlichen Polaroidkamera das alte mit einem aktuellen Bildnis abzugleichen. Erst einige Tage später sieht sie jeden Johnny erneut vor einem Restaurant und zögert keinen Augenblick, ihn mit den beiden Requisiten auszustatten und zu knipsen.

Es war, als träte der Mann aus Florenz aus dem Nebel der Vergangenheit und Zukunft auf sie zu und mitten in ihr Leben hinein.

Johnny ist schlagkräftig: Er wähnt sich als Doppelgänger und verweist darauf, dass das geknipste Foto nach 500 Jahren im Müll wiederum Anlass für eine  Suchaktion sein könnte. So webt er sozusagen die Geschichte medial auf der  zeitlichen Achse weiter und schaut in seiner „Bettlerrolle“, die er annahm, um „dem Materialismus in den Hintern zu treten“, souverän hinter die Kulisse des Textes, die Fremdheitserfahrungen mehrdimensional durchleuchtet.  Das gemeinsame Wagnis, eine Reise nach Lima anzutreten, ist nur eine logische Selbstüberprüfung dieser Fremdheitserfahrung auf der räumlichen Achse. Antonia und Johnny eint der Wunsch, anders sein zu wollen, doch sie fliehen dabei vor dem eigenen entleerten Ich.  Dreimal darf man raten, ob die Reise zum ersehnten Liebesglück führt oder einfach nur eine große Desillusion ist….

Über die zweite Hälfte der Erzählung  soll weiter nichts verraten werden; einen Gedanke möchte ich jedoch noch fortspinnen. Der Mann meiner Träume wurde 1991 publiziert. Damals sprach noch keiner vom Internet und erst recht keiner von virtuellen Selbstinszenierungsplattformen wie Instagram. Heute wäre der doppelte Boden der Erzählung kaum noch einzuziehen, da wir durch die Bilderflut des Internets Bilder kaum noch abgleichen (können). Nicht wenige Menschen hinterlassen stets neue Bilder von sich in der virtuellen Welt. In der Tat kommt hier die Frage auf: Wie sehen wir unsere eigenen Bilder mit zeitlichem Abstand? Dank des guten alten Fotokartons sind wir ja oft verblüfft von Kindheits- oder Jugendfotos.  Wir können uns mit ihnen identifizieren. Bei geposteten Fotos ist dies nach einer bestimmten Zeit schon fraglich. Wie werden wir jedoch menschliche Wesen Instagram-Bilder gedanklich verarbeiten, die 500 Jahre auf Servern gelagert sind? Würden sie sich danach sehnen, eine Zeitreise anzutreten? Die Antwort liegt bekanntlich wie so viele in den Sternen oder im Reich der Fantasie, die für jede Geschichte unerlässlich ist.

So lässt sich ohne große Umschweife der Bogen spannen zu Dörries jüngstem Buch Lesen Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben, in dem es ganz am Anfang heißt: 

Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen.

Das geschieht ohne festen Boden unter den Füßen, wie ganz am Schluss deutlich wird: 

Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind oder die man vergessen hat.

Die beiden Bücher von Doris Dörrie sind wie ihre anderen Bücher auch bei Diogenes erhältlich.

Dialog mit Abstand – Zu einer Skulptur von Christel Lechner

Am letzten Junisonntag 2019 sollte man eigentlich zu Hause bleiben. Natürlich noch längst nicht wegen einer gewissen Pandemie, sondern wegen einer brütenden Hitze. Das Thermometer zeigte Werte von über 35 Grad ein, fast deutschlandweit. Ich schonte mich bis auf ein paar Minuten, blieb aber nicht zu Hause: Den Zug nahm ich bis Flöha östlich von Chemnitz, um dann einige schattige Kilometer durchs Tal der Zschopau zu radeln. Ziel sollte das Schloss Lichtenwalde sein, das recht imposant über dem Tal thront. Und genau diese Minuten hoch zum Schloss waren in der Tat schweißtreibend; gewiss würde sich diese Mühe lohnen. Eigentlich war es eine höchst kurzweilige Anstrengung.  Es waren im Schloss ein paar Werke von Studierenden aus der Fakultät für Angewandte Kunst in Schneeberg zu sehen, wo die Westsächsische Hochschule einen besonderen Ableger hat, der leider kaum am Stammsitz der Hochschule in Zwickau präsent ist.  Für diese Ausstellung war ich eigentlich unter anderem zum Schloss gefahren; von den Installationen von Christel Lechner hatte ich erst vor Ort gefahren.

