Was für Schüler eine Tabu-Zone ist, ist sicher ein Ort für schicksalsträchtige Gespräche: das Lehrerzimmer. Dass ich schon 2004 als Fremdsprachenassistent in gleich drei französischen Lehrerzimmern Zugang fand, hätte ich sicher noch fünf Jahre zuvor kaum für möglich gehalten.
Eindrucksvoll dokumentiert diese Atmosphäre der Film „Eingeschlossene Gesellschaft“ (2022) von Sönke Wortmann , unter anderem mit Anke Engelke. Er ist sicher nicht das einzige Beispiel für einen Stoff, der fast ausschließlich an diesem Ort gedreht wurde. Auf der Grundlage von Jan Weilers Hörspiel und Drehbuch baut er vorwiegend auf einem nicht ungewöhnlichen, jedoch für den Plot originell verdrehten Diskursthema auf: Kann man einen schwachen Schüler zur Abiturprüfung zulassen, auch wenn ihm nur ein nötiger Punkt in einer Hausarbeit fehlt, die der stellvertretende Schulleiter und Latein und Religionslehrer Klaus Engelhardt (gespielt von Justus von Dohnányi) bewertet hat? Das spannungsgeladene Element ist der Vater des Schülers Prohaska: Er hält die Lehrer im Lehrerzimmer mit dem Druckmittel einer Waffe fest, damit sie sich noch einmal besprechen und diese Frage eingehender beleuchten. Sobald sie dies getan haben, würde er sie wieder entlassen. Der Twist besteht darin, dass ein Erziehungsberechtigter den Diskurs erzwingt. Was am Ende herauskommt, soll natürlich nicht verraten werden.
Man kann sich dort jedoch auch in einer Schule des Zynismus üben, gerade wenn über Schüler herzogen wird und man würdelos Menschen mit Entwicklungspotenzial, so gering es auch sein mag, kleinredet. Frau Lohmann, gespielt von Anke Engelke, ist Lehrerin für Französisch und Musik und steht für diesen Stil Pate:
Wenn ich etwas nicht ertrage, sind das Schüler um halb drei. (…) Seit Jahr und Tag steht da draußen ein Schild, das Schülerinnen und Schüler nicht in diesem Lehrerzimmer erwünscht sind. Und trotzdem sehen wir immer wieder welche. (…) Das Lehrerzimmer ist dem Lehrkörper als Rückzugs- und Vorbereitungsort vorbehalten. Ich setz‘ mich ja auch nicht bei denen auf das schmutzige Sofa in ihrem widerlichen Oberstufenraum.
Das Wort ‚zynisch’ wird sogar von Fabian Prohaskas Vater artikuliert, nachdem Frau Lohmann etwas später Folgendes sagt:
Mit Gewalt können Sie diese Verschwendung von Lebensenergie, die ihr Sohn hier darstellt, auch nicht in eine gute Investition verwandeln. (…) Da projizieren Eltern wer weiß was in ihr chancenloses genetisches Gemüse, und wir müssen das am Ende ausbaden.
Im Film ist mir eine kleine, aber feine Besonderheit aufgefallen: Der Zeitraum der Kernhandlung, nämlich die Unterredungen im Lehrerzimmer, sind identisch mit der Filmlänge. Das lässt sich an der eindeutig sichtbaren Uhr im Lehrerzimmer ablesen. Die Handlung fängt freitags gegen 14.30 Uhr und endet wie der Film nach etwa 90 Minuten, also gegen 16 Uhr.

Der Zuschauer wird zusätzlich mit Szenen aus der Vergangenheit und der Zukunft konfrontiert, was das unmittelbare Geschehen an der Schule komplettiert.Die oft sichtbare Uhr gibt dem Film einen zusätzlichen Bezugspunkt zu den Dialogen vor Ort, nämlich das Zeitgefühl. Quasi ungeschnitten sind die Gespräche, wodurch eine zeitliche Dringlichkeit der Handlung verstärkt wird. Abgesehen von Frau Lohmann ist Reizfigur Herr Leonhardt, der der Kamera zunächst mit dem Rücken zugeneigt ist. Es ist bezeichnend, dass sie in der Anfangsszene so weit auseinander entfernt sitzen – die zum Filmdreh noch grassierende Pandemie kann hier nicht dafür verantwortlich sein.
Und noch ein Detail: Am Anfang und am Ende des Films werden Porträts des ganzen Kollegiums mit der Angabe ihrer Unterrichtsfächer eingeblendet, während die ersten und letzten Sekunden mit dem Frühlingslied von Franz Schubert ironisch untermalt werden:

Es liegt die Interpretaton nahe, dass die dargestellten fünf Lehrer als Protagonisten in gewisser Weise die Lehrerschaft in ihrer Bandbreite darstellen, die sich nicht grün untereinander ist. Wie die Rückblenden bzw. gewisse Gesprächsinhalte zeigen, haben sie sich alles andere als tugendhaft in ihrem Berufsleben verhalten. Es gehört zu den Stärken des Films, dass auch ihre Schwächen bzw. Laster offenkundig werden. Als Zuschauer kommt man kaum umhin, an die eigenen Pauker zurückzudenken. Wirkten die teils überzeichneten Figuren allzu gewöhnlich, würde man sich schnell langweilen. Auch deswegen wird in Eingeschlossene Gesellschaft eine Versuchsanordnung modelliert, aus der analog zu einem groben Pinselstrich Charakterstudien (mit so manchen, kaum zu vermeidenden Klischees) entstehen, die man weniger schnell vergisst als so manchen blassen Lehrer aus der eigenen Schulzeit.
Die längeren Zitate kommen im Film an der Position 3’35 und an der Position 11’50 vor. Weitere Bilder sowie der Trailer zum Film finden sich hier. Ein Filmgespräch, im Grunde ein regelrechter Verriss, findet sich bei artechock, dem Münchner Filmmagazin. Dort wird auch von „toxischer Pädagogik” gesprochen, ein sicher zu markiger Begriff für diesen Film, der zuunrecht eine Pauschalverurteilung vornimmt und die Zwischentöne außer acht lässt.