Am 10. März stiefelte ich bei Dauerregen durch Leipzig, um auf Bücherjagd zu gehen. Ich hatte einige Titel im Blick, wofür ich zum ersten Mal die geräumige Stadtbibliothek, die ehrwürdige Universitätsbibliothek und zuletzt noch die Institutsbibliothek der Kunstpädagogik in Rufweite der Nikolaikirche ansteuerte, die in den Semesterferien anders als im Internet angegeben verschlossen war. Noch war nirgendwo die Rede von einem „Lock-Down“ in Deutschland, so dass ich stattdessen in ein benachbartes Antiquariat eintrat. Die Suche nach dem Zufallsfund dauerte keine zehn Minuten: Ein Buch aus der immer noch aufgelegten Insel-Bücherei (Nr. 543) aus dem Jahr 1982, gedruckt in Stollberg, gebunden in Leipzig, mit Aphorismen der mir nur vom Namen her bekannten Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) sprang dabei heraus. Warum nicht mal schön kurze Häppchen-Texte, die man einfach minutenweise anlesen kann? Ein klassisches Durchlesen ist hier eigentlich nicht nötig.
Ziemlich genau zwei Monate später öffnete ich endlich das Buch. Die kurzen Miniatur-Texte schienen mir zu sagen, dass ich offensichtlich einen besonderen Fund gemacht hätte. Eines der letzten und längsten Aphorismen, mit der Nummer 91 im abschließenden Teil „Fünftes Hundert“– zum ersten Mal 1890 publiziert – spricht in meinen Augen Künstler und auch Lebenskünstler an:
Es steht etwas über unseren schaffensfreudigen Gedanken, das feiner und schärfer ist als sie. Es sieht ihrem Entstehen zu, es überwacht, ordnet und zügelt sie, es mildert ihnen oft die Farben, wenn sie Bilder weben, und hält sie am knappsten, wenn sie Schlüsse ziehen. Seine Ausbildung hängt von der unserer edelsten Fähigkeiten ab. Es ist nicht selbst schöpferisch, aber wo es fehlt, kann nichts Dauerndes entstehen; es ist eine moralische Kraft, ohne die unsere geistige nur Schemen hervorbringt; es ist das Talent zum Talent, sein Halt, sein Auge, sein Richter, es ist – das künstlerisches Gewissen.
Als ich im Spätsommer 2017 im Naabtal unweit von Regensburg einem Gespräch lauschte, wo das Wort „Lebenskünstler“ fiel, dachte ich länger über Kunst im Leben bzw. Leben als Kunst nach. Weit kam ich dabei nicht. Nun, dank Ebner-Eschenbach ist mir bewusst geworden, dass das Gewissen einen (Lebens-)Künstler leiten sollte. Es kann kein Zufall sein, dass Wissen und Gewissen, beziehungsweise „conscience“ (Gewissen) und „science“ (Wissenschaft) im Englischen und Französischen sprachlich miteinander verbunden sind, obwohl die Wörter doch so verschiedene Bedeutungen besitzen. Überwachen, Ordnen, Zügeln, Ausbildung, das klingt doch alles sehr nach Moral, nach Wissen, nach Gewissen, nach Mit-Wissen, und weniger nach Kunst. Und doch kann ein Künstler nicht ohne dies auskommen. Es gibt stets eine tiefsinnige Begleitung durch eine Parallel-Ausbildung, für die es eben kein Fachpersonal gibt. Fähigkeiten stehen nicht für sich – sie müssen eingerahmt sein, um buchstäblich Halt innerhalb einer geistig-moralischen Haltung zu finden, für die es eigentlich keine eindeutigen Worte gibt.
Zuletzt las ich die Ebner-Eschenbachs Erzählung Krambambuli (1884), die mehrfach verfilmt wurde (zuletzt 1998 mit Tobias Moretti in der Hauptrolle und Xaver Schwarzenberger als Regisseur). Krambambuli ist eigentlich ein Branntwein mit Wacholderauszügen, der auch als „studentische Feuerzangenbowle“ im Internet gehandelt wird. Bei Ebner-Eschenbach heißt so ein Hund, der gegen 12 Flaschen Danziger Kirschbranntwein den Besitzer wechselt und zwischen dem ersten Besitzer (einem dubiosen Wildschützen) und dem zweiten Besitzer (Revierjäger Hopp) über Leben und Tod entscheidet: Zum einen klärt Kranbambuli Hopp darüber auf, dass der Wildschütze einen Oberförster erschossen hat, zum anderen sorgt er dafür, dass der Mörder beim anschließenden Racheakt des Jägers keinen Schuss abgeben kann.