Der große Schlosspark war fast völlig verwaist. Der Biergarten mit sicher mehr als 100 Plätzen hatte frühzeitig geschlossen, mangels Masse. Nur zwei Personen tranken noch genüsslich ihr kühles Bier; und ich gesellte mich zu ihnen. Das anschließende Gespräch über (Sport)Unterricht heute und früher in der DDR gab mir den notwendigen Auftrieb, durch den Schlosspark zu gehen, wo mir allerlei Skulpturen von Christel Lechner auffielen. Sie wurden in einer Freiluft-Ausstellung mit dem Titel „Alltagsmenschen“ zusammengestellt. 

Zwei Alltagsmenschen bleiben mir aufgrund der derzeitigen Abstandregelung besonders im Gedächtnis:

Christel Lechner: Mann im Dialog

Eigentlich sagt diese Skulptur aus zwei Menschen – ob man hier schon von einer Installation sprechen kann? –  so viel über die Gegenwart, aber eben nicht nur. Sie stammt ja aus einer Zeit, wo noch kein Politiker und kaum ein Wissenschaftler über Abstandregeln nachgedacht hätten. Insofern wäre es nicht gerechtfertigt, sie als Ausdruck unserer Zeit zu interpretieren. Und doch bin ich als Betrachter fasziniert davon, wie ein aktualisierter Kontext in der Rückschau überhand nehmen kann. Ich „sehe“ diese Skulptur mit den Augen von heute, wenn man so sagen kann, und nicht mit den Augen von 2019. Damals habe ich mir keine großen Gedanken über die Bildszene gedacht – ich fand es einfach nur originell, die hügelige Landschaft mit zu berücksichtigen und gewisse Parkgrenzen zu überwinden. Wie viele Gespräche finden räumlich distanziert statt, ganz einfach, weil sie sich so ergeben? Die klassische Alltagssituation ist jene, wenn „über den Gartenzaun hinweg“ gesprochen wird. Wer kennt dies nicht? Mit etwas lauterer Stimme kommt so ein Gespräch zustande, das auch vertraut sein kann. Nur kommt man sich eben physisch und emphatisch oft nicht näher. Jedenfalls sind viele nachbarschaftliche Beziehungen alles andere als freundschaftlich geprägt.

Bei Christel Lechners Skulptur ist jedoch das Nachbarschaftsverhältnis nicht zu erkennen. Es ist eher die Be-geben-heit, die sich im Alltag er-gibt. Die Distanz ist unübersehbar, und möglicherweise soll kein Gespräch dargestellt werden, sondern nur ein flüchtiger Blickkontakt. Wir kennen ja den Ausdruck „Wie es in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus“. Also liegt es nahe, auch an ein (kurzes) Gespräch zu denken, oder an einen Zuruf als akustisches Signal.  Die Dreidimensionalität ist hier maßgeblich durch die natürliche Landschaftsformation geschaffen: Von oben herab – von unten hinauf – beides gilt symmetrisch.

In einem Interview mit der Rheinischen Post, das ich lese, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, fallen mir drei von Lechner genannte Aspekte auf, die sich mit meinen Gedanken kreuzen.  Die „Alltagsmenschen“ erzählen „Geschichten“, zudem sind sie in ein passendes „Umfeld“ verankert, das eine intensive Interaktion zwischen Skulptur und Betrachter möglich macht. Nicht zuletzt soll die von den Kunstwerken ausstrahlende „Gelassenheit“ auch eine bestimmte Wirkung erzielen. Gerade im Krisenjahr 2020 ist diese ganz gewiss von Vorteil. Die Alltagsmenschen sind zeitlos, und der Betrachter findet einen Teil seiner selbst in ihnen wieder, und wenn es nur die Alltagskultur um ihn herum ist.

Informationen zum Werk von Christel Lechner.

Hier gibt es den erwähnten Artikel nachzulesen.

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