Ein regnerischer Freitagabend in Zwickau – das kommt eher selten vor. Mit dem Fahrrad waren die wenigen Transfer-Minuten an jenem schicksalsträchtigen 9. November höchst ungemütlich. Und dann stand ich auch noch vor verschlossenen Türen des zumindest architektonisch ehrwürdigen Zwickauer Käthe-Kollwitz-Gymnasiums, obwohl kein Irrtum meinerseits vorlag. Es ist genau die Situation, die höchst unerfreulich ist: Keiner rechnet mit einem, obwohl doch der Programmpunkt in der Reihe „Novembertage“ – organisiert vom Bündnis für Demokratie und Toleranz in der Zwickauer Region – vielfältig angekündigt worden war. In der Schulgemeinde kennt man sich: Lehrer, Schüler, Organisatoren. Was sollen dann noch Menschen, die mit dem Gymnasium so rein gar nichts zu tun haben, sondern allein wegen einer gewissen Professor Aleida Assmann aus Konstanz den Ort aufsuchen, die im Jahr 2018 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt?
So gilt es, sich anderweitig Zugang zur Veranstaltung in der Schulaula im zweiten Stock zu verschaffen, denn sonst stünde ich wie ein begossener Pudel da und hätte nur noch Zornesröte im Gesicht. Das wäre bedenklich, denn ich habe schließlich friedliche Gedanken im Sinne – passend zum 30. Jahrestag der Maueröffnung. Dank einer türenöffnenden Reinigungskraft schlich ich quasi rücklings über den Hintereingang hinein und pflanzte mich in unangenehm triefenden Klamotten auf einen freien Sitz. Noch wurden Begrüßungsworte gesprochen – also nichts verpasst! Zum Glück – so erfuhr ich später – saß neben mir eine geschichtsinteressierte Person, die ebenfalls nicht zu den Vertrauten des Gymnasiums gehörte. Dort, wo man leicht aus der Aula hätte flüchten können, war sie höchst konzentriert bei dem, was Assmann vortrug – bewundernswerterweise protokollierte sie geradezu ihre Rede. Ich wirkte überfordert mit den Inhalten und war schließlich wie die allermeisten Schüler und wohl auch wie manch andere Anwesende genervt von der langen Veranstaltung. Lag es an der Uhrzeit? Gute zwei Stunden inklusive einer Podiumsdiskussion, dazu teils enervierende Fragen; fast hatte ich schließlich Sympathie mit den tuschelnden Schülern hinter mir, die ich zunächst mit einem ernsten Blick vorübergehend ruhig(er) gestellt hatte. Das Rausgehen von unangenehm vielen Zuhörern vor Ende der Veranstaltung hatte bereits Unruhe im Saal geschaffen. So blieb ich ganz ruhig und geduldig, bis das Schlusswort gesprochen war.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Gedanken zum erinnerungsträchtigen , an jenem Vorabend des erinnerungstriefenden 9. November von Assmann höchst stimmig waren und darunter keine oder nur wenig „Allgemeinplätze“ waren, wie es in der Freien Presse vom 12.11. ausgedrückt wurde. Bitter, wenn ich bedenke, dass neben mir Assmanns neues Buch Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte liegt. Als Nachbetrachtung zu der Veranstaltung lässt sich aus dem Buch schließen, wie wichtig und wie differenziert Erinnerungskulturen sind. Nur ein kurzes Beispiel dazu: Während in London der Bahnhof Waterloo an die militärische Niederlage von Kaiser Napoleon I. erinnert, ist es in Paris genau umgekehrt: Der Bahnhof Austerlitz (heute heißt der tschechische Ort Slavkov u Brna) zeigt neben dem U-Bahnhof Iéna (die deutsche Stadt Jena verbirgt sich dahinter) für den gleichen Kaiser glorreiche Kriegsschauplätze in den Jahren 1805/06 an.
Was mich zum Nachdenken brachte, waren die nachfolgenden, von Assmann skizzierten Ebenen des Erinnerns, die – wenn ich richtig erinnere – auf die staatliche, die kommunale und die schulische Ebene abzielten. Klar, wir wissen, dass der 03. Oktober als Tag der Deutschen Einheit aus gutem Grund den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland als Gedenktag staatlich „verordnet“ wurde. Unterschätzt wird sicherlich, dass Städte und Gemeinden eine eigene Erinnerungskultur prägen können. Hierzu kann die Forschung einiges beitragen; und Heimatmuseen belegen einmal mehr, wie wichtig lokale Erinnerungstraditionen wichtig. Außerhalb von Museen gibt es immer mehr Gedenktafeln- und Gedächtniswege. Das Erinnern ist lebendig. Und Schulen konkretisieren das in Form von bestimmten Projekten und Exkursionen. Wenn an Schulen im Geschichtsunterricht nur Ereignisse ohne die explizite Thematisierung von Erinnerung und Gedächtnis thematisiert werden, dann ist das Vergessen vorprogrammiert. Wenn ich an meinen Geschichtsunterricht zurückdenke, wird mir das schnell bewusst. Das, was damals besprochen wurde, hatte oft keinen erinnerungskulturellen Aspekt, und es ist gut, dass die Forschung hier aktiv ist. Und das ist auch der Verdienst der Zwickauer Veranstaltung im Käthe-Kollwitz-Gymnasiums: Politik und Gesellschaft brauchen eine Erinnerungskultur, die laut Assmann eine Lehre aus der Geschichte darstellt, so wie auch die Friedenssicherung und die Menschenrechte in einem demokratischen Gewand uns vieles gelehrt haben.
Eine lohnenswerte Anschaffung ist das erwähnte Buch von Aleida Assmann, die hier einmal mehr zeigt, dass Erinnerungskultur für einen mündigen Europäer ein unverzichtbarer Teil seines historischen Bewusstseins sein sollte, ohne zu einer Mythenbildung abseits von Fakten zu führen.
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