Als dritter Besitzer hat zwischenzeitlich ein Graf das Nachsehen, denn der ihm als Geschenk vom Jäger Hopp zugedachte Kranbambuli verweigert ihm die Treue. Die wechselnden Besitzverhältnisse und die Rivalitäten unter den Menschen geben dem Tier das Letzte. Mutig, wie der Jäger der Gräfin die Geschenkidee vorschlägt:
« Hochgräfliche Gnaden! Wenn der Hund im Schlosse bleibt, nicht jede Leine zerbeißt, nicht jede Kette zerreißt, oder wenn er sie nicht zerreißen kann, sich bei den Versuchen, es zu tun, erwürgt, dann behalten ihn hochgräfliche Gnaden umsonst – dann ist er mir nichts mehr wert.»
Die Probe wurde gemacht, aber zum Erwürgen kam es nicht; denn der Graf verlor früher die Freude an dem eigensinnigen Tiere. Vergeblich hatte man es durch Liebe zu gewinnen, mit Strenge zu bändigen gesucht. Er biß jeden, der sich ihm näherte, versagte das Futter und – viel hat der Hund eines Jägers ohnehin nicht zuzusetzen – kam ganz herunter. Nach einigen Wochen erhielt Hopp die Botschaft, er könne sich seinen Köter abholen.
Böser Ernst und bissiger Humor halten sich die Waage; die Sprache ist pointiert, fast salopp. Die Schriftstellerin, die schon in ihrem 13. Lebensjahr selber Titel Gräfin wurde, hat in diesem kurzen Text einer vollkommen verschwundenen Gesellschaft feine Nadelstiche versetzt. Jäger und Schützen sind bei ihr keine Helden mit ihren Trophäen, sondern derb und unkultiviert.
Auf einer frühen Fotografie des kaiserlichen Hof-Fotografen Ludwig Angerer, angeblich aufgenommen um 1865, sind die Blicke der Schriftstellerin zusammen mit ihrem Gatten auf ein geöffnetes Buch fixiert – sicher damals für Frauen ungewöhnlich im Kontext der frühen Porträtfotografie. Hier wird eindeutig auf die berufene Literatin verwiesen.
Mehr als 100 Jahre später ehrte sie eine Briefmarke der Deutschen Bundespost zu ihrem 150. Geburtstag. Noch bekannter wurde Ebner-Eschenbach über den Bargeldverkehr: Zierte die 20-D-Mark-Scheine in Deutschland Annette von Droste -Hülshoff, waren in Österreich die 5000-Schilling-Noten für Marie von Ebner-Eschenbach reserviert, deren Mädchenname Marie Dubský von Třebomyslice wie aus einer vollkommen anderen Welt klingt, obwohl sie doch gerade im damaligen k. und k. -Kontext ein und dieselbe war. Neben Deutsch und Tschechisch kam sie bereits als Kind mit Englisch und Französisch regelmäßig in Kontakt. Kann man da überhaupt von einer Muttersprache sprechen? In Österreich ist sie allein aufgrund der geografischen Nähe zu ihrem Geburtsort, dem Schloss Zdislawitz (heute heißt die mährische Ortschaft Troubky-Zdislavice) und ihrem Sterbeort Wien bekannter. Mit Kaiser Franz Josef II. teilt sie sowohl das Geburts- als auch das Sterbejahr und damit mehrere (Literatur-)Epochen. Im Jahre 1900 bekam sie von der Universität Wien bereits einen Ehrendoktortitel, ein Jahr zuvor bereits das Österreichische Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft.
Zum Glück scheint der Verfall ihres heimatlichen Schlossgutes aufgehalten. Noch 2013 berichtete in melancholischem Ton die F.A.Z. davon. Bald, so scheint es laut Prager Zeitung, wird Schloss Zdislawitz wieder für Besucher zugänglich zu sein, auch wenn man nicht mehr die wertvolle Bibliothek Ebner-Eschenbachs (1945 geschreddert) zurückholen kann. Was wohl vom Nachlass übrig gelassen wurde? Ein Grund mehr, länger im malerischen Mähren zu verweilen. Vielleicht mit frischer neuer Lektüre im Gepäck: Die Erzählung Kranbambuli gibt es online und ganz frisch als Jugendbuch. Die Aphorismen gibt es im neuen Gewand in der Insel-Bücherei unter der Nummer 1414!