Der biederste Ort, den ich kenne, steht in Sichtweite meines Bürofensters mitten in Zwickau. Es ist das Robert-Schumann-Haus. Klar, das im Originalzustand erhaltene Gebäude stammt aus der Zeit des Biedermeier, ebenso wie – zumindest teilweise – Robert Schumanns Musik. Doch eine Musik vermag es viel mehr als Architektur, sich von ihrem Zeitgeist zu lösen. Sie lässt die Zukunft erahnen, etwas was in keine (Musik-)Geschichtsschreibung so richtig passt.
Die Polonaisen für Klavier zu vier Händen, die ich am 03.06.2018 im Zwickauer Schumann-Haus hörte, sind also keineswegs bieder. Nein, es ist das Ambiente, das kaum biederer sein kann, und das ist beileibe nicht nur der Architektur des 19. Jahrhunderts geschuldet.
Es ist vor allem das dünn gestreute Publikum: Der extrem hohe Altersdurchschnitt – so wirkte es für mich jedenfalls, ist das eine, das andere die Merk-Würdigkeit, dass ein älterer Herr just beim Abgang der Künstler als Autogramm-Jäger ohne Taktgefühl auf die Bühne sprang und erfolglos etwas begehrte, was am besten auf dezente Art erhältlich ist. Kurz zuvor wurden, ohne Vorstellung von richtigem Timing, zwei junge Kinder vorgeschickt, um den Künstlern ein Buch- und Blumengeschenk überreichen. Die armen Kinder! Sie konnten hier einfach keine bella figura machen.
Zuvor war der durchaus gelungene Klaviervortrag im Pausengespräch völlig ins Abseits geraten. Ich trat aus dem düsteren Foyer ins sommerlich strahlende Freie und hörte zugleich hinter meinem Rücken einen Gast sagen: „Das ist Zwickau!“ Da musste ich mich umdrehen – quasi ins Gespräch hineingrätschen – und fragen: „Was ist mit der Stadt?“ Lapidare Antwort: „Ich weiß es auch nicht!“. Was dann folgte, war eine Abrechnung mit den Mitarbeitern im Robert-Schumann-Haus, die sich gewaschen hat. Man fühle sich hier wie „auf dem Dorf“; die von mir angesprochene, dargebrachte musikalische Fantasie würde nicht auf die Menschen überspringen, der Hausherr ohne passenden Anzug würde „wie auf dem Campingplatz“ herumspringen. Ja, das Verb „springen“ kam zweimal in unterschiedlichen Ausprägungen vor.
Es stellte sich heraus, dass hier kein „Wessi“ sprach, sondern ein Bürger aus der „sterbenden“ Stadt Aue, ca. 30 km südlich von Zwickau. Seine Gattin war im Ton etwas konzilianter, zumindest als ich entgegnete, dass man doch mit Ironie, Humor und Leichtigkeit gut in Zwickau zurechtkommen könnte. Da konnte sie nicht widersprechen.
Die Suada entzündete sich wohl daran, dass es keine Häppchen und keine Getränke gab. Eine Konvention, die nun mal das Schumann-Haus auch mal über den Haufen wirft. Das spricht nicht unbedingt für Biederkeit. Doppelt bieder erschien mir im Umkehrschluss die Tatsache, dass am Rande des jährlich stattfindenden „Robert-Schumann-Festes“ solche Töne angeschlagen werden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das Geschehen rund um die Musik anderswo noch mieser bewerten kann. Und dabei hörte ich sicher keine Ausnahme, es war einfach eine Kostprobe, wie in unserem Lande vom Leder gezogen wird. Man muss ein bieder wirkendes Haus ja nicht in höchsten Tönen loben, doch Kulturschaffende haben so eine Tonlage einfach nicht verdient.
Ich muss an Thomas Bernhards Holzfällen denken, wo der Erzähler gemütlich im Foyer unweit einer Festgesellschaft in seinem Ohrensessel vom Leder zieht. Ja, das ist genau die Art des Verschanzens, um Salven unentdeckt abzufeuern, ohne damit eine Wirkung auf der anderen Seite zu bewirken. Einfach mal stoßfeuern, könnte man sagen. Es ist erschreckend, dass kleine Petitessen gleich so aufgeblasen werden. Wir leben in dieser Sicht in einem Land der Extreme: Entweder wird alles in den Himmel hoch gelobt, oder es wird abgrundtief gestänkert! Dazwischen gibt es noch allerlei Varianten. Vor allem auch welche, die alles anderes als bieder klingen.
